Jenny Odell im Interview„Soziale Medien stehlen uns die Zeit“

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Symbolbild

  • Künstlerin Jenny Odell spricht sich gegen Soziale Medien aus.
  • Im Interview wirbt sie für das Nichtstun und das spannende Leben außerhalb des Bildschirms.
  • Warum ausgerechnet zwei kalifornische Krähen zu ihrer Lieblingsbeschäftigung geworden sind, verrät sie außerdem.

Jenny Odell liebt es, Crow und Crowson  zuzuschauen. Crow und Crowson, das sind zwei Krähen, die die Künstlerin und Autorin täglich auf ihrem Balkon im kalifornischen Oakland besuchen. Sie ist begeisterte Vogelbeobachterin, das ist für sie ein Weg, ihre Aufmerksamkeit zu schulen. Kürzlich veröffentlichte Odell,  die  Kunst an der Stanford University lehrt, das Buch „How to do Nothing – Resisting the Attention Economy“. Darin geht es weder um simples Digital Detox noch um Selbstoptimierung, auch schreibt Odell kein Anti-Technologie-Traktat.

Stattdessen will sie dem Leser neue Wege aufzeigen, der Welt zu begegnen und sich in ihr zu verorten, auch mithilfe von Kunst und Natur. Sie will den Blick für die haptische, reale Welt, die uns immer mehr abhanden zu kommen scheint, schärfen. Sie sieht das als Akt des Widerstands in einer Zeit, in der unsere Aufmerksamkeit so wertvoll und zugleich spärlich wie nie geworden ist; und wir mehr denn je an unserer Produktivität gemessen werden.

Sie sprechen  in Ihrem Buch von der „Aufmerksamkeitsökonomie“. Wie definieren Sie diesen Begriff? Die Aufmerksamkeitsökonomie hat mit der Art und Weise zu tun, wie die sozialen Medien funktionieren. Sie versuchen, so viel wie möglich von unserer Aufmerksamkeit zu ködern, und wir sollen so lange wie möglich auf den Plattformen  bleiben. Wir Nutzer sollen uns darauf  stetig beschäftigen und uns möglichst oft einloggen, um zu schauen, ob es Neuigkeiten gibt. Das ist an sich nichts grundsätzlich Neues, sondern so alt wie Werbung. Firmen, die menschliches Verhalten und die Mechanismen unserer Aufmerksamkeit studieren, um sie zu fesseln und auszunutzen, gibt es schon sehr lange. Nur hat es jetzt neue Formen angenommen.  

Man sagt ja auf Englisch so schön: „Wenn das Produkt gratis ist, ist man selber das Produkt.“ Auf Instagram und Facebook wird der Nutzer, seine Vorlieben, für die Konzerne zur Ware. Gab es für Sie einen Schlüsselmoment, in dem Ihnen bewusst wurde, wie stark Aufmerksamkeit mittlerweile zur Handelsware geworden ist? Es ist nach und nach passiert, über die letzten vier bis fünf Jahre. Ich habe, verglichen mit den Menschen in meinem Umfeld,  erst relativ spät ein Smartphone gekauft. Als es schlussendlich 2013 so weit war, sind mir die ganzen Vorgänge bewusster geworden. Doch die Zeit nach den US-Wahlen 2016 war sicherlich ein weiterer Schlüsselmoment für mich, weil der generelle Furor in den sozialen Medien ein neues Niveau erreichte. Es war einfacher, klar zu erkennen, dass wir ein ungesundes Verhältnis zu ihnen haben. Dieses stetige Gefühl, moralisch dazu verpflichtet zu sein, sich mit sogenannten Debatten auf Twitter zu beschäftigen, auch wenn es für die eigene psychische Gesundheit nicht gut ist.

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In diesem Zusammenhang beschreiben Sie  in Ihrem Buch, wie wichtig es ist, sich die eigene Aufmerksamkeit  und Neugier zu bewahren.   Ich denke viel darüber nach, wie es sich anfühlt, durch einen Newsfeed zu scrollen, in dem Videos oft von selbst starten, zu Themen und Ereignissen, auf die man überhaupt nicht vorbereitet war. Da verfällt man dann in so eine Art Kampf- oder Fluchtmodus, in eine fast animalische Angst. Aus diesem Zustand heraus kann man nur oberflächlich reagieren. Es wird viel schwieriger, wirklich darüber nachzudenken, was man sagen oder tun will, und mit Intention und Willen zu agieren.  Aufmerksamkeit und Neugier kommen hingegen aus einem Zustand des Sich-Öffnens. Wenn man in eine Bibliothek geht, sogar wenn man nichts besonders Spezifisches sucht, muss man sich auf etwas festlegen, Arbeitsgeschichte oder Ökologie zum Beispiel. Diese Entscheidung trifft man schon mal selber. Dann recherchiert man verschiedene Autoren und sucht sich die besten Quellen aus. Diese Entscheidungen kommen wieder aus einem selbst, nicht von außerhalb. Wenn man aber seine Handlungsfähigkeit bei der Informationssuche verliert, sorge ich mich, dass man sie auch anderswo im Leben verlieren könnte.

Also geht es gar nicht so sehr darum, nichts zu tun, wie der Titel Ihres Buchs es vermuten lässt, sondern, das Tun neu zu gestalten? Als ich mir den Titel ausgedacht habe, wollte ich auch das ausdrücken, was viele Künstler nach den US-Wahlen gefühlt haben: Was kann ich in diesem Moment machen, das irgendwie Bedeutung hat? Es war eine wahre Sinnkrise und ein Infrage-Stellen der eigenen Tätigkeit. Das Nichtstun, das im Titel vorkommt, richtet sich an die Menschen, die denken, sie müssten dauernd etwas machen oder sich auf Twitter oder Facebook ausdrücken, damit alles besser wird. Das sind, denke ich, viele. Ich beschreibe nicht das buchstäbliche Nichtstun, doch diese Formulierung ist mir wichtig als Gegensatz: zu der Idee, man müsse dauernd Informationen produzieren oder konsumieren, irgendetwas zur Debatte    beisteuern. Ich gebe sozusagen einfach die Erlaubnis, nichts zu tun. Wenn auch nur für einen Augenblick.

Sie haben auch einen aktivistischen Ansatz und stellen das gesellschaftliche System, das  die Aufmerksamkeitsökonomie hervorbringt, gänzlich infrage. Unser Wert wird an unserer Produktivität gemessen. In einem solchen System wird Nichtstun zum radikalen Akt. Das kann aber nicht jeder machen. Ich beschreibe das im Buch als „margin“, also als Spielraum. Menschen haben unterschiedlichen Spielraum, sich zu widersetzen. Das hat mit vielen Faktoren zu tun. Zum Beispiel damit, wie man seinen Lebensunterhalt verdient, wo man lebt, wie tolerant die Gesellschaft, in der man lebt, gegenüber Protest ist. Diese Faktoren beeinflussen, ob man überhaupt irgendetwas „nicht tun“ kann. Die Arbeiterbewegung und ihre Forderung nach dem Achtstundentag, ebenso wie der Generalstreik der Hafenarbeiter von 1934 beeindrucken mich, weil sie aus organisierter Arbeit entstanden. Wenn man so eine „Gig-Economy“ mit individualisierten, prekären Arbeitern wie heute hat, die eben nicht Teil einer Gewerkschaft sind und voneinander isoliert arbeiten, versteht man, wie machtlos sie sind, sich zu widersetzen. Auch für eine Arbeit unter unmöglichen Bedingungen findet sich schnell ein Ersatz. Ich schlage aber vor, dass die Menschen, die irgendwie Handlungsspielraum haben, ihn nutzen, um anderen zu helfen. Das ist nämlich ein sehr großer Teil des Knotens, den man entwirren müsste: Wie erleben Menschen ihre  Zeit und wie wird dieses Erleben manipuliert?

Was kann man konkret tun, um  seiner Umgebung im Alltag neu zu begegnen und  zu einer nachhaltigeren Aufmerksamkeit zurückzukommen? Man kann verändern, wie man sich durch den Raum bewegt. Einen anderen Weg zur Arbeit wählen, eine andere Geschwindigkeit, festlegen, worauf man sich konzentriert. Wenn ich Vögel beobachte, gucke ich auf meinem gewohnten Weg nun immer hoch, anstatt nach unten. Oberflächlich gesehen läuft man den gleichen Weg, aber es gibt Hunderte Möglichkeiten, wie man seine Aufmerksamkeit verändern kann, und das verändert wiederum komplett die Erfahrung. Ich war kürzlich auf einer Historical Walking Tour entlang der Oaklander Küste, in der Nähe von meinem Büro. Das ist ein Teil der Stadt, den ich  sehr gut kenne. Und dennoch sind mehrere Dinge genannt worden, die ich nicht wusste. Es ist eine Erfahrung in Demut, zu sehen, was man alles noch nicht bemerkt hat, sogar, wenn man sich Mühe gibt.

Sie unterstreichen auch die Wichtigkeit, sich mit dem eigenen direkten Umfeld und seiner Ökologie auseinanderzusetzen. Das ist die Idee des Bioregionalismus, einer Unterkategorie der Umweltbewegung. Es geht dabei darum, mit der Ökologie seiner Umgebung vertraut zu sein und sich damit zu identifizieren. Auch diese Bewusstwerdung soll letztendlich das eigene Handeln nachhaltig verändern. Mich mit dem Ort, an dem  ich lebe, wirklich zu befassen, hat für mich generell eine erdende Wirkung, denn es bietet mir Details, an dene£n ich mich festhalten kann – im Gegensatz zur Platz- und Kontextlosigkeit, die ich im Netz erfahre.

Sie besuchen in Oakland oft einen Rosengarten. Was können wir von solchen öffentlichen Orten des Rückzuges lernen? Ich bin immer noch fasziniert davon, wie unser Handeln und unsere Denkweise von unserer Umgebung bestimmt sind. Der Rosengarten ist in der Nähe einer lauten Straße, aber man kommt in ein komplett anderes Umfeld. Die Aktivitäten der Leute sind dort anders. Man sieht, dass die Menschen langsamer gehen, niemand versucht, irgendetwas zu tun. Man ist einfach da, man hat sein Ziel, im Park zu sein, ja schon erreicht. Niemand sagt einem, wie lange man bleiben soll, wie man sich zu verhalten hat. Das Ganze signalisiert schon visuell Müßiggang. Der Rosengarten wird so zu einem Symbol für einen anderen Modus, den wir zwar alle kennen, der aber immer mehr bedroht zu sein scheint.

Und wie kann Kunst unsere Aufmerksamkeit schulen? Die Kunst, die ich besonders gerne mag, ist eine Art „Aufmerksamkeitsapparat“, der einen trainiert, etwas anders anzuschauen. Idealerweise nimmt man diese Art des Sehens dann mit. Ich beschreibe im Buch zum Beispiel John Cages Musik, die ich vor ein paar Jahren in San Francisco erlebte. Er ist dafür berühmt, wie er das, was wir für nicht-musikalische Geräusche halten, als Musik inszeniert. Seine Notenblätter sehen sehr ungewöhnlich aus, wenn man sie mit klassischer Musik vergleicht. Man findet Smoothie-Mixer oder das Geräusch, das es macht, wenn jemand Karten mischt. Das live zu erleben, hat komplett verändert, wie ich Geräusche wahrnehme, sowohl unmittelbar nach dem Konzert wie langfristig. Ich bin mir der Geräusche viel bewusster.

Während der Lektüre habe ich auf das Wort Achtsamkeit gewartet, es kam aber nicht. Haben Sie es bewusst weggelassen, weil es darum gerade einen Hype gibt? Nicht absichtlich, nein. Es hat offensichtlich sehr viel mit dem Thema zu tun, wie ein Geist, der irgendwie durch das Buch beschworen wird, den man aber nicht unbedingt so benennen muss. Aber ich bin schon auch ein bisschen ermüdet von der Art von Achtsamkeit, wie sie vor allem im Silicon Valley, dem Sitz der größten Digitalkonzerne, propagiert wird. Das ist dort sehr trendy geworden, was ich problematisch finde. Ich bin selber ein großer Fan von Achtsamkeit, aber nicht von der Noch-ein-weiterer-Lebenskniff-Version. Diese Assoziation wollte ich vermeiden, weil ich hart daran gearbeitet habe, dass mein Buch sich nicht wie ein Selbsthilfe-Buch liest. Außerdem beschäftigt sich diese Version von Achtsamkeit sehr mit dem Selbst. Mir geht es aber mehr um Aufmerksamkeit gegenüber anderen Dingen: der Gemeinschaft, den Mitmenschen, der Natur und der Kunst. Ironischerweise ist es eine wunderbare Erfahrung für das Selbst, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, das Aufmerksamkeitsnetz nach außen wachsen zu lassen, anstatt nach innen.

Jenny Odell: How to Do Nothing – Resisting the Attention economy Melville House, New York 2019.  232 S., 18 Euro. Das Buch ist bisher nur auf Englisch erschienen.

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