Interview mit Giorgio Agamben„Wir leben in einem permanenten Ausnahmezustand”

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Giorgio Agamben, die rare Verbindung von Philologe und Seher, in seinem Berliner Hotel.

  • Der Italiener Giorgio Agamben zählt zu den wichtigsten Philosophen der Gegenwart.
  • Wie denkt er über den Klimawandel? Und warum ist die Rede von der Krise derzeit so allgegenwärtig?
  • Ein Gespräch.

Giorgio Agamben lehrt unter anderem an der Universität Venedig und am Collège international de philosophie in Paris. Agamben ist einer der bekanntesten und meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart. Sein monumentaler Versuch eines radikalen Verständnisses unserer Gegenwart – „Homo Sacer“ – umfasst vier Bände und mehr als 1 300 Seiten. Agamben schreibt darin über die souveräne Macht und das nackte Leben, über Armut und Auschwitz, über Ausnahmezustand und Bürgerkrieg. Zu mächtig schien mir das für die eine Stunde in einem Hotelzimmer. Also befragte ich ihn zum Weltende.

Herr Agamben, was bedeutet Ihr Name?

Philologen erklärten mir, er stamme aus dem Armenischen: Agambenian, Kind des Agamben. Ich weiß aber nicht, was Agamben bedeutet. Als ich das meiner Familie erzählte, erklärte meine Mutter mich für verrückt. Aber: Armenier gibt es in Italien seit dem 18. Jahrhundert. In der Nähe des Lido von Venedig liegt die Insel „San Lazzaro degli Armeni“. Dort erbauten damals vor den Türken geflohene armenische Mönche ein Kloster. Es wurde zu einem der Zentren armenischer Kultur.

Leben wir in apokalyptischen Zeiten?

Die Vorstellung von einem Ende der Geschichte gehört zu den Grundlagen der christlichen Tradition. Die Theologen allerdings haben schon lange den Schalter „jüngstes Gericht“ geschlossen. Die Wissenschaftler haben ihn wieder geöffnet. Heute sind sie es, die uns mit Endzeiterwartungen versorgen.

Ausgerechnet mit diesen.

Christliche Vorstellungen von Erlösung, vom Paradies spielen heute kaum eine Rolle. Stattdessen wird überall von der Krise gesprochen. In der Medizin wurde Krise der Moment genannt, da der Arzt nicht mehr helfen konnte. Wir scheinen heute aus diesem Zustand nicht mehr herauszukommen. Wir leben in einem permanenten, vom Staat ausgerufenen Ausnahmezustand. Er befördert die Gesetzlosigkeit der Einzelnen und des Staates. An die Stelle der klassischen Figur des Antichrist sind Millionen kleiner Antichristusse getreten. Auch darin zeigt sich die Richtigkeit der Beobachtung von der „Banalität des Bösen“. Und es ist nirgends ein Messias zu sehen. Eine radikal säkularisierte apokalyptische Situation.

Die christliche Idee vom Jüngsten Gericht bestand darin, die einen in den Himmel und die anderen in die Hölle zu schicken.

Eine monströse Idee. Besonders schlimm ist die Auffassung des Heiligen Thomas. Für ihn besteht eine der großen Freuden des Paradieses darin, dass man bei der Bestrafung der Sünder zuschauen kann. Der Splatterfilm als Hauptbestandteil des himmlischen Unterhaltungsprogramms.

Das ist keine aus dem Heidentum übernommene Vorstellung?

Nein, nein. Das ist eine durch und durch christliche Innovation. Man muss sich vorstellen: Ist das Paradies einmal erreicht, gibt es für die Seligen nichts mehr zu tun. Das Paradies ist eine Art Nichts, ein Nirwana. In der Hölle dagegen arbeiten die Strafbehörden weiter.

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Die Beamten des Himmels, die Engel, singen.

Ja, aber das ist ja keine Beschäftigung.

Singen Sie?

Nein.

Haben Sie Angst davor?

Ich glaube, ich kann es nicht. Es gab auch große Lehrer des Christentums, die nicht viel hielten von der Hölle und ihren Strafen. Origenes, einer der geachtetsten unter ihnen, der auch Walter Benjamin beeinflusste, vertrat die Auffassung, dass am Ende der Zeiten alle, auch Satan selber, gerettet werden würden. Eine ewige Hölle gab es bei ihm nicht. Origenes hielt sie für eine dem Evangelium widersprechende menschliche Fantasie.

Die Idee der Apokalypse sei heute, so sagten Sie, eine Sache der Wissenschaft. Aktuell denken wir an die Klimakatastrophe. Die Älteren erinnern sich an die Furcht vor einem Atomkrieg. Die Menschheit scheint die Vorstellung von Katastrophen zu lieben.

Ein kleines Beispiel: Es gibt den Brief des Baumeisters der florentinischen Frührenaissance, Filippo Brunelleschi, er lebte von 1377 bis 1446. Der Zeitgenosse von Donatello, Ghiberti und Masaccio schreibt darin: „Wir leben in einer Zeit, in der alles zusammenbricht. Nirgends ist ein Talent in Sicht.“ Die Vorstellung, in einer Endzeit zu leben, scheint eine Konstante zu sein.

Ist das heute nicht doch etwas anders?

Es gibt eine Beschleunigung. Aber ich halte es da mit Walter Benjamin. Für den stand die Katastrophe nicht am Ende. Er meinte: „Dass es ,so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“

Sie schreiben, Demokratie und Terrorismus seien zwei Seiten derselben Medaille.

Ich schreibe, dass zu dem, was wir „unser demokratisches System“ nennen, der Terrorismus gehört.

Gilt das international oder auch national?

Beides. In dem Augenblick, in dem Sicherheit zur Staatsdoktrin wird, wird eine Verbindung eingegangen mit allem, das diese Sicherheit bedroht.

Aber bildet nicht alles, das existiert, ein System? Auch die Kontrahenten?

Ich glaube schon, dass es so etwas gibt wie ein System. Sei es ein bewusst organisiertes oder ein objektives, das ohne jede Art von Verschwörung existiert.

Sie haben viel geschrieben über das Sprechen, die Stimme. Sie sind aber doch Schriftsteller.

Mich hat immer die Möglichkeit fasziniert, im Geschriebenen das Sprechen zu bewahren. Ich möchte in der Schrift den Analphabetismus bewahren. Der peruanische Dichter César Vallejo schrieb in einer seiner Hymnen auf die freiwilligen Kämpfer für die spanische Republik: „Por el analfabeta a quien escribo“. Für die Analphabeten zu schreiben, das gehört für mich zu den Aufgaben des Autors.

Sie konzentrieren sich sehr auf die europäische Tradition.

Was meinen Sie damit? Was heißt Europa? Wer weiß, was Europa ist? Ich kenne nur jene Dame, die von Zeus in Gestalt eines Stiers von Phönizien nach Kreta entführt wurde.

Sie haben sonst keine Vorstellung von Europa?

Ich weiß, was alles als Europa durchgeht. Zum Beispiel dieses politische Europa, das ja gerade kein politisches Europa ist. Das sogenannte „christliche Europa“ zum Beispiel ist ein Begriff, den Theologen schufen, nachdem die Länder, in denen das Christentum entstanden war, islamisch geworden waren.

Giorgio Agamben

… wurde am 22. April 1942 im noch nicht von deutschen Truppen besetzten Rom geboren. 1965 wurde er mit einer juristischen Dissertation über Simone Weil promoviert. Er war schon damals u.a. mit Elsa Morante und Pier Paolo Pasolini befreundet. In dessen Film „Das Evangelium nach Matthäus“ spielte Agamben den Apostel Philippus.

… lebte in den 70er-Jahren u.a. in Paris und London. 1986-1993 leitete er das Collège international de philosophie in Paris. 2003 trat er von seiner Professur an der New York University zurück – aus Protest gegen die US-Regierung, die von in den USA arbeitenden Ausländern ihre Fingerabdrücke verlangte. Er veröffentlichte auf Deutsch zuletzt im Verlag Schirmer/Mosel: „Pulcinella oder Belustigung für Kinder“.

Und heute?

Machen wir genau dasselbe. Wir greifen zu einem nicht-politischen Konzept von Europa. Wir reden von der europäischen Tradition des Rechtsstaats, der Demokratie, von der Wertegemeinschaft usw. Genau das sollte man nicht machen. Das einzig interessante Konzept von Europa wäre ein politisches. Das aber gibt es nicht. Überhaupt nicht. Entweder man redet, ausgehend von einem säkularisierten christlichen Europa, von den angeblich Europa prägenden Werten oder aber man behauptet, das Europa, in dem wir leben, sei ein politisches Europa. Das existiert aber noch nicht einmal embryonal. Juristisch betrachtet ist Europa ein Pakt von Nationalstaaten. Eine europäische Verfassung gibt es nicht. Wo sie einer Abstimmung seitens der Bevölkerungen unterzogen wurde, wurde sie abgelehnt. Darum wurde auch in Deutschland nicht über sie abgestimmt.

Was müsste getan werden, um zu einem wirklichen politischen Projekt Europa zu kommen?

Der erste Schritt wäre die Auflösung des derzeitigen Europa. Man müsste Europa zerstören, um Europa zu schaffen? Es gibt kein Europa. Was wir haben, sind auf falschen Papieren beruhende Verträge zwischen Nationalstaaten. Sie haben viele Freunde, die diese Überzeugung teilen? Freunde hat man immer nur wenige.

Das Gespräch führte Arno Widmann

Deutsch erscheinen die Bücher Giorgio Agambens vor allem in den Verlagen S. Fischer, Matthes & Seitz, Merve und Suhrkamp. Im Italienischen Kulturinstitut in der Hildebrandtstraße ist noch bis zum 30. August eine Ausstellung über das Werk Giorgio Agambens zu sehen.

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