Interview mit Philosoph Robert Spaemann„Wir können nicht grenzenlos helfen“

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Philosoph Robert Spaemann: „Wir können nicht uneingeschränkt helfen.“

Philosoph Robert Spaemann: „Wir können nicht uneingeschränkt helfen.“

Professor Spaemann, hat Europa die moralische Pflicht, Flüchtlingen, also Menschen in Not uneingeschränkt zu helfen?

Uneingeschränkt kann die Hilfsbereitschaft sein, aber nicht die tatsächliche Hilfe. Es kann nicht unsere Pflicht sein, uneingeschränkt zu helfen, weil es nicht möglich ist. Wir können es nicht. Und wir sollten auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir unserer Hilfe Obergrenzen setzen. Zudem ist es so, dass, wenn es solche Grenzen gibt, man auswählen muss, wen man nimmt und wen nicht.

Und wie fällt dann die Auswahl aus?

Es gibt verschiedene Grade der Nähe, und hier hat Augustinus den entscheidenden Begriff geprägt: ordo amoris, also eine Rangordnung der Liebe. Wo unserer Hilfe Grenzen gesetzt sind, da ist es auch gerechtfertigt auszuwählen, also zum Beispiel Landsleute, Freunde oder auch Glaubensgenossen zu bevorzugen. Johannes schreibt in einem Brief: Tut Gutes allen. Besonders aber den Glaubensgenossen. Es gibt rational nachvollziehbare Gründe der Auswahl.

Das heißt, wir sollten eher verfolgte Christen aus dem Irak aufnehmen als verfolgte Muslime aus Syrien?

Wenn es tatsächlich nicht möglich ist, beiden zu helfen – was man versuchen sollte –, dann ist es nicht falsch, sondern sogar vernünftig, Glaubensgenossen zu bevorzugen. Das ist ja auch in einigen Ländern gängige Praxis. Kultureller Pluralismus kann eine historisch begründete Gegebenheit sein, aber wir sollten ihn nicht zu einem Ziel hochjubeln. Er vergrößert das Konfliktpotenzial.

Aber wir haben doch eine säkulare Gesellschaftsordnung.

Es ist trotzdem so, dass ganz unabhängig von den Glaubensüberzeugungen unsere Kultur geprägt ist vom Christentum. Unsere Feste – Weihnachten, Ostern – sind christlichen Ursprungs. Großbritannien schafft sie ab. „Merry Christmas“ ist nicht mehr erlaubt, es heißt jetzt „Season’s Greetings“. Ich weiß nicht, ob es jemanden gibt, der das für eine Bereicherung hält.

Der Anspruch auf Asyl ist indifferent in Bezug auf Staats- oder Religionsangehörigkeit.

Aber wenn die Bundeskanzlerin als Gründe für die Gewährung von Asyl neben Verfolgung wegen religiöser und politischer sowie rassischer Eigentümlichkeit auch Armut nennt, ist das eine katastrophale Ausweitung. Gewiss, man kann Menschen nicht vorwerfen, dass sie durch Emigration ihren Lebensstandard zu heben versuchen. Wir würden das in ihrer Lage vielleicht auch versuchen. Aber ebenso klar ist es auch, dass wir diesem Wunsch nicht entsprechen können.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Gott und der Terror von Paris

Gehen wir einen Schritt weiter und blicken auf die Terrorangriffe von Paris und anderswo. Ein Bischof sagte kürzlich, er frage sich, wo Gott gewesen sei, als dies passierte. Wo war Gott?

Er war am Kreuz. Das ist die einzige Antwort, die wir haben. Jesus selber hat die Frage am Kreuz gestellt: Warum hast du mich verlassen? Diese Erfahrung der Gottverlassenheit taucht immer dann auf, wenn den Menschen Schlimmes zustößt. Wenn der, den wir für den Sohn Gottes halten, das auf sich genommen hat, dann ist das die Antwort darauf. Mehr kann ich in diesem Augenblick dazu nicht erklären. Die Weltgeschichte, das Universum ist in Gottes Hand. Die Hoffnung bleibt, auch wenn sie uns nicht explizierbar ist.

Und doch haben wir ein Problem zu verstehen, nämlich wie wir unsere Rechte begründen können. Jeder kann ein Recht für sich in Anspruch nehmen, das gilt auch für die IS-Terroristen , die glauben, in einem bestimmten Sinne rechtmäßig zu handeln, der uns unvernünftig erscheint.

In Zeiten der grausamen Tyrannen zweifelt niemand daran, dass es das von Natur Gerechte und Ungerechte gibt. Schon Kinder im Sandkasten wissen das. Es gibt im Begründungszusammenhang ein Ende der Begründung. Der Begriff des „Wertes“ ist übrigens ganz ungeeignet, in öffentliche Kontroversen Klarheit zu bringen. Wir gehören nun einmal zwei Dimensionen an, der der Lebewesen und der der Vernunftwesen.

Wie meinen Sie das genau?

Wir haben als Menschen Interessen, die wir gegeneinander abwägen können. Aber meine Interessen stehen nicht über denen anderer, weil es meine sind. Sie müssen gegeneinander abgewogen werden. Diese Fähigkeit ist dem Menschen mitgegeben. Es gibt zwei Definitionen des Menschen bei Aristoteles. Die eine ist: Der Mensch ist ein Vernunftwesen. Die zweite ist: Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Beides verbindet sich in der Sprache. Bei Begründungsfragen gibt es allerdings ein Ende der Begründungskette. Es gibt das Selbstverständliche und das Evidente. Descartes hat versucht, auch am Evidenten zu zweifeln. Aber dieser Zweifel war nur ein methodischer. Wer wirklich an allem zweifelt, könnte gar nicht mehr weiterleben.

Wir machen uns Hoffnung, dass wir den IS-Fanatikern argumentativ etwas entgegenhalten können. Geht das aber auch ohne Rückgriff auf eine übernatürliche Ordnung?

Nein, das würde ich nicht sagen. Sie meinen eine göttliche Ordnung. Die Menschen leiden unter der Verletzung ihres natürlichen Rechts. Wir brauchen dazu zunächst keinen Rekurs auf eine übernatürliche Ordnung. Wenn allerdings der Gesprächspartner alles in Frage stellt, wenn er davon ausgeht, dass es nur Interessen gibt, und er nicht bereit ist, die eigenen Interessen zu relativieren, dann brauchen wir den Rekurs auf den Willen Gottes. Eine Person kann letzten Endes nur durch eine Person verpflichtet werden. Nur wenn das Naturrecht im Willen Gottes gründet, kann es freie Personen binden.

Also bei einem radikalen Zweifel?

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb einmal: Es gibt zwei Meinungen. Die einen sagen, Gott ist das Gute, weil es das Gute ist. Und die anderen sagen, das Gute ist das Gute, weil Gott es will. Wir sind normalerweise gewöhnt, die erste Antwort für die richtige zu halten. Aber Wittgenstein hielt die zweite für richtig. Er sagte, die tiefere Begründung ist die, dass hinter dem, was von Natur gerecht ist, ein heiliger Wille steht. Die Perspektive, die die Welt als Ganze betrifft, ist die Gottesperspektive. Nur Gott weiß das Ganze.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Nietzsche und die Tyrannei der Werte

Nietzsche sagte: „Wir müssen lernen, ohne Wahrheit zu leben.“ Er vertritt einen Relativismus, den man kaum hintergehen kann, oder?

So können wir als Mensch gar nicht leben. Wenn wir nicht auf den Begriff der Wahrheit rekurrieren können, können wir auch nicht mehr beurteilen, welche Meinung die wahrere ist, sondern nur, welche die stärkere ist. Das ist unsere Situation heute. Wir leben unter einer Tyrannei der Werte. Die Stärke setzt sich durch. Anstelle des Begriffs tritt die Lehre des politisch Korrekten. Wer sich darauf bezieht, gegen den braucht man auch keine Argumente. Die Herrschenden definieren, was richtig ist. Und wenn andere kommen, gilt eben etwas anderes. Das hat mit Wahrheit nichts zu tun.

Also hatte Nietzsche recht?

Nietzsche hat gesehen: Wenn Gott nicht existiert, gibt es keine Wahrheit. Und wenn der Glaube an Gott zusammengebrochen ist, dann ist auch der Begriff Gottes verschwunden, der an den Wahrheitsbegriff ebenso geknüpft ist, wie der Wahrheitsbegriff an den Gottesbegriff, die gehören zusammen. Und das hat Nietzsche als Erster richtig gesehen. Seine Konsequenz war, dass an die Stelle der Religion ein neuer Mythos treten könne, der stark genug ist, von Wahrheit unabhängig zu sein.

Der Philosoph Ernst Tugendhat schrieb einst, dass die Haltung der Religion „mit der intellektuellen Redlichkeit heute nicht mehr vereinbar“ sei. Können wir uns dem entziehen?

Was soll das „heute“ darin bedeuten? Was soll anders sein als vor 200 Jahren?

Er würde sich vielleicht auf die Epoche der Aufklärung beziehen.

Das war eine Epoche strikten Naturrechts. Die ganze Aufklärung bestand in der Proklamation des Naturrechts gegenüber der gesamten Tradition. Insofern ist die ganze heutige Polemik gegen das Naturrecht eine Anti-Aufklärung.

Kant versuchte eine Ordnung zu schaffen, die sich auf den Menschen als Vernunftwesen stützt. Eine Begründung, die auf Gottesbeweise fußt, lehnte er ab.

Es ist nicht in Ordnung, wenn Tugendhat Menschen, die glauben, der intellektuellen Unaufrichtigkeit bezichtigt. Das ist ein schwerer moralischer Vorwurf. Ich weiß nicht, woher er das Recht dazu nimmt. Und was Kant betrifft: Er sagte, dass man das Wissen einschränken müsse, um für den Glauben Platz zu schaffen. Kant bekennt sich zur Existenz Gottes, das ist für ihn einsehbar, wenn auch nicht mit den Methoden der modernen Wissenschaft beweisbar. Er setzte nie auf die Allmacht der Wissenschaft, die auch noch versuchte, die Verbindlichkeit der Moral auszuhebeln und dann nur noch psychologisch zu erklären. Das alles ist Aufklärungstradition.

Nach Kants Meinung gab es keinen vernünftigen Beweis der Existenz Gottes. Sehen Sie das anders – kann man die Existenz Gottes beweisen?

Das kommt ganz darauf an, was man unter dem Wort „beweisen“ versteht. Man muss sich klarmachen: Wenn es um die Existenz Gottes geht, geht es zugleich um die Wahrheit. Nur wenn es Gott gibt, gibt es so etwas wie Wahrheit. Kant glaubte, dass die moderne Wissenschaft einen solchen Beweis nicht führen könnte. Weil für ihn die theoretische Vernunft gleichbedeutend war mit der theoretischen Wissenschaft, sagte er, dass man das Wissen einschränken müsse, um für den Glauben Platz zu schaffen. Um Gott zu retten, muss ich deutlich machen, dass die wissenschaftliche Vernunft nicht ausreicht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Spaemann über den Islam und die Gewalt

Wenn man die abrahamitischen Religionen vergleicht – wie kann man sicher sein, dass man der richtigen Religion anhängt? Das behaupten ja alle von sich.

Diese Frage führt in die Irre. Sie geht davon aus, dass es einen Standpunkt jenseits und oberhalb der Religion gibt, wo der Streit entscheidbar wäre. Religionen, die es ernst meinen, sind intolerant. Wesentlich für das Christentum ist der Missionsbefehl Jesu: „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern.“ Universalistische Religionen sind ihrem Wesen nach missionarisch. Aber das Ziel der Mission ist nicht „Unterwerfung“.

Und wie ist das Verhältnis von Terroristen und Religion?

Wenn Gott so ein blutrünstiges Wesen ist, wie er durch den IS dargestellt wird, und man sagt, dass dies mit dem Islam nichts zu tun hat, dann ist das naiv. Die Tatsache, dass viele Muslime diese Taten der Terroristen scharf missbilligen, heißt nicht, dass es nichts mit der Religion zu tun hätte. Der Koran ist ja das, worauf sich die Attentäter beziehen, eine andere Quelle haben sie ja gar nicht. Wie kann man also sagen, das hätte mit dem Islam nichts zu tun? Das ist Schönrednerei. Die Muslime müssen ihr Verhältnis zur Gewalt gründlich aufarbeiten.

Da würden Muslime auch auf die Bibel und die Kreuzzüge verweisen.

Das sagt man oft. Aber einerseits muss man sagen, dass das Verhältnis des Christentums zur Gewalt im Mittelalter nicht das neutestamentliche war. Andererseits soll man die Kreuzzüge auch nicht schmähen. Die Christen haben das Heilige Land zurückerobert, und zwar nicht um Menschen gewaltsam zu bekehren. Und warum es den Muslimen gelingt, die Kreuzfahrer als etwas so Schlechtes darzustellen, wo es sich in Wirklichkeit nur um Verteidigung handelt, ist mir ein Rätsel. Dahinter stand nicht der Versuch, die Welt zu missionieren, sondern es ging um die Zurückgewinnung von Gebieten, die vordem christlich waren.

Das Gespräch führte Michael Hesse.

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