Leben wir nur noch für Instagram?

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Auf der Suche nach dem Besonderen: Touristen bestaunen einen Eistunnel in Argentinien

Auf der Suche nach dem Besonderen: Touristen bestaunen einen Eistunnel in Argentinien

  • Der Soziologe Andreas Reckwitz über die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und den Zerfall der Gesellschaft

Herr Reckwitz, wir lieben individuelle Urlaubsreisen und den Lebensstil der Kreativen, fühlen uns zugleich jedoch in dieser Gesellschaft überfordert. Wie erklärt sich dieser Gegensatz?

Wir sehen hier die Licht- und Schattenseiten eines grundsätzlichen Wandels der westlichen Gesellschaft: von der Industriegesellschaft der klassischen Moderne zu einer postindustriellen Gesellschaft der Spätmoderne. Die Lebensdirektive dieser Gesellschaft ist in vielen Milieus die erfolgreiche Selbstverwirklichung, also eine Kombination von Selbstentfaltung und sozialem Status. Dies enthält Chancen auf individuellen Ausdruck und Erlebnisse, aber auch ein hohes Enttäuschungsrisiko, wenn man den hohen Anforderungen an sich selbst nicht genügt.

Die Menschen wollen nun individuell reisen, sie wollen eine eigene Art zu wohnen und zu leben. Was ist es für eine Art von Individualismus, der sich da durchsetzt?

In der Kultur der Spätmoderne wird ein Individualismus des Besonderen und Einzigartigen leitend: Immer mehr Güter, Orte, Ereignisse, aber auch soziale Einheiten wie Städte oder Schulen und schließlich Individuen selbst sollen nun singularisiert werden, das heißt sich als unverwechselbar gestalten. Was nur den Maßstäben des Allgemeinen und Standardisierten genügt, erscheint hier häufig unbefriedigend, ihm wird weder Aufmerksamkeit noch Wert gezollt. Sichtbar, anziehend, wertvoll und erstrebenswert, wird dagegen häufig das, was als singulär erscheint: ob das in der Ernährung Bioprodukte sind oder die Schule mit besonderem Profil ist, die interessante Persönlichkeit auf Facebook oder die unverwechselbare Stadt als Wohn- oder Ferienort - schließlich sogar die besondere politische Gemeinschaft wie bei den Regionalbewegungen in Schottland oder Katalonien.

Sehen Sie das positiv oder gibt es auch die Gefahr der sozialen Isolierung und geringeren Solidarität?

Für mich ist die Gesellschaft der Singularitäten eine sehr zwiespältige Angelegenheit. Auf der einen Seite enthält sie enorme Befriedigungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, viel intensiver als das der alten Industriegesellschaft mit ihrem Standardlebensstil möglich war. Auf der anderen Seite treten eine Reihe von Problemen auf, und eines davon ist das, was ich die Krise des Allgemeinen nennen würde: es werden immer mehr Differenzen produziert - zwischen den Berufsgruppen, den partikularen Öffentlichkeiten im Netz, auch ethnischen Communities und den Individuen selbst -, aber die Arbeit am Allgemeinen, an dem, was für alle gilt oder worin alle gleich sind, kommt dabei sehr kurz.

Heute ist es so, schreiben Sie: Das Subjekt performt sein Selbst, die anderen werden zum Publikum - wie auf Facebook. Es gibt den Kampf um Sichtbarkeit - vor allem in den sozialen Medien. Was treibt die Menschen an - oder sind sie vielmehr Getriebene?

Selbstmotivation und soziale Erwartung sind mittlerweile auf eine neue, paradoxe Weise miteinander verschaltet. Nehmen Sie eine interessante Ferienreise als Beispiel: Einerseits macht man sie, weil man selbst für sich neue Impulse und Erlebnisse sucht; andererseits kann man die Fotos davon auf Instagram verbreiten. Und nur wenn diese unvergleichlich sind, haben sie eine Chance auf Sichtbarkeit. Beide Motivationen können sich gegenseitig verstärken, sie können aber auch in einen Widerspruch münden.

Zählt auch der Rechtspopulismus zur Kultur der Singularitäten?

Der Rechtspopulismus ist zunächst eine Reaktion auf die Entwertungserfahrungen, welche die postindustrielle Gesellschaft in bestimmten Milieus prägen. Diese Entwertungserfahrungen finden sich zum einen in der prekären neuen Unterklasse, die unter der Deindustrialisierung leidet, zum anderen in der alten, nicht-akademischen Mitteklasse, die sich im Verhältnis zur hoch qualifizierten neuen Mittelklasse teilweise in der Defensive sieht. Aus Segmenten beider Großgruppen rekrutieren die rechtspopulistischen Parteien ihre Anhänger. Obwohl es sich hier um eine Anti-Establishment-Bewegung handelt, bewegt sich der Rechtspopulismus aber zugleich selbst innerhalb der Normen der Gesellschaft der Singularitäten: Die singuläre Einheit, auf die man sich hier bezieht, ist nämlich das Volk - als besonderes, nationales, mit seiner vorgeblichen zu schützenden Unverwechselbarkeit.

Wenn es so ist, überrascht es, denn eigentlich sind die Positionen der Linken: Verschiedene Geschlechter, verschiedene sexuelle Orientierungen, verschiedene migrantische Communities doch viel eher Beleg für die neue Kultur.

Das Interessante ist, dass die Orientierung am Singulären die Rechts-Links-Unterscheidung unterläuft, und sich entsprechend unterschiedliche Versionen finden: Auf der Linken die Orientierung an Diversität und individueller Selbstentfaltung, auf der Rechten die Orientierung an Volk und Nation. Die eigentliche politische Alternative zur Singularisierung besteht darin, statt auf das Besondere auf das Allgemeine zu setzen: ob im Sinne von sozialer Gleichheit oder kultureller Integration.

Ist die Zersplitterung des Parteiensystems eine Folge dieser neuen Kultur?

Die Auffächerung des Parteiensystems hat selbst eine singularistische Struktur: Die alten Volksparteien verstanden sich als Sachwalter des Allgemeinen und waren in sich recht gemischt. Von den neuen Parteien, die seit den 1980er Jahren entstanden sind - etwa in Deutschland die Grünen, die Linkspartei und dann die AfD -, erwarten die Anhänger vielmehr ein unverwechselbares Profil, das ihnen Identifikation verspricht. Noch stärker ist der Prozess etwa in den Niederlanden oder in Dänemark. Zugleich ist auch die soziale Basis dieser Profilparteien häufig einheitlicher: Die differenzierte Sozialstruktur verteilt sich damit auf ein entsprechend breites Spektrum von neuen Parteien, die in sich aber jeweils recht homogen sind.

Das Politische in der Spätmoderne kreist nicht mehr um Verteilungsfragen, geht es in Zukunft nur noch um kulturelle Fragen?

Tatsächlich spielt in der Politik der Gesellschaft der Singularitäten Kultur eine verhältnismäßig wichtige Rolle, und zwar auch jenseits der klassischen Kulturpolitik: Fragen der kulturellen Identität haben auf Seiten der Linken - vor allem in Nordamerika - wie der Rechten eine ungewöhnliche Prominenz erhalten. Man kann hier von einer Kulturalisierung der Politik reden. Aber wahrscheinlich wird das nicht das letzte Wort sein. Es gibt ja Gegenbewegungen einer Politik des Allgemeinen, in denen zum Beispiel Verteilungs- und Gleichheitsfragen, aber auch Fragen sozial-kultureller Integration, in anderer Weise eine neue Rolle spielen. Die Herausforderung besteht offenbar darin, das Soziale und das Kulturelle zusammenzudenken. Wem dies nicht gelingt, der wird in der politischen Auseinandersetzung künftig in der Defensive sein.

Zur Person

Andreas Reckwitz, geb. 1970 in Witten, lehrt Vergleichende Kultursoziologie in Frankfurt/ Oder. Sein aktuelles Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" (Suhrkamp Verlag, 480 Seiten, 28 Euro) wurde soeben für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. (ksta)

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