Kölner Professor über Cancel Culture„Alle profitieren von freier Rede und Gegenrede“

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Studierende protestierten 2017 an der Universität zu Köln bei einer Podiumsdiskussion mit Rainer Wendt. 

  • Ist das noch berechtigte Kritik oder schon sozialer Ausschluss? Unter dem Begriff „Cancel Culture“ wird heftig über die Grenzen der Meinungsfreiheit und den Zustand des Debattenklimas diskutiert.
  • Der Kölner Juraprofessor Christian von Coelln hat im Fachmagazin „Forschung und Lehre“ einen Beitrag über das Phänomen an deutschen Universitäten veröffentlicht und warnt dort vor Beschneidungen der Wissenschaftsfreiheit.
  • Im Interview spricht er über die Grenzen von legitimen Protest, den Einfluss von sozialen Medien und seine Vorstellung einer lebendigen Debattenkultur.

Köln – Herr von Coelln, Sie haben in der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ einen Beitrag über Wissenschaftsfreiheit veröffentlicht. Dort warnen Sie vor der sogenannten „Cancel Culture“. Mittlerweile ist das Schlagwort zu einem politischen Kampfbegriff mutiert. Wie definieren Sie „Cancel Culture“?

Christian von Coelln: Eine Definition ist schwierig. In der aktuellen politischen Debatte beschreibt der Begriff meiner Ansicht nach die Forderung, dass unliebsame Positionen gar nicht erst geäußert, unliebsame Personen gar nicht erst auftreten sollen, um sich selbst nicht die Mühe machen zu müssen, sich mit diesen Positionen und Personen auseinanderzusetzen.

Andere sagen, dass immer dort „Cancel Culture“ gerufen wird, wo man sich gegen legitime Kritik immunisieren möchte. Eine wirkliche „Cancel Culture“ gäbe es überhaupt nicht, nur mitunter zugespitzte Kritik an problematischen Positionen.

von Coelln: Es ist in der Tat so, dass es kein Recht auf ausbleibenden Widerspruch gibt – schon gar nicht an der Universität. Gerade die Wissenschaft lebt davon, dass Thesen geprüft und diskutiert werden. Es gibt aber eben kein Recht darauf, dass ein anderer seine Position gar nicht erst äußern darf. Nehmen wir ein Beispiel aus Ihrem Bereich: Wenn mir die Berichterstattung des Kölner Stadt-Anzeigers nicht gefallen sollte, habe ich das Recht, den ganzen Tag lang mit einem Schild vor Ihrem Verlagshaus zu stehen und gegen Ihre Artikel zu protestieren. Ich habe aber nicht das Recht, in Ihr Verlagsgebäude einzudringen und die Druckmaschine zu stoppen.

Ist so etwas an deutschen Hochschulen schon passiert?

Ein Beispiel ist sicherlich der Fall des Polizeigewerkschafters Rainer Wendt. Wenn der als Gastredner an Hochschulen eingeladen wird, kommt es regelmäßig zu Protestveranstaltungen. Es ist zunächst einmal legitim, wenn Studenten protestieren und sagen: ich bin mit den Thesen von Herrn Wendt nicht einverstanden. Nicht legitim ist es zu sagen, wir verhindern von vornherein den Auftritt, wie es etwa 2017 in Frankfurt passiert ist. Oder wir besetzen den Saal und verhindern so, dass Herr Wendt frei sprechen kann, wie das in Köln der Fall war. Oder nehmen Sie das Beispiel von Frau Schröter in Frankfurt, die 2019 einen Kongress zum islamischen Kopftuch veranstalten wollte. Dafür wurde sie aufs massivste angegriffen und beleidigt, bis hin zur Forderung an die Universitätsleitung, Schröter zu entlassen.

Zumindest in Köln konnte die Veranstaltung mit Herrn Wendt stattfinden. Und auch in Frankfurt hat Frau Schröter ihren Kongress trotz der Proteste abgehalten. Kann man da wirklich von einer umfassenden „Cancel Culture“ sprechen? Protestierende Studierende gehören schließlich auch zu einer lebendigen Debattenkultur.

von Coelln: Man kann darüber streiten, wie verbreitet das Phänomen in Deutschland ist. Aber es ist Unfug zu sagen, dass es das nicht gibt. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel. Als der Gründer der AfD, Bernd Lucke, als Professor für Volkswirtschaft an die Universität Hamburg zurückkehrte, war es ihm über längere Zeit unmöglich, seine Vorlesungen abzuhalten. Erst als die Universität unter massiven Druck den Polizeischutz hochgefahren hat, was das wieder möglich. Natürlich darf man Herrn Lucke für die Gründung der AfD kritisieren. Man kann sich, wenn man das will, auch jahrelang vor das Institutsgebäude stellen und protestieren. Das gehört zur Lebendigkeit einer öffentlichen Debatte dazu. Wenn ich aber dafür sorge, dass die Vorlesung nicht stattfinden kann, hört die legitime Form des Protests auf. Unabhängig davon, was man von der von ihm gegründeten Partei halten mag, ist Herr Lucke berechtigt – und im Übrigen sogar verpflichtet –, seine Vorlesungen zu halten.

Sie sind Mitglied des „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, einem Zusammenschluss von etwa 900 Uniprofessoren, die „Konformitätsdruck und politische Korrektheit“ beklagen. Aktuelle Studien sagen gleichzeitig, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu den Standorten mit sehr hoher Wissenschaftsfreiheit gehört. Wie passt das zusammen?

Ja, wie stehen in Deutschland noch vergleichsweise gut da. Das liegt unter anderem aber auch daran, dass Hochschullehrer in Deutschland in der Regel Lebenszeitbeamte sind. Die befinden sich in einer abgesicherten Position, doch da muss man als Wissenschaftler erstmal hinkommen. Viele Mechanismen dieses Konformitätdrucks sind subtil und setzen früh an. Wenn man weiß, dass große Bereiche der Wissenschaftslandschaft von externen Drittmitteln finanziert werden, dann passt man auf, bei bestimmten Themen nicht die falschen Schwerpunkte zu setzen. Gerade als junger Wissenschaftler, der kaum abgesichert ist, muss man aber genau überlegen, ob man bestimmte Themen wirklich bearbeiten will oder ob das womöglich karriereschädlich wäre. Teilweise wird auch verlangt, die Anträge in gegenderter Form vorzulegen.

Stellt es wirklich eine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit dar, wenn man bei einem Antrag gendern muss?

Das Gendersternchen ist sicherlich nicht das zentrale Problem. Aber auch da muss gelten: Es gibt eine amtliche Sprachregelung, die gegenderte Sprache nun einmal nicht vorsieht. Deswegen darf man zumindest bei der Verteilung staatlicher Gelder niemanden abverlangen, dass er gendert. Das größere Problem ist, dass es bestimmte Forschungsfelder gibt, die politisch kontrovers sind und bei denen man aufpassen muss, welche Position man bezieht, etwa bei Themen wie dem Islam oder bei den Gender Studies. Die britische Wissenschaftlerin Kathleen Stock etwa musste ihren Job kündigen, nachdem sie argumentiert hat, dass das Geschlecht eine unveränderliche, biologische Tatsache ist. Obwohl die Universität Sussex Stock verteidigte, ist der soziale Druck auf sie so extrem geworden, dass sie keine andere Möglichkeit sah, als die Universität zu verlassen. Natürlich muss man ihre Position nicht teilen; man darf sie – auch scharf – kritisieren. Aber man darf deswegen niemanden bedrohen.

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Waren Sie selbst schon einmal von Protesten betroffen?

von Coelln: Bei den Juristen haben wir dieses Problem eher selten. Und trotzdem habe ich selbst mal einen Vorgeschmack darauf bekommen, was Kollegen mitunter erleben müssen. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit Studenten und Experten eine Veranstaltung zu den Verfassungsänderungen in der Türkei geplant. Es ging darum, sich überhaupt erstmal darüber zu informieren, worum es verfassungsrechtlich in dieser damals sehr erhitzen politischen Debatte ging. Im Vorfeld bin ich dann von der Polizei angesprochen worden. Diese wollte zwei Beamte zur Veranstaltung schicken, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass ähnliche Veranstaltungen schon gestört worden sind. Im Endeffekt ist alles gut gegangen, aber es war doch ein sehr befremdliches Gefühl, dass bei einer wissenschaftlichen Veranstaltung überhaupt die Polizei vor Ort sein musste. Jetzt können Sie wieder sagen: Daran sieht man doch, dass die „Cancel Culture“ kein großes Problem ist. Aber idealerweise müssen wir wieder dahin kommen, dass niemand erst auf die Idee kommt, einen Vortrag in der Universität so massiv zu stören, dass die Polizei benötigt wird.

Viele vermeintlich „gecancelte“ Personen verschwinden nicht von der öffentlichen Bildfläche, sondern erhalten im Gegenteil enorme mediale Präsenz. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub fasst dieses Paradoxon in einem Interview mit dem Satz zusammen „Wer aktuell vor Cancel Culture warnt, wird damit nicht arm.“ Nimmt man Shitstorms in den sozialen Medien bisweilen nicht auch zu ernst, wenn man sie permanent als Beleg einer „Cancel Culture“ interpretiert?

Das stimmt sicherlich. Nicht jedes Mal, wenn sich irgendjemand bei Twitter empört, ist das eine Bedrohung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Im Gegenteil: Kritik ist ja auch Teil der freien Meinungsäußerung. Da gilt der alte Satz: Wer die Hitze nicht verträgt, sollte nicht in die Küche gehen. Zu einem Problem wird es dort, wo es nicht bei Widerspruch auf Twitter bleibt, sondern Bedrohungen plötzlich real werden und etwa Privatadressen veröffentlicht werden, damit die Kritiker dort „einmal vorbeischauen können“. Aber es stimmt: Kritik, auch scharfe Kritik in den sozialen Medien, muss jeder Wissenschaftler hinnehmen. Ich wünsche mir aber insgesamt von allen Beteiligten ein größeres Maß an Gelassenheit. Und dass sich die Erkenntnis wieder durchsetzt, dass letztlich alle profitieren, wenn sich Rede und Gegenrede frei entwickeln dürfen.  

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