Juli Zeh„Über Menschen“ ist ein Corona-Roman ohne Trost und ohne Rezept

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Juli Zeh

Köln – Wie soll sich ein Schriftsteller eigentlich zur Pandemie verhalten? Corona-Essays und Briefe darüber zu schreiben, könnte den Blick einengen. Davon ganz zu schweigen, wäre Vogel-Strauß-Politik. Juli Zeh wählt einen dritten Weg. Sie schickt ihre Romanfigur mitten in die erste Corona-Welle und lässt sie aus dem Lockdown des letzten Frühjahrs erzählen. Das ist perspektivisch gut aufgelöst und verspricht einen spannenden Roman: den ersten, den es über Corona in der deutschen Literatur gibt.

Das Buch

Juli Zeh: „Über Menschen“,Luchterhand Literaturverlag, 416 Seiten, 22 Euro, E-Book: 18 Euro. 

„Über Menschen“ beginnt in der brandenburgischen Provinz. Zehs Protagonistin Dora, 36 Jahre alt, hat die Nase voll von der Kreuzberger Homeoffice-Gemeinschaft mit ihrem Freund Robert, einem Klimaschützer und Umweltkatastrophenjournalisten, der im März 2020 so eifrig seine Corona-Nachrichten durchs Land bloggt, dass ihn Dora bloß noch „Koch“ nennt.

In Bracken hat sie sich ein verfallenes Gutsverwalterhaus gekauft. Das Flurstück, das nicht den Namen eines Gartens verdient, nicht einmal den eines Feldes, hat 4000 Quadratmeter, eine „botanische Katastrophe, die sich durch Doras Anstrengung in einen romantischen Landhausgarten verwandeln soll. Mit Gemüsebeet“.

Juli Zeh: Isolation im Corona-Alltag

Und so macht sich Dora an den Versuch, mit Tomaten, Saatkartoffeln und Möhren das richtige Leben im falschen zu finden. Das beschert ihr schwielige Hände. Über die Grundstücksmauer lernt sie ihren Nachbarn kennen. Der heißt Gote und ist ein glatzköpfiger Hüne, viel Bier trinkend, mit Worten kargend, latent aggressiv und das Horst-Wessel-Lied schmetternd. Ansonsten gibt es noch ein homosexuelles Paar, das die AfD wählt und ein dem Roman den Titel gebendes Programm „Über Menschen“ fürs Online-Kabarett einstudiert.

Der Reiz des Romans besteht aber nicht wirklich in der Beschreibung des Landlebens im Lockdown. Was Corona mit dem Menschen macht, wäre allenfalls Stoff für ein Corona-Tagebuch oder für einen Pandemie-Essay. Hier aber geht es darum zu erzählen, was der Mensch in und aus einer radikalen Isolation machen kann. Dora kann aus der sprachlichen Not, in der auf einmal Social Distancing, exponentielles Wachstum, Übersterblichkeit und Spuckschutzscheibe, Triage und Mortalität den Ton angeben, keine Tugend machen.

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Wohl aber kann sie etwas mit der Handvoll Menschen aus der Dorfnachbarschaft anfangen. Aus Doras Anfangsmantra „Nicht nachdenken. Weitermachen.“, einem Candide-haften Programm, das Selbstoptimierung durch Bedarfsminimalisierung anpeilt, wird bald ein Lernprozess mit „blühenden Freundschaften“. Dora blickt hinter die Sprach- und Verhaltensfassaden ihrer Nachbarn. Und entdeckt in Gote einen empathischen Helfer, der ihr, zuerst gegen ihren Willen, Reparaturen abnimmt, seinen vollautomatischen Rasenmäher leiht und Möbel lackiert.

Sie hilft Gote beim Resozialisieren und „muttiviert“ seine zehnjährige Tochter, die durch die märkischen Mischwälder streunt, zu sinnvolleren Tätigkeiten: sie nimmt sich Doras Hündin Jochen an. Und das Künstlerpaar bekommt ein maßgeschneidertes PR-Programm von ihr, kein Wunder: Sie arbeitet ja für eine Werbeagentur. Aber die Autorin wäre nicht Juli Zeh, wäre ihr Roman ein einfach gestricktes Gesellschaftsbild in Notzeiten – und nicht eben auch ein Gleichnis mit doppeltem Boden wie ihr Vorgängerroman „Unter Leuten“ (2016). An einen solchen märkischen Tatort wie eben dort kehrt Dora zurück.

„Über Menschen“: Ein Roman aus unserer und für unsere Zeit

Aber diesmal lässt uns Zeh mit der Perspektive ihrer Figur allein. Wir müssen sehen, wo wir mit ihr bleiben: In einer unheimlichen Dorfwelt, der das Idyllische vollends abhanden gekommen ist. In der Provinz erscheint Nietzsches Übermensch im Unterhemd, der „Wille zur Macht“ wird durch die „Denk-Imperative“ der Politiker und Virologen abgebremst, und hinter Gotes völkischen Parolen lauert eine „Raumforderung“, ein tödlicher Gehirntumor, wie Doras Vater, ein Neurobiologe, feststellt.

Für dieses doppelbödige Erzählen, das Spiel mit den Fakten in der Fiktion, hat Juli Zeh in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen das Kunstwort „Treideln“ geprägt. „Treideln“: das ist, wenn die Autorin aus einem Gedankenknäuel einen losen Faden ertastet, daraus buchstäblich eine Geschichte entwickelt und den Faden dadurch zum roten macht. Erzählen, sagt sie, ist Schreiben „in konsequentem Sicherheitsabstand zu dem, was man eigentlich sagen will“.

Aus dieser Distanz gelesen, ist „Über Menschen“ ein Corona-Roman ohne Trost und ohne Rezept. Aber eine faszinierende Geschichte über Menschen, die in bösen Zeiten gut sein wollen. Juli Zeh erzählt gewandt, findig und szenisch spannend von einer postheroischen Figur, mit Arbeits- statt Angstschweiß, zwischen Durchhalten und Durchhangeln. Ein Roman also ganz für unsere Zeit und aus ihr heraus erzählt.

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