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Journalistin Golineh Atai„Folter muss nicht immer blutig sein“

Lesezeit 8 Minuten
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Golineh Atai

Frau Atai, Sie haben ein Buch über iranische Frauen geschrieben. Warum?  Der Iran begleitet mich täglich – ob ich es will oder nicht. Seit meiner Emigration als Kind trage ich das Thema wie ein Gepäckstück, wie einen Koffer mit mir herum, was bereichernd, aber auch belastend ist. Ich habe immer wieder versucht, diesen Koffer zu öffnen. Kein einfacher Prozess, aber notwendig. Als Mensch mit einem solchen Gepäck, einer solchen Erfahrung, habe ich den Eindruck, dass vieles, was ich selbst beobachte, oder was ich von meiner Familie und meinen Freunden aus dem Iran höre, sich in deutschen Medien nicht wiederfindet. Wir erfahren inzwischen viel zu wenig über die Gesellschaft, über Unruhen, die Opposition und auch über zivilen Ungehorsam im Iran.

Wieso ist gerade der zivile Ungehorsam der Iranerinnen politisch so relevant, auch für Deutschland?

Eine kluge Außenpolitik beschäftigt sich mit denen, die Missstände anprangern und dafür große Risiken in Kauf nehmen. Sie stehen für die Zukunft. Der Widerstand gegen Unrecht und Willkür im Iran wird vor allem von seinen Bürgern zweiter Klasse gelebt – den iranischen Frauen.

Alles zum Thema Annalena Baerbock

Als Khomeini den Iran vor rund 40 Jahren über Nacht in einen Gottesstaat verwandelte und die Iranerinnen zu Bürgern zweiter Klasse degradierte, sind die zu Tausenden auf die Straße gegangen. Ihre Mutter war eine von ihnen.

Ja, meine Mutter war bei der letzten großen Demonstration für Frauenrechte im Juli 1980 dabei. Zwei Monate später haben wir den Iran Richtung Deutschland verlassen. Als wir hier ankamen, hatte sie noch den Schrecken in den Knochen über das, was mit ihrer Heimat passiert ist. Was mit mir hätte passieren können, wenn wir im Iran geblieben wären. Meine Mutter wollte auf keinen Fall, dass ich verschleiert in die Schule gehen muss. Das war für sie unvorstellbar.

Die Islamisten haben die Demonstrantinnen durch die Straßen gejagt.

Und man muss auch bedenken, dass all das unter den Augen von sich liberal wähnenden Männern stattgefunden hat – bis hin zu öffentlichen Steinigungen und Folter. Nach meinem Abitur war ich mit meiner Mutter auf Spurensuche in Teheran, bis 2009 reiste ich noch in den Iran. Dieses Nachspüren vor Ort hat in ihr auch viel Schmerz und Wut geweckt.

In Ihrem Buch stellen Sie neun Frauen vor, die sich gegen das Regime auflehnen. Wer sind diese Frauen?

Jede von ihnen steht für eine bestimmte Seite des Irans und für ein Stück Geschichte der vergangenen 43 Jahre. Fatemeh Sepehri aus Maschhad zum Beispiel war mir so wichtig, weil ich dachte, ich kann kein Buch über den Iran schreiben, ohne diesen Pilgerort und diese Wirtschaftsmetropole zu thematisieren, in der sie lebt. Ich kann kein Buch schreiben, ohne jene zu erwähnen, die sich wie sie als Muslime definieren, aber klar eine Trennung von Staat und Religion fordern. Dann wollte ich das Schicksalsjahr 2009 verarbeiten – das Jahr, in dem Millionen protestierten und nach dem Verbleib ihrer Wahlstimme fragten. Das Jahr der Unruhen nach den – wahrscheinlich gefälschten – Präsidentschaftswahlen, nach denen alle Reste der gerade entstandenen Zivilgesellschaft abgewickelt wurden. Shiva Nazar Ahari steht für das plötzliche, unerwartete Aufbegehren der Jugend in dieser Zeit, das zarte Erwachen einer Frauenbewegung.

Was hat Sie an den Gesprächen besonders berührt?

Die Momente, in denen die Frauen anfingen, zu weinen. Ich konnte ja mit jenen im Iran nur Videointerviews führen und hatte anfangs gar nicht erwartet, dass diese Online-Gespräche eine solche Tiefe entwickeln würden. Zum Beispiel, als Schahnaz Akmali zusammen mit ihrer Tochter Maryam von der unermüdlichen Suche nach ihrem Sohn berichtete, der nach den Studentenprotesten 2009 verschwunden war. Und wie sie ihn dann gefunden haben, durch einen Kopfschuss getötet. Dieser Schmerz, der war auch für mich oft nur schwer zu ertragen.

Welche Konsequenzen drohen politisch aktiven Iranerinnen?

Sie erhalten Berufsverbote oder dürfen nicht weiter studieren. Sie landen in Isolationshaft. Die Zellen sind zuweilen so eng, dass ihre Fußspitzen die Wände berühren, wenn sie auf dem Boden liegen. In diesen Zellen warten sie manchmal wochenlang auf ihr Verhör. So machen sie die Frauen im wahrsten Sinne des Wortes klein.

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Oder sie werden freigelassen, wissen aber ganz genau, dass jeder ihrer Schritte überwacht wird. Häufig werden auch die Familienmitglieder bedroht. Folter muss nicht immer blutig sein. Es ist unglaublich, wie der Wille der Frauen mit psychologischem Druck gebrochen wird.

In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder von dieser jungen Generation gehört, die in Städten wie Teheran ein modernes Leben führt. Die Frauen in Ihrem Buch erfahren hingegen ein beispielloses Ausmaß staatlicher Gewalt. Darüber spricht kaum jemand. Wie erklären Sie sich diese Kluft?

Wenn Journalistinnen und Journalisten aus dem Iran berichten wollen, sind sie immer dazu gezwungen, sich auf bestimmte Kompromisse einzulassen. Sonst verlieren Korrespondenten sofort den Zugang zu den Mächtigen oder sogar die Arbeitserlaubnis. Eine Reporterin vor Ort kann also gar nicht einfach über den Protest zivilgesellschaftlicher Akteure berichten. Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob wir unseren Zuschauern und Lesern dieses „Spiel“, dieses „Aushandeln“ ausreichend vermitteln: „Ich meide bestimmte Themen, komme aber rein.“ Die Iranerinnen und Iraner sind in den vergangenen Jahren misstrauisch geworden gegenüber ausländischen Medien, das habe ich selbst erlebt. „Gehörst du auch zu denen, die kosmetisch schreiben, die schönfärben?“, haben sie mich gefragt. „Oder willst du dich wirklich mit der bitteren Realität auseinandersetzen?“

Kritisch sehen Ihre Protagonistinnen westliche Politikerinnen, die sich beim Iranbesuch freiwillig verschleiern.

Ja, weil das Regime so etwas gegen die Iranerinnen verwendet und die klerikalen Herrscher sagen: Seht, die ausländischen Frauen verschleiern sich ja auch. Viele meiner iranischen Freunde fragen sich jetzt: Wie wird die neue Außenministerin Annalena Baerbock sich verhalten, wenn sie ihre erste Iranreise antritt? Schließlich hat sie sich für eine feministische Außenpolitik ausgesprochen. Wir sind alle recht pessimistisch und vermuten, dass sie sich verschleiern würde. Wie so viele vor ihr, die nicht verstanden haben, wie sehr das die Frauen im Iran entmutigt, die für die Wahlfreiheit kämpfen, gegen einen staatlichen Zwang.

Das heißt, Iranerinnen würden an die deutsche Außenministerin appellieren, unverschleiert in den Iran zu reisen?

Ja. Ich würde gerne an Frau Baerbock appellieren, dass sie sich sehr gut überlegt, wie sie mit dem Iran umgeht. Nicht nur ich, sondern viele Iranischstämmige wünschen sich einen sehr deutlichen Akzent in Richtung der universalen Menschenrechte.

Dabei finden iranische Aktivistinnen sogar im Ausland keinen Schutz. Sie haben die in New York lebende Masih Alinejad getroffen, die mit ihrer Kampagne „My Stealthy Freedom“ gegen die Zwangsverschleierung Millionen Iranerinnen eine Stimme gegeben hat. Sie steht unter Polizeischutz.

Manche denken ja mit Blick auf Russland, Staatsterrorismus wäre ein neues Phänomen. Iranischen Staatsterrorismus gibt es schon seit den 1980er Jahren, mit Auftragsmorden in Rom, in Wien, in Berlin oder Bonn. Wir haben sträflich vernachlässigt, wie groß die Gefahr in den USA ist, wo die Fürsprecher der Islamischen Republik zumindest unter Obama Zugang zu den höchsten staatlichen Stellen hatten. Und auch hier kann sich eine Autokratie wie der Iran ungehindert selbst promoten.

Haben Sie Angst?

Nein. Ich arbeite in Krisenregionen, ich lebe also mit einem ständigen Risiko. Ich bin ja seit kurzem auch wieder in der arabischen Welt im Einsatz.

Seit einiger Zeit sorgt in Köln ein von OB Reker vorangetriebenes Modellprojekt für Diskussionen: Zukünftig dürfen Moschee-Gemeinden auf Antrag zum Freitagsgebet rufen. Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr?

Ich finde den iranischen Gebetsruf wunderschön. Wussten Sie, dass es sogar ein Lied der persischen Diva Hayedeh gibt, in dem sie diesen Ruf erklingen lässt? Wenn ich das höre, habe ich jedes Mal Tränen in den Augen. Ich bin also niemand, der sagt, Religion muss weg. Im Privaten sollte jeder seine Religion ausüben können, so bin ich selbst aufgewachsen.

zur Person

Golineh Atai wurde 1974 in Teheran geboren und kam mit ihren Eltern im Alter von fünf Jahren nach Deutschland. Von 2006 bis 2008 war sie für die ARD als Korrespondentin in Kairo, danach folgten verschiedene Stationen für „Tagesschau“ und „Morgenmagazin“. Von 2013 bis 2018 war sie ARD-Korrespondentin in Moskau. Zum 1. Januar 2022 wechselte sie zum ZDF und übernahm die Leitung des Studios in Kairo.

Ihr Buch „Iran – Die Freiheit ist weiblich“ ist bei Rowohlt erschienen (320 Seiten, 22 Euro).

Aber wenn ich sehe, dass Religion von Strukturen wie der Ditib für eine staatliche Einflussnahme missbraucht wird, erinnert mich das an die vielen Gründe, aus denen meine Eltern den Iran verlassen haben. Deswegen denke ich, dass das Projekt ein falsches Signal sendet.

Manche Ihrer Protagonistinnen weigern sich, den Iran zu verlassen. Andere träumen von der Rückkehr. Träumen Sie von einer Zukunft im Iran?

Oh, da werde ich jetzt emotional … Ja, ich träume davon, eines Tages wieder im Iran zu sein und den Duft des Wassers einzuatmen, das auf die trockene Erde fließt. Auf einer Parkbank zu sitzen vor der französischen Konditorei in Teheran, wo vielleicht irgendwann eine Statue zu Ehren des weiblichen Protests gegen die Zwangsverschleierung stehen wird. Ich sehe sie vor mir. Wer weiß, vielleicht würde ich mich dann zivilgesellschaftlich einbringen, zum Beispiel in der journalistischen Nachwuchsförderung.

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