Interview mit Ute FrevertImmer mehr Menschen lassen sich freiwillig demütigen

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Berliner Forscherin, Ute Frevert.

Berliner Forscherin, Ute Frevert.

Menschen zu demütigen, scheint nicht mit den Werten moderner Gesellschaften vereinbar. Und doch ist eine steigende Lust an der Bloßstellung anderer zu beobachten, sagt Ute Frevert. Die Historikerin leitet den Bereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin-Dahlem. Sie hat sich mit der Geschichte der Demütigung beschäftigt.

Frau Frevert, Sie haben sich in Ihrem neuesten Buch mit öffentlicher Demütigung befasst. Was versteht man darunter?

Wichtig ist, zwischen zwei Begriffen zu unterscheiden. Der eine lautet Beschämung. Damit wird eine Person bestraft, wenn sie sich nicht so verhält, wie die Norm der Gruppe das verlangt. Dadurch soll sie zu einer Reuehandlung gebracht und wieder in die Gruppe aufgenommen werden. Bei einer Demütigung geht man noch weiter: Es geht um Stigmatisierung und darum, eine Person auszugrenzen. Einem Menschen soll deutlich gemacht werden, dass er oder sie nicht passt und nicht dazu gehört.

Welche Motive spielen dabei eine Rolle?

Rassismus ist ein wichtiges Motiv. Jüdische Frauen und Männer wurden in den 1930er-Jahren bloßgestellt, nur weil sie Juden waren – sie hatten sich nichts zuschulden kommen lassen. In unserer heutigen Zeit gibt es Online-Plattformen, die etwa dem Fat Shaming dienen. Dort werden Menschen vorgeführt, deren Körpergewicht weit über dem Normalgewicht liegt. Die Bezeichnung „Shaming“ lässt vermuten, dass es dort um das Beschämen und damit um den Gedanken geht, dass diese Menschen etwas an ihrem Körper ändern sollen. Aber tatsächlich vollzieht sich auf diesen Plattformen eine starke Demütigung, die zum Ausdruck bringt: So wie ihr seid, wollen wir euch nicht. Das „Wir“, also die Akteure, spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Welche Akteure gibt es und wofür brauchen sie das öffentliche Bloßstellen anderer?

Die Demütigung ist ein Instrument zur Machtausübung. In der modernen Geschichte waren es erst staatliche Akteure, die Bürgerinnen und Bürger gedemütigt haben, zum Beispiel durch öffentliche Strafen wie Auspeitschen oder an den Pranger stellen. Mitte des 19. Jahrhunderts zog sich der Staat zurück und gesellschaftliche Gruppen und Institutionen füllten die Lücke.

Warum gerade zu jener Zeit?

Damals wurde unter anderem die Massenpresse erfunden, die fleißig an der Schraube öffentlicher Bloßstellung drehte – zunächst als Zeitungspranger. Später sprach man dann vom Medienpranger und heute haben wir, ganz prominent und „demokratisch“, den Internet-Pranger, wo jeder und jede sowohl Täter als auch Opfer von Demütigungen werden kann.

Ist es nicht merkwürdig, dass Gesellschaften, denen Würde eigentlich so wichtig ist, den Mechanismen der Demütigung verfallen?

Das ist paradox. Einerseits verlangen wir von anderen Respekt und Achtung, nicht zuletzt in der Jugendkultur. Das ist eine Errungenschaft der Moderne, die Individuen und ihre Rechte stärkt. Andererseits beobachten wir eine zunehmende Lust an der Demütigung anderer. Das passt nicht gut zusammen.

Welche Strategie steckt hinter einer Demütigung?

Den anderen klein zu machen, um selber groß und mächtig zu wirken. Darin unterscheidet sich Demütigung von Kritik, die absolut notwendig ist, solange sie sachlich und konstruktiv bleibt. Dampft der Chef die Mitarbeiterin aber vor allen Kolleginnen und Kollegen ein und macht sie dabei auch noch lächerlich, dann ist das eine demütigende Bloßstellung, die die Selbstachtung und Würde der betroffenen Person angreift. Der Begriff Bloßstellung verweist im Übrigen auf die wichtige Rolle des Publikums, vor dem jemand bloßgestellt wird. Ohne Publikum und seine erhoffte Zustimmung ist eine Demütigung nur halb so viel wert.

Wenn andere so ein Verhalten gutheißen, werden die Akteure doch zu weiteren Übergriffen animiert.

Das ist möglich. Aber zunächst einmal werden sie darin bestärkt, dass das, was sie tun, richtig oder cool ist. Wenn es, so meine These, bei Demütigungen um die Demonstration von Macht und Ohnmacht geht, ist die Zustimmung des Publikums eine Bekräftigung dieser Macht. Das war schon beim traditionellen Prangerstehen der Fall, mitten auf dem Marktplatz mit Hunderten oder Tausenden Zuschauern. Damals diente das auch zur Warnung und Abschreckung, aber vor allem als Beweis, dass die Macht der Obrigkeit von den Untertanen akzeptiert wurde.

Die Untertanen nahmen die Demütigung also einfach hin?

Die Untertanen oder, allgemeiner gesagt, das Publikum war und ist dabei keinesfalls ohnmächtig – ohnmächtig ist nur die Person, die gedemütigt wird. Diejenigen, die zuschauen und Beifall klatschen, tragen aktiv zur Demütigung bei. Aber sie könnten sich auch anders verhalten. Denken Sie an die Prangerumzüge während der Nazizeit. Auch damals waren die Gedemütigten – Juden, Frauen, die mit Zwangsarbeitern oder Juden geschlafen hatten, Politiker anderer Parteien – immer von johlendem Publikum begleitet, von feixenden Frauen, Männern und Kindern. Die hatten, wie uns Fotografien zeigen, offenbar ihren Spaß daran. Aber sie hätten sich auch abwenden und weggehen können.

Was bewegt Menschen dazu, einfach mitzumachen? Ist es Gruppendynamik oder sind sie froh, dass ihnen das selbst nicht passiert?

Eher letzteres. Man weiß ja auch, dass Menschen, die Gewalt ablehnen, sich gern Horrorfilme im Kino ansehen. Sich selber in Sicherheit zu wissen, gibt ein wohliges Gefühl. Allerdings sind Kino und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge. Zur Wirklichkeit gehört ein Verlust an Empathie mit den Opfern solcher Demütigungen – und der kann, je nach Situation und Konstellation, viele Ursachen haben.

Sie sehen also noch große Notwendigkeit für Veränderungen?

Die Veränderung muss von uns ausgehen. Wir sind selbst Zuschauer und können uns entscheiden, wie wir mit öffentlichen Demütigungen umgehen. Wenn jeder und jede für das Thema sensibilisiert ist, wenn wir Achtung und Respekt auch anderen zugestehen und nicht nur uns selbst, könnten wir zivilisierter und demütigungsfreier leben. Allerdings, und das gibt mir sehr zu denken, ist die Bereitschaft gestiegen, sich freiwillig demütigen zu lassen. Offenbar ist die Menschenwürde, wie Artikel 1 des Grundgesetzes verkündet, doch nicht unantastbar, nicht wenige willigen in ihre eigene Demütigung ein.

Was meinen Sie damit?

Jugendliche stehen Schlange, um bei Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ und „Germany’s Next Topmodel“ mitzumachen. Sie kennen diese Shows aus dem Fernsehen und wissen, wenn sie etwas falsch machen, werden sie hemmungslos und minutenlang vor laufender Kamera bloßgestellt und lächerlich gemacht. Trotzdem malen sich die Jugendlichen aus, dass ihr Leben besser und toller wird, wenn sie dort gewinnen.

Haben Sie dafür eine Erklärung?

Die Würde hat, anders als Immanuel Kant das vor mehr als 200 Jahren behauptet hat, offenbar doch einen Preis, und wenn der hoch genug ist, drückt man zwei Augen zu.

In Ihrem Buch bescheiben Sie eine Schülerin, deren Vater ihr verboten hat, Selfies zu machen und ins Netz zu stellen. Sie widersetzte sich. Als Strafe schnitt er ihre Haare ab, das Video davon gelangte ins Internet. Das Mädchen sprang von einer Brücke. Warum haben Sie solche Beispiele gewählt?

Mir ist aufgefallen, dass Frauen anders gedemütigt werden als Männer – an und mit ihrem Körper. Der Körper ist sowohl Anlass als auch Medium der Demütigung. Auch in diesem Beispiel: dem Vater missfiel, dass die Tochter sich leicht bekleidet zur Schau stellte, also schnitt er ihr die Haare ab – ein klassisches, schon in der Antike bekanntes Mittel der Erniedrigung. Wenn französische oder norwegische Frauen sich im Zweiten Weltkrieg mit deutschen Besatzungssoldaten einließen, wurden ihnen ebenfalls die Haare abgeschnitten – ebenso wie den deutschen Fräuleins, die nach 1945 mit amerikanischen GI’s ausgingen. Wie Frauen mit ihrer Sexualität umgingen, entschied lange Zeit – manchmal noch heute – über ihre Ehre beziehungsweise Schande. Bei Männern tat und tut es das nicht.

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