Kolumne Alles was Recht istDas Ende von Merkels Kanzlerdemokratie

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Michael Bertrams

Nach der verlorenen Bundestagswahl hatte Martin Schulz noch am Abend des 24. September ohne Wenn und Aber erklärt, die SPD stehe für eine Neuauflage der großen Koalition nicht zur Verfügung. Das gebiete das Wahlergebnis. Das Bündnis aus Union und SPD sei abgewählt. Seiner Partei sei die Rolle der Opposition zugewiesen worden. Von dieser kompromisslosen Absage an eine Regierungsbeteiligung ist der SPD-Vorsitzende inzwischen abgerückt, nachdem ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zugeredet hatte. Nunmehr gilt die Ansage des Parteichefs: Über eine Regierungsbeteiligung sollen die SPD-Mitglieder entscheiden.

Verfassungsrechtlich fragwürdig

Auf den ersten Blick leuchtet das ein, weil die Frage eines erneuten Eintritts der SPD in eine Koalitionsregierungpartei-intern äußerst kontrovers diskutiert wird. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erweist sich der von Schulz vorgeschlagene Weg jedoch als fragwürdig. Die gemäß Artikel 63 des Grundgesetzes zur Wahl des Bundeskanzlers berufenen Abgeordneten sind nämlich keine Vollstrecker irgendeines Parteiwillens. Im Gegenteil: In ihrer Entscheidung für oder gegen den Regierungschef sind sie – wie in allen anderen parlamentarischen Entscheidungen auch – „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“.

Nur dem Gewissen unterworfen

Die Abgeordneten sind „Vertreter des ganzen Volkes“ und „nur ihrem Gewissen unterworfen“. Ihr Mandat ist kein „imperatives“, sondern ein „freies“. So sieht es Artikel 38 vor. Mit anderen Worten: Über eine Regierungsbeteiligung haben nicht die Mitglieder einer Partei zu befinden, sondern allein die in den Bundestag gewählten Parlamentarier.

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Man darf unterstellen, dass Martin Schulz das weiß. Sein Vorschlag, gleichwohl ein Mitgliedervotum herbeizuführen, ist deshalb als Versuch zu werten, sich für Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen mit CDU, CSU und der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) politisch Rückhalt zu holen und zugleich die SPD-Abgeordneten an sich und die Schulz-freundliche Parteibasis zu binden.

Dies zu versuchen, steht dem SPD-Vorsitzenden frei. Ebenso kann auch jeder andere Bürger versuchen, durch Bekundung dessen, was er für richtig oder falsch hält, die Willensbildung der Volksvertreter zu beeinflussen. Und auch wenn es um Versuche geht, den Einfluss der Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes“ auf die Wahl des Kanzlers auszudehnen, handelt es sich um Schritte allein auf der politischen Ebene ohne rechtliche Bindekraft.

Nichts anderes würde im Übrigen gelten, wenn Schulz – wie ebenfalls vorgeschlagen – auf die Idee käme, die Frage einer Regierungsbeteiligung an das Votum der SPD-Fraktionsmitglieder zu knüpfen. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten läge dies zwar insofern näher, als es ja die SPD-Abgeordneten sind, die im Fall einer gewünschten Regierungsbeteiligung der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel in der Kanzler-Wahl ihre Stimme geben oder sie ihr vorenthalten müssten, falls die SPD sich gegen eine Koalition entschiede. Die Abgeordneten bleiben jedoch auch auf Fraktionsebene in ihrer Entscheidung frei.

Fraktionsdisziplin hat keine rechtliche Basis

Mit anderen Worten: Selbst eine mehrheitliche Festlegung in der SPD-Fraktion auf dieses oder jenes Abstimmungsverhalten könnte Abgeordnete mit abweichender Position nicht binden. Zwar ist die politische Praxis nicht selten geprägt von der „Fraktionsdisziplin“, häufig „Fraktionszwang“ genannt. Gemeint ist damit die Unterordnung des einzelnen Abgeordneten unter eine Vorgabe der Fraktion und ihrer Führung. Tatsächlich folgen divergierende Abgeordnete aus Gründen politischer Opportunität zumeist der Beschlusslage ihrer Fraktion. Das Grundgesetz legitimiert sie aber, aus Gewissensgründen eine solche Unterwerfung zu verweigern. Andernfalls liefe Artikel  38 ins Leere.

Unser Kolumnist, Jahrgang 1947, war von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt im „Kölner Stadt-Anzeiger“ über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.

Unbeeindruckt von derartigen Fragen dringt Angela Merkel im Interesse stabiler politischer Verhältnisse auf eine rasche Regierungsbildung mit der SPD. Das ist umso erstaunlicher, als die Kanzlerin sich die gegenwärtige „Instabilität“ wesentlich selbst zurechnen lassen muss: Zum einen hat nicht zuletzt ihre Flüchtlingspolitik als eine Art Katalysator für den politischen Erfolg der AfD gewirkt und so zu deren Einzug in den Bundestag beigetragen. Zum anderen ist die Kanzlerin als Moderatorin der Jamaika-Sondierungsgespräche gescheitert.

Dieser Misserfolg hat indes ein Gutes: Er hat Merkels „biegsamen, moderierenden Pragmatismus“ als eine Methode „entlarvt, den Machterhalt regelmäßig als Selbstzweck zu nehmen“, wie es der Publizist Wolfram Weimer formuliert hat. Diese Art der Kanzlerdemokratie hat nun ein Ende. Nach der Öffnung der SPD für Gespräche muss Merkel jetzt inhaltlich Haltung zeigen.

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