Kolumne Deutsche ZuständeErnährung wird vergöttert oder banalisiert

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Essen kann so schön und einfach sein – solange es genug zu essen gibt. In unserem Schlaraffenland heute ist Nahrungsknappheit kein Problem. Trotzdem ist der Umgang mit „unserem täglichen Brot“ kompliziert geworden, denn die Ernährung wird zum Religions-Ersatz. An der Frage nach guten und schlechten Lebensmitteln scheiden sich die Geister. In Partnerschaften, im Freundes- oder Kollegenkreis entbrennen immer wieder moralinsaure Debatten darüber, wie man sich zu ernähren hat.

Lebensmittel werden in heilige und unheilige eingeteilt. Gemüse, Obst und Getreide sind sakrosankt; Fette, Zucker, Kohlenhydrate, Alkohol und Nikotin, mitunter sogar Fleisch gelten als Teufelszeug. Damit werden aber zugleich auch die Menschen in Gerechte und Sünder klassifiziert. Die Gerechten sind bevorzugt in den grün-bürgerlichen Eliten anzutreffen. Sie kaufen auf dem Wochenmarkt und achten auf Bio-Qualität, auf reduzierten Fleischkonsum und sorgfältige Zubereitung ihrer Speisen. Als Sünder werden die betrachtet, denen Fast Food wichtiger ist als Fasten-Food und die bevorzugt Berge von Fleisch und einen Haufen Chipstüten aus dem Discounter schleppen.

Mit der religiösen Aufladung der Ernährung entsteht eine neue Oral-Moral, deren Auswirkungen wir in unseren Studien im „rheingold-Institut“ regelmäßig beobachten können. Gewisse Bisse verursachen Gewissensbisse. Vor allem Frauen folgen folgsamer der neuen Oral-Moral, weil diese Hand in Hand geht mit den aktuellen gesellschaftlichen Schönheits- und Fitness-Idealen.

Die Oral-Moral führt aber auch zu einer Doppel-Oral-Moral, da sich auch in Sachen Ernährung kein normaler Mensch gern dauerhaft beschränken lässt. Das stolz nach außen demonstrierte Ernährungs-Bild stimmt selten mit dem tatsächlichen Ess-Verhalten überein. Im Extrem ziehen sich die Menschen mehrmals in der Woche die Pizza aus der Schachtel rein, am Wochenende aber zelebrieren sie dann ausgiebig ein Kochevent mit Freunden. Selbst diejenigen, die sich bemühen, fast täglich zu kochen, verfallen hin und wieder in eine Art oraler Masturbation: Mit Heißhunger verdrücken sie die fettige Bratwurst oder den triefenden Burger.

Die Doppel-Oral-Moral

Dieser Doppel-Oral-Moral suchen sich die Food-Fundamentalisten zu entziehen. Sie folgen beinahe besessen bestimmten Glaubensrichtungen, ob nun dem Veganismus, dem Paleo-Prinzip (Steinzeit-Diät) oder der Raw Diet (nur Rohes). Die Glaubensjünger wollen der multioptionalen Beliebigkeit unseres Schlaraffenlands den bewussten Verzicht entgegensetzen. Durch ihre ständige Selbst-Beschränkung versprechen sie sich den Lustgewinn einer bewussteren Ernährung, aber auch eine Selbststeigerung als Hohepriester heilsamen Essens und Trinkens. Food-Fundamentalisten wie die Veganer inszenieren in ihrem Umfeld nicht selten eine Speisen-Tyrannei. Paradoxerweise will ausgerechnet der Veganer letztendlich immer seine Extrawurst.

Neben der religiösen Aufladung der Lebensmittel existiert aber auch ein Gegentrend: ihre funktionale Entsinnlichung. Das Essen wird zur unbedeutendsten Nebensache der Welt. Es soll sich einpassen in unsere Freizeit- und Arbeitskontexte. Die vielen „to go“-Produkte bieten die Möglichkeit, jederzeit und überall nebenbei essen zu können: im Auto, in der Bahn, im Büro oder vor dem Computer. Ernährung heute soll die Maschinerie unseres Organismus nicht nur am Laufen halten, sondern auch das alltägliche Hamsterrad dynamisieren. Vitamine und Proteine in Tablettenform oder in kleinen Plastikfläschchen versprechen die gezielte Zufuhr wirksamer Stoffe zur persönlichen Leistungs- und Funktionssteigerung. Genuss und sinnliche Hingabe sind dabei allenfalls unerwünschte Nebenwirkungen.

Der spontane Genuss droht unterzugehen

Die Ernährung heute bewegt sich also zwischen Vergötterung und Banalisierung, zwischen Religionsersatzstoff und Leistungsdroge. Gute Ernährung sollte aber weder unter das Diktat der Religion noch der Leistung gestellt werden. Im ganzen Spektrum zwischen moralischer Missionierung und funktionaler Entsinnlichung droht der spontane, intuitive Genuss unterzugehen. Die Bereitschaft der Menschen schwindet, ihrem Appetit zu trauen und das zu essen, worauf sie wirklich Lust haben und was ihnen zugleich guttut. Die gemeinsame Mahlzeit mit selbst zubereiteten Speisen gehört für viele nicht mehr zum Alltag – ein Verlust nicht zuletzt an ritueller Erfahrung und damit an Lebensqualität. Sie zu erhalten, erfordert Zeit, Muße, Zuwendung und die Bereitschaft zum Genuss ohne Reue. Nicht nur, aber auch an Weihnachten.

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