Lesetipps der WocheDiese Bücher empfiehlt Ihnen Elke Heidenreich

Lesezeit 180 Minuten
Die Schriftstellerin sitzt auf einem gelben Sessel. Sie hat die Beine überkreuzt und schaut in die Kamera. Sie trägt eine dunkelrote Jacke.

Die Schriftstellerin Elke Heidenreich im Raum Amadeus in der Wolkenburg in Köln.

Im Kulturteil und in unserem monatlichen Büchermagazin stellen wir Ihnen regelmäßig Neuerscheinungen vor. Doch Lesetipps kann man ja nie genug bekommen, und deshalb freuen wir uns sehr, dass wir eine prominente Vielleserin gewinnen konnten, die Ihnen jeden Samstag einen Buchtipp gibt: Elke Heidenreich.

Die 79-Jährige hat in ihren Funk- und Fernseharbeiten immer schon versucht, Menschen die Freude am Lesen zu vermitteln, vor allem in ihrer Büchersendung „Lesen!“ im ZDF von 2003 bis 2008. Sie gehört zum Kritikerteam im Schweizer Literaturclub, diese Sendungen werden auf 3 Sat wiederholt. Und nun liest sie auch für den „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Ein Buch müsse sie alles um sie herum vergessen lassen. „Es muss zwei Kriterien erfüllen: Die Geschichte muss gut sein und sie muss packend und sprachlich interessant erzählt sein. Hat einer nichts zu sagen, nützt die schönste Sprache nichts. Hat einer eine tolle Geschichte und ist unfähig, sie zu erzählen – auch sinnlos. Wenn beides stimmt, ist es Leseglück!“

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Nele Pollatschek, „Kleine Probleme“ (Galiani)

Jetzt haben wir den Salat: morgen ist Silvester! Und haben Sie etwa alles geschafft, was Sie im alten Jahr unbedingt noch schaffen wollten? Steuererklärung? Kinderzimmer streichen? Hund entwurmen? Irgendwie das Lebenswerk vollenden oder doch wenigstens schon mal beginnen? Nichts davon? Dann aber mal nix wie ran. Das sind doch alles im Grunde „Kleine Probleme“. Die haben viele, die hat auch Lars, Schriftsteller, Ende vierzig, verheiratet, Vater. Das Kinderzimmer sollte er schon seit Jahren streichen, welche Farbe noch mal endgültig nach rosa und gelb? Grün, oder? Und der Abfall muss jetzt wirklich mal rausgebracht werden, und seit genau 16 Tagen hat er den Abwasch nicht gemacht, weil seine Frau verreist ist. Jetzt kommt die aber zurück und erwartet, dass es irgendwie nett ist zuhause. Dass er mal IRGENDWAS auf die Reihe gekriegt hat – Lars krempelt die Ärmel hoch. Er raucht schnell noch eine, dann macht er eine to do Liste und dann sehen wir ihm dabei zu, wie er die fix abarbeitet. Denn er liebt seine Familie, er kann die doch jetzt nicht enttäuschen mit fünfzehn leeren Pizzakartons in der Küche und so… Ach, fast haben wir diesen Chaoten schon wieder gern. Sein Lebenswerk als Schriftsteller kann er vermutlich bis morgen nicht mehr schaffen, aber vielleicht seine Ehe retten. Und dann kommt ja 2024, alles neu, alles gut. In diesem Sinne! Genießen Sie ohne schlechtes Gewissen dieses liebevolle und witzige Buch und fangen Sie einfach am 1. Januar damit an, ein besserer Mensch zu werden. Ist doch das kleinste der Probleme, oder?

Nele Pollatschek, „Kleine Probleme“ (Galiani), 195 Seiten, 23 Euro

Annette Mingels: „Der letzte Liebende“

Ob er wirklich der letzte Liebende war, dieser Carl Kruger, emeritierter Chemieprofessor? Stirbt diese Sorte „alter weißer Mann“ tatsächlich aus? Ach, ich glaube es eigentlich nicht. Es gibt sie doch immer, diese attraktiven Männer, die bis ins hohe Alter flirten, sich für unwiderstehlich halten, immer jüngere Frauen anmachen, ihre eigene Frau lebenslang demütigen und betrügen. Carl Kruger macht das so, er denkt, ihm steht das zu. Seine Frau Helen erträgt es mit stummem Groll, aber eine Krankheit frisst sie auf, sie stirbt.

Und plötzlich ist Kruger einsam, er ist alt, die Frauen reagieren nicht mehr auf ihn, das Verhältnis zu seiner Tochter ist auch nicht gerade gut. Und doch: das ist ein versöhnlicher Roman. Denn Carl Kruger stellt sich dem Altsein, der Vergangenheit, er bemüht sich, noch alles ein wenig in Ordnung zu bringen, mit seinen Brüdern, seiner Tochter, sogar einen vernachlässigten alten Hund nimmt er bei sich auf. Er kann sein Leben nicht zurückdrehen, aber er kann es rückblickend begreifen und zugeben: der Roman, den ein alter Universitätskollege über ihn geschrieben hat und der ihn entsetzt, trifft zu: Er war kein guter Mann.

Am Ende des Lebens kann er sich das eingestehen und es verblüfft und tröstet ihn sogar. Dadurch entspannt sich die Situation, es ist fast so, als würde alles auf den letzten Metern noch gut. Carls Frau ist zwar gestorben und fehlt ihm plötzlich, aber Tochter und Enkel wenden sich ihm zu – Carl Kruger begreift, was Liebe auch sein kann. Was für ein leichter, schöner Roman über das Ende eines Lebens am Ende eines Jahres!

Annette Mingels, „Der letzte Liebende“ (Penguin) 300 Seiten, 24 Euro. 

Charles Lewinsky: „Rauch und Schall“

„Goethe hatte Hämorrhoiden“. Das ist doch mal ein schöner erster Satz, oder? Der Gott steigt vom Olymp herab und ihm juckt der Hintern... Er hat nicht nur Hämorrhoiden, der große Klassiker, er hat auch schlechte Laune, es regnet, die Kutsche kommt nicht vorwärts im Matsch und er will nur noch nach Hause zu seiner Christiane und kuscheln. Kuscheln geht übrigens nur, wenn man Kind und Personal vorher wegschickt, alles nicht ganz einfach, dann aber!

Aber dazu kommt es nicht, und auch sonst jagt ein Drama das nächste: Goethe muss bei Hofe ein Lobgedicht abliefern, man ist, Klassikgott hin oder her, eben doch auch Fürstenknecht, aber Goethe hat eine Schreibblockade. Er kann nicht dichten, ihm fällt nichts ein, und da sagt sein Schwager, der Bruder von Christiane Vulpius, ein schlechter Trivialdichter, den Goethe nicht leiden kann: Exzellenz schreiben aber auch immer so komplizierte hochgeistige Sachen, schreiben Sie doch einfach mal Quatsch, was Leichtes, dann geht's schon wieder!

Und siehe da, das Rezept funktioniert, Goethe schreibt einen kitschigen Räuberroman, „Rinaldo Rinaldini“, Sex and Crime, alles drin, und es macht ihm nach all dem Hochgeistigen richtig Spaß und Schwager Vulpius haut das Fürstengedicht dafür mal eben so hin - alles gut? Nein, jetzt gehen die Verwicklungen erst los. Das ist eine großartige Goetheparodie, in augenzwinkernd ironischem Ton vorgetragen und wirklich lustig - und ein ebenso kluges wie komisches Buch über Kreativität und wie sie funktioniert. Oder eben auch nicht... Und Goethe kommt mal ein ganz kleines bisschen vom Sockel, auch schön.

Charles Lewinsky: „Rauch und Schall“, Diogenes, 304 Seiten, 25 Euro, E-Book: 21,99 Euro.

Susan Fletcher: „Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte“

Der Titelsatz steht erst ganz am Ende, als Jeanne Trabuc ihrem Enkel die Geschichte erzählt, um die es geht. Das Kind fragt: „War das ein netter Mann?“ Und Jeanne sagt: „Ein sehr netter Mann.“ Wir sind im Jahr 1889 in Frankreich, als ein neuer Patient in die Heilanstalt von Saint Rémy eingeliefert wird. Jeannes Mann Charles leitet diese Klinik für Nervenkranke, er wohnt mit seiner Frau in der Nähe, ihre drei Söhne sind erwachsen. Jeanne war einst ein junges Mädchen voller Lebensleidenschaft und Träume, dann hat sie ihre Ehe mit Charles hierher verschlagen - eine gute, freundliche Ehe, aber die Leidenschaft ist daraus verschwunden, und über sowas redet man nicht.

Und jetzt taucht dieser neue Patient auf, ein Holländer mit roten Haaren und rotem Bart, der sich in Arles ein Ohr abgeschnitten hat und psychiatrisch betreut und vor sich selbst geschützt werden muss. Er ist Maler, man erlaubt ihm, draußen in den Feldern und Olivenhainen zu malen, wo Jeanne ihn trifft. Sie sieht ihm zu, ist erschüttert von der Schönheit und Wildheit seiner Bilder, seinen ungestümen Pinselstrichen, und ganz zart bahnt sich eine Freundschaft an. Am Ende malt er sie, und durch die Begegnung mit diesem sensiblen, zerstörten Künstler, in dem Sie natürlich Vincent van Gogh erkannt haben, ändert sich etwas in Jeanne.

Sie wird mutiger und spricht mit ihrem Mann, und da zeigt sich, dass auch er vieles in sich verbirgt, was ihn bekümmert. Und so werden die starken Bilder van Goghs, wird die Kunst zu einem Auslöser für zwei wunderbare Menschen, um ihre Liebe wieder zu finden. Die Trabucs hat es wirklich gegeben, van Gogh hat sie beide gemalt, diese Geschichte hat Susan Fletcher dazu erfunden, und es ist ein zarter und wunderschöner Roman über Geduld, Liebe und die Kraft der Kunst daraus geworden, den Sie unbedingt lesen sollten.

Susan Fletcher: „Lass mich dir von einem Mann erzählen, den ich kannte“, deutsch von Christel Dormage, Insel Verlag, 335 Seiten, 23 Euro, E-Book: 19,99 Euro.

Adam Soboczynski: „Traumland: Der Westen, der Osten und ich“

„Traumland“ - Untertitel: „Der Westen, der Osten und ich“. Ich ist der auf dem Umschlag abgebildete Junge, der Autor. Der Osten ist ein Zuckerbäckerbau aus der Stalinära, der Westen fließt als Rhein an der Loreley vorbei. Und erzählt wird die Geschichte dieses Kindes Adam, das mit sechs Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Deutschland kam, in das „Traumland“. Nicht Amerika sollte es sein, nein, genau dieses Deutschland mit dem damals so dicken Kanzler und seiner merkwürdig romantischen Liebe zu Russland, das die Polen längst ohne jede Illusion sahen.

Wie recht sie hatten, bis hin zum Beginn des Krieges gegen die Ukraine - ohne dass der Autor darauf herumreitet. Lässig erinnert er nur an die rollenden russischen Panzer in Budapest, in Prag, auf der Krim - nun eben die Ukraine, was hatten wir erwartet? Es ist ein höchst elegantes und leicht zu lesendes Sachbuch über unser Land, ein Buch, das kritisch ist und doch nie auftrumpft mit Urteilen und Einordnungen. Erzählt wird einfach nur, wie es war, aus Polen, dem Land der Opfer, nach Deutschland, ins Land der Täter zu ziehen.

Dieses Land Niemcy, schreibt Soboczynski, war nicht einfach nur ein anderes Land, „sondern eine andere Welt, eine andere Zeit.“ Aber: „Mit Kinderaugen war Niemcy ein Paradies, mit der ersten Akne ein Problem.“ Äußerst scharfsinnig seziert er die goldenen Jahre der Bundesrepublik, die nach und nach in die Enttäuschung rutschten, mit der wir jetzt leben müssen. Aber: es lohnt sich, für unsere westlichen Werte zu kämpfen, und die bedeuten nicht etwa nur das „funkelnde Nichts“ des Kapitalismus - auch das sagt dieses kluge Buch.

Adam Soboczynski: „Traumland: Der Westen, der Osten und ich“, Klett Cotta, 176 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15,99 Euro

Brigitte Giraud: „Schnell leben“

Für dieses Buch erhielt Brigitte Giraud im vergangenen Jahr den höchsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. Sie erzählt darin nach zwanzig Jahren vom Unfalltod ihres Mannes, damals, drei Tage ehe sie mit dem gemeinsamen Sohn in ein altes Traumhaus ziehen wollten. Nun musste sie mit dem Kind allein umziehen, renovieren, die Finanzierung stemmen, den Kummer bewältigen, und erst jetzt, wo das Haus abgerissen wird und einer Straße weichen muss, erst jetzt stellt sie sich den so lange verdrängten Fragen und arbeitet sie eine nach der anderen ab: Was wäre gewesen, wenn sie dieses Haus nicht gekauft hätten, wenn er nicht an dem Tag das Motorrad seines Bruders ausprobiert hätte, wenn sie nicht gerade dann in Paris gewesen wäre, wenn es schon Mobiltelefone gegeben hätte, wenn sie ihn angerufen hätte, was wäre wenn...

So viele Wenns, die sich zu einem schicksalhaften Unfall zusammenballen, als könne man je das Schicksal lenken, abwenden, herausfordern oder auch nur verstehen. Zumindest ums Verstehen bemüht sich die Autorin nun, nach all diesen Jahren und sie kann endlich mit diesem Unfall ihren Frieden machen. Das Buch ist kein großes Lamento, sondern eine ruhige, kluge und leise Rückreise in die Vergangenheit und ihren großen Verlust.

Das Wenn und Aber, die Möglichkeiten und Nichtmöglichkeiten bedenkt Giraud rundum und gründlich und hat damit einen sehr berührenden Roman geschrieben, ein tragfähiges Netz der Erinnerungen gewebt, mit dem sie nun endlich leben kann. Und darum ist dies nicht nur ein Buch über den Tod, sondern auch ein Dank an das Leben. Es leuchtet.

Brigitte Giraud: „Schnell leben“, deutsch von Michael Kleeberg, Frankfurter Verlagsanstalt, 200 Seiten, 24 Euro, E-Book: 18,99 Euro.

Erwin Grosche/Gennadi Isaak: „Weltlexikon zwo“

Können Unsichtbare Unsichtbare sehen? Darf man während der Arbeit Panflötenmusik hören? Kann man Hühner gernhaben? Was macht Gott hauptberuflich? Das sind die großen Fragen der Menschheit, und dieses Weltlexikon beantwortet sie, schön alphabetisch von A (Machen Sie mal aaah, sagt doch der Arzt immer, um dann von oben zu sehen, dass der Blinddarm entzündet ist) bis Z wie „Zweite“: das zweite Stück eines Kuchens, der nicht schmeckt, schmeckt immerhin besser als das erste, weil die Erwartungshaltung nicht mehr so hoch ist. Ich kenne Weltlexikon eins nicht, aber mit zwo bin ich auch sehr zufrieden, weil es mir hilft, Wege durch den Irrgarten des Lebens zu finden.

Erwin Grosche, der ernsteste aller Komiker, weist den Weg, Gennadi Isaak steuert enorm phantasievolle Bilder bei, und wer heute am 11.11. nicht ins Getümmel will, soll sich mit diesem Buch auf sein Sofa setzen. Da gibt es für alles eine Erklärung: „Apfelbäume. Man vermutet ja Apfelbäume eher links, manchmal stehen sie aber auch rechts.“ Ach so! Dann wäre das jetzt ja auch geklärt. Und weiß Erwin auch was zur ewig unergründlichen Liebe? Erwin weiß: „Wenn mich alle so lieben würden wie mein Hund, wäre mir das doch ein bisschen zu viel.“ Erwin weiß zu allem was, mal ernst, mal komisch. Ich glaube, meine Lieblingserklärung ist die zu „Paradies“: „Für das Paradies sollte man ein wenig Zeit einplanen. Das erschließt sich nicht an einem Tag. Wenn man Pech hat, regnet es auch gerade und irgendwo steht ein Mann und sagt: Hier herrscht Helmpflicht.“ War ja klar.

Erwin Grosche/Gennadi Isaak: „Weltlexikon zwo“. (Verlag Akademie der Abenteuer) 240 Seiten, 28 Euro.

Mary Miller: „Biloxi“

Biloxi gibt es wirklich: es ist eine kleine Stadt im Bundesstaat Mississippi, im Golf von Mexiko gelegen und 2005 durch Hurrikan Katrina fast vollständig zerstört. Aber man baut wieder auf und wurschtelt sich irgendwie durch, und so wurschtelt sich auch Louis McDonald Junior, der Ich-Erzähler, in diesem Biloxi durch. Er ist ein Mann von 63 Jahren, dem klare Entscheidungen für sein Leben schwerfallen. Seine Frau hat ihn verlassen, der Kontakt zu Tochter und Enkelin ist dürftig, seinen Job hat er gekündigt, weil er eine Erbschaft nach Louis McDonald Seniors Tod erwartet - aber diese Erbschaft kommt und kommt nicht und das Geld wird knapp.

Louis müsste längst mal seine Diabetes-Tabletten im Drugstore abholen, und hatte er sich nicht das Saufen eigentlich abgewöhnt? Ja, schon, aber alles ist so langweilig und darum fängt er wieder damit an. Und dann sieht er an einer Straße ein Schild: Hunde zu verschenken.

Er hält an, trifft auf einen zwielichtigen Mann und einen ziemlich gestörten Hund, den er Layla nennt und mitnimmt. Es stellt sich heraus, dass dieser Hund ein Frauchen hatte, das ihn zurückhaben will - und nun wird die Lage immer verworrener, und wir geraten in ein Durcheinander aus Schlamperei, Inkompetenz und Sinnlosigkeit - es ist ein Porträt der trostlosen Provinzen Amerikas, in denen nichts mehr richtig läuft. Und wie nah oft alles am Ausbruch von Gewalt ist, das haben wir ja gerade durch den Massenmörder in Maine wieder erlebt.

Mary Miller schreibt lakonisch, mit Witz und genauem Blick. Wer sich nicht aufrafft, ist verloren. Könnte sein, dass Louis McDonald Junior es sogar noch mal schafft!

Mary Miller: „Biloxi“, aus dem Amerikanischen von Stefanie Jacobs und Nadine Mutz, Weissbooks, 295 Seiten, 24 Euro.

Margaret Laurence: „Das Glutnest“

Elke Heidenreich liest;Stacey, Hausfrau, vier Kinder, ständig abwesender Mann, denkt über sich nach: „Alles wäre gut, wenn ich nicht so doof wäre. Wäre ich gebildeter, meine ich. Oder schön. Gut, das wär jetzt ein bisschen viel verlangt. Sagen wir, wenn ich ungefähr fünf Kilo abnehmen würde. Hör zu, Stacey, mit neununddreißig, nach vier Kindern, kannst du nicht verlangen, auszusehen wie eine Nymphe.“ Haben Sie nicht auch sofort Lust, diese Stacey kennenzulernen? Dann lesen Sie diesen Roman der kanadischen Autorin Margaret Laurence, von der ich Ihnen hier schon mal ein Buch vorgestellt habe: „Der steinerne Engel“, da ging es um eine böse alte Frau, die partout nicht sterben wollte.

Was für eine Erzählerin! Immer wieder führen ihre Romane in die fiktive Kleinstadt Manawaka, in der wir alles an gescheiterten Lebensträumen, heimlichen Leidenschaften, an Sehnsucht und Bosheit finden, was unter Menschen nur denkbar ist. Diesmal folgen wir Stacey, die sagt: „Mein Innenleben und mein Außenleben sind nie deckungsgleich. Es ist eine Krankheit, die ich mir irgendwo eingefangen habe.“ Diese Krankheit kennen wir sicher alle, aber je älter man wird, desto mehr heilt sie und man ist zufriedener mit seinem Leben. Das würde ich Stacey gern sagen, aber sie ist nun mal „nur“ eine Romanfigur, und was für eine hinreißende!

Und ihr Mann ist eigentlich auch in Ordnung, aber er gerät da in eine etwas fatale berufliche Abhängigkeit, und Stacey in eine fast fatale Affäre - ach, das Leben, manchmal genügt ein Funke und alles steht in Flammen - ein Glutnest. Und irgendwann begreift Stacey: „Jetzt seh ich ein, dass ich bis an mein Lebensende sein werde, wie ich bin.“

Margaret Laurence: „Das Glutnest“, deutsch von Monika Baark, Eisele, 368 Seiten, 25 Euro, E-Book: 19,99 Euro.

Florian Illies: „Zauber der Stille: Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten“

In diesem Buch geht es um den berühmtesten Maler der deutschen Romantik, um Caspar David Friedrich, dessen 250. Geburtstag im kommenden Jahr schon jetzt mit Ausstellungen und Büchern gefeiert wird. Der Untertitel lautet: „Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten“, und diese Reise dauert bis heute an, denn seine düsteren, gewaltigen Bilder haben uns heute mehr denn je etwas zu sagen. Romantisch? Ganz bestimmt nicht. In der Romantik begann sie ja, die Entfremdung des Menschen von der Natur durch beginnende Industrialisierung. Friedrich malt Sehnsuchtsbilder, Menschen (immer von hinten), die in eine dunkle, abgründige Landschaft blicken, ein Schiff, das von Eismassen zermahlen wird, düstere Waldränder.

Illies erzählt auf seine wunderbar leichte Weise vom Leben dieses Malers, dessen Bilder immer wieder verbrannten – auf Ausstellungen, in Kriegen, längst ist nicht mehr alles erhalten, aber was da ist, ist überwältigend. Das Buch ist eingeteilt in vier Kapitel nach den vier Elementen: Feuer, Wasser, Erde, Luft: die Bilder verbrennen, das Wasser zieht den Maler immer an, die Erde ist für ihn wichtig, er wandert und schaut in die Luft und malt die Wolken. Ja, das ist eine kluge, wunderbare Zeitreise und wir reisen mit, bezaubert davon, wie Illies es mit wenigen Sätzen schafft, ganze Epochen lebendig werden zu lassen. Jedes Bild erzählt von der Sehnsucht – Goethe konnte das nicht ertragen, Walt Disney hat es für Bambis Wald benutzt, Hitler hat die Bilder geliebt, Stalin hat sie gehasst, und wir verlieben uns auf der Stelle in den Maler und das Buch.

Florian Illies: „Zauber der Stille: Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten“, S. Fischer, 256 Seiten, 25 Euro.

Étienne Kern: „Die Entflogenen“

„4. Februar 1912, früher Morgen. Um die dreißig Menschen hatten sich vor dem Eiffelturm versammelt. Polizisten, Journalisten, Neugierige. Alle blickten empor zur Plattform der ersten Etage. Von dort oben betrachtete sie ein Mann, der einen Fuß auf das Geländer gesetzt hatte. Ein Erfinder. Er war zweiunddreißig Jahre alt. Er war weder Ingenieur noch Wissenschaftler. Er war Damenschneider. Sein Name war Franz Reichelt.“ So beginnt dieses schmale schöne Buch, und will man da nicht sofort weiterlesen, was es mit diesem Franz Reichelt auf sich hat? Er kam aus Böhmen und er hatte es geschafft, in Paris erfolgreich zu werden.

Aber seine Träume gingen über das Schneidern hinaus: Franz Reichelt wollte fliegen, und er war überzeugt davon, dass sein selbstgebauter Fallschirm das möglich machen würde. Sein missglückter Flug am 4. Februar 1912 vom Eiffelturm und sein Sturz aus 56 Metern Höhe ist eines der ersten erhaltenen Fotos, ein trauriger Beweis: es hat nicht funktioniert. Es ist das erste Foto überhaupt, das den Tod eines Menschen festhält, und es hat Étienne Kern nicht losgelassen. Er erzählt liebevoll und mit fast altmodischer Langsamkeit vom Träumen, vom Scheitern, von einer Besessenheit: wo ist die Grenze im Leben zwischen wagemutig und waghalsig? Franz Reichelt ist besessen von seinem Traum, fliegen zu können - dabei ist ihm gerade eine neue Liebe geschehen, die doch lebenswert wäre. Der Autor verwebt Reichelts Geschichte ganz zart mit seiner eigenen, die auch vom Verlust einer Liebe erzählt. Ein leises, liebevolles Buch zum Staunen.

Étienne Kern: „Die Entflogenen“, deutsch von Elmar Tannert, Ars Vivendi, 176 Seiten, 20 Euro, E-Book: 12,99 Euro.

Jan Costin Wagner: „Einer von den Guten“

Jan Costin Wagner hat einen Roman über ein - ja: Monster geschrieben, das kein Monster ist, sondern „Einer von den Guten“. Das ist eine Geschichte, die sehr an die Nieren geht, aber sie ist ebenso klug wie wuchtig und zart erzählt. Es geht um Kindesmissbrauch, ein Thema, das uns alle seit Jahren unentwegt erreicht, bekümmert, beschämt. Adrian ist ein minderjähriger Flüchtlingsjunge, der von Vater und Onkel auf einem Parkplatz in Dortmund zur Prostitution gezwungen wird, um Geld zu verdienen. Ben Neven ist ein sympathischer Familienvater und ein guter Kriminalpolizist, der genau solche Delikte aufklären soll. Und diesen unbescholtenen, sympathischen Ben Neven treibt es alle paar Wochen dazu, die 200 km von seinem Wohnort nach Dortmund zu fahren, um Adrians sexuelle Dienste in Anspruch zu nehmen.

Was für ein fürchterlicher Konflikt zwischen Schuld, Verantwortung und Begehren, und man kann nur bewundern, wie der Autor es schafft, allen Beteiligten gerecht zu werden. Er versucht zu begreifen, wie weit Begehren einen Menschen treiben und verstricken kann. Ben vertraut sich sogar einem alten Freund an, und Adrian lernt ein Mädchen aus einer Familie kennen, die sich um ihn kümmert, er kann ein neues Leben beginnen.

Und Ben Neven muss mit seiner Schuld fertig werden - er braucht dringend Hilfe. Er ist eben kein Monster, sondern ein Kranker, aber einer von den Guten ist er auch nicht. Was für ein beklemmender Roman über ein beklemmendes Thema, und wie gut, dass ein Autor sich nicht scheut, dieses Thema aufzugreifen.

Jan Costin Wagner: „Einer von den Guten“, Galiani, 202 Seiten, 23 Euro.

Charlotte Wood: „Tage mit mir“

Charlotte Wood hat uns vor einiger Zeit mit dem Roman „Ein Wochenende“ über lauter zerstrittene Freundinnen viel Spaß gemacht. Jetzt schickt sie ein sehr leises Buch hinterher, es heißt „Tage mit mir.“ Wir können die Ich-Erzählerin mit der Autorin gleichsetzen, auch wenn „Roman“ draufsteht. Hier erzählt eine Frau davon, wie sie für einige Zeit Mann, Beruf, Freundeskreis, ihr ganzes Umfeld verlässt und sich in ein Kloster zurückzieht, um zur Ruhe zu kommen. Die viele Beterei, die Kargheit des Lebens, das frühe Aufstehen und Schlafengehen, all das ernüchtert und befremdet sie zunächst, aber allmählich wird sie ruhiger und findet, was sie gesucht hat: sich selbst.

Sie kehrt nach einiger Zeit verwandelt und erfrischt nach Hause zurück - um dann plötzlich alle Brücken abzubrechen und tatsächlich ganz in dieses einsam gelegene Kloster zu ziehen. Viel mehr passiert nicht in diesem Buch, aber es ist faszinierend zu lesen, wie diese Frau, die gar nicht religiös ist, langsam lernt, Stille auszuhalten, bis die Stille beglückend wird - so sehr, dass ein Laubbläser sie geradezu fassungslos macht. Sie beobachtet die Nonnen, denkt über deren Motive und Leben nach und dringt in dieser Ruhe immer tiefer in ihre eigenen Erinnerungen ein. Sie setzt sich mit dem Älterwerden auseinander, mit Verlusten und man hat das Gefühl, dass sie wahrscheinlich gar nicht mehr in das zurückgehen wird, was mal ihr Zuhause war. Wir sehen ihr bei diesem Loslösungs- und Findungsprozess zu und freuen uns darüber, dass es in unruhigen Zeiten mit so viel Geschwätz ein derart leises, persönliches Buch gibt.

Charlotte Wood: „Tage mit mir“, deutsch von Michaela Grabinger, Kein und Aber, 256 Seiten, 25 Euro, E-Pages: 18,99 Euro.

Jane Campbell: „Kleine Kratzer“

Das Buch ist ein echter Knaller. Eine 80-Jährige hat es geschrieben und es handelt von 80-Jährigen. Ein Buch für alte Damen also? Keineswegs! Jane Campbell, die ihr Leben lang als Psychotherapeutin gearbeitet hat und die Menschen kennt, war es leid, dass alte Frauen in der Literatur immer nur von ihren Töchtern und Söhnen beschrieben werden als liebe Omi, demente Mutter, alte Frau, um die man sich kümmern muss. Als säßen wir alle demütig strickend in der Ecke und würden nur noch die Katze streicheln!

Klar lassen gewisse Kräfte im Alter nach, aber diese dreizehn großartigen Geschichten zeigen, dass alte Frauen genau wie junge hassen und lieben können, Intrigen spinnen, sehr lebendig sind in ihren Wünschen und im Handeln, und wer sein Leben lang vorwärts gestürmt ist, legt auch im Alter keinen Schongang ein - ich weiß, wovon ich spreche, ich bin 80! Das Leben ist jeden Tag noch da und wird gelebt bis zuletzt, und so erzählen diese Geschichten von Liebe und Bosheit, Freude, Zorn, vom Alleinsein, was nicht unbedingt Einsamsein bedeuten muss und letztlich: von der Lebensfreude bis zum Schluss. Das unterschätzte Alter ist nicht etwa nur eine Ansammlung von Verlusten, sondern - je nachdem, was wir daraus machen - eine großartige Zeit, in der man niemandem mehr irgendwas beweisen muss. Unsere Vergangenheit mit allem Guten und allem Bösen ist in unsere jetzige Gegenwart eingewebt - das macht ein Leben reich bis zum Schluss. Alter ist so viel mehr als Noch-nicht-tot-Sein! Und dann? Wer weiß das schon!

Jane Campbell: „Kleine Kratzer“, dt. von Bettina Abarbanell, Kjona Verlag, 192 Seiten, 23 Euro.

Reinhold Beckmann: „Aenne und ihre Brüder“

Reinhold Beckmann, den wir als Talkshow- und Sportmoderator aus dem Fernsehen kennen, hat ein sehr bewegendes Buch geschrieben. Er erzählt in „Aenne und ihre Brüder“ die Geschichte seiner Mutter, die ihre vier Brüder in Hitlers Krieg verloren hat: Hans, Franz, Alfons und Willi.

Anhand ihrer Briefe und vieler Recherchen hat Beckmann zusammengetragen, was wann vermutlich wo passierte – so ganz lässt es sich nicht mehr auflösen. Aber er kommt der Hölle, durch die diese vier Männer (wie Millionen andere) gehen mussten, sehr eindringlich nahe. Über die private Geschichte der vier Onkel hinaus zeichnet das Buch ein Bild dieses Krieges, das dem Krieg, den wir gerade in der Ukraine miterleben, grauenhaft ähnelt. Das sinnlose Sterben der Männer, Verwüstung von Landschaften und Leben, und die Frage, warum das alles nie mal aufhört, als wäre unsere Welt nicht schon gefährdet genug.

Die Onkel haben zum Teil auch an Hitler geglaubt, wie so viele damals, aber schon 1941 wusste Franz, dass er in der Hölle gelandet war und schrieb das auch in seinen Briefen – was sehr gefährlich war. Das Buch ist auch als die Chronik einer Zeit zu lesen, über die unsere Eltern nie mit uns gesprochen haben. Der große Irrtum, dem sie alle aufgesessen sind, wurde einfach totgeschwiegen. Reinhold Beckmann hat aus allem, was an Erinnerungen noch da war, eine lesenswertes Buch gemacht und auch einen berührenden Song geschrieben: „Vier Brüder“ heißt er. In der Kölner Philharmonie hat er ihn während der letzten LitCologne gesungen, und es war totenstill im Publikum, die Gänsehaut zu spüren.

Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder (Propyläen) 345 Seiten, 26 Euro.

Castle Freeman: „Treue Seele“

Ich glaube, dreimal habe ich Ihnen hier schon die schmalen Bücher von Castle Freeman vorgestellt! Ich hoffe, er ist Ihnen inzwischen so ans Herz gewachsen wie mir, denn es gibt ein neues:  „Treue Seele“, und es spielt wie immer in dieser trostlosen Kleinstadt von Vermont, wo unfassbar seltsame (und witzige) Typen leben. Wieder ist das ganze Kleinstadtpersonal versammelt, die Guten und die Bösen, die Glücklichen und die Unglücklichen und auch Sheriff Wing taucht wieder auf und drückt hier und da ein Auge zu.

Aber eigentlich ist es diesmal eine grandiose Liebesgeschichte. Es geht um Lucy, die so schön ist, dass man sich Sorgen machen muss. Aber zum Glück hält ein älterer Mann namens Port von ferne ein wenig seine schützende Hand über Lucy. Er stammt nicht aus diesem Kaff, er ist gebildet, kommt aus guter Familie (sehr komische Familie, die lernen wir zum Teil auch kennen).  Lucy gerät natürlich auch an die ganz bösen schweren Jungs, und doch geht alles gut aus - wie, das wird schon ganz am Anfang auf der ersten Seite verraten, ehe die Geschichte als Rückblende erzählt wird.

Trotzdem bleibt es spannend, denn Castle Freeman erzählt wie immer fast nur in Dialogen, und diese Dialoge sind so flott, so lebensnah, so witzig und schlagfertig, dass ich die ganze Zeit das Gefühl habe, ich sitz im Kino und sehe einen Film. Sheriff Wing hat dieses Mal nicht sooo viel zu tun, weil es doch mehr um Liebe als um die schweren Jungs geht, mit denen Lucy sich einlässt, aber auch, weil schließlich Port da ist- diese treue Seele mit Absichten. Ein echter Knaller.

Castle Freeman, „Treue Seele“ (Hanser) 222 Seiten. 23 Euro. 

Richard Ford: „Valentinstag“

Einer der großen amerikanischen Erzähler ist Richard Ford. Er war, ehe der Durchbruch als Schriftsteller kam, Sportreporter – und der Durchbruch kam mit einem Roman namens „Der Sportreporter“ (1986). Die Hauptperson ist Frank Bascombe, ein Durchschnittsamerikaner, der an zwei Ehen scheitert, mit seinen Kindern nicht so richtig klarkommt, vom Sportjournalismus zum Immobilienmakler wechselt und dem wir danach noch durch zwei weitere Romane gefolgt sind, immer in der Ich-Form erzählt, ein endloser, hoch unterhaltender Monolog.

Jetzt erschien der fünfte und wohl letzte: „Valentinstag“. Frank ist 74 Jahre alt und mit seinem Sohn Paul, Mitte 40 und sterbenskrank, auf einer Tour im Wohnmobil zum Mount Rushmore unterwegs, um ihm die vier in Stein gehauenen Präsidentenköpfe zu zeigen, und die entlocken dem ewig griesgrämig mäkelnden Paul tatsächlich mal ein „Oh, wow.“ Der Roman ist großartig: Er schildert die amerikanische Provinzhölle mit Hotelbruchbuden und idiotischen Vergnügsmeilen, eine hoch effiziente Mayo Klinik, die aber auch nicht mehr helfen kann, wenn es ans Sterben geht und einen Vater, der endlich mal alles richtig machen will.

Schon in „Unabhängigkeitstag“ (1995) war Frank mit Sohn Paul unterwegs, die Reise wurde ein Desaster, und hier nun reden sie über Tod und Leben und was eigentlich alles schieflief. Man muss die andern vier Bascombe-Romane nicht kennen, um den hier zu genießen, aber wenn man sie kennt und all die Figuren aus Haddam/New Jersey wiederfindet, ist das Lesevergnügen noch größer. Dabei geht es ums Sterben – aber so lakonisch haben wir das noch nie gelesen.

Richard Ford, „Valentinstag“  (Hanser Berlin)  380 Seiten, 28 Euro.

Hilary Mantel: „Sprechen lernen“

Die englische Schriftstellerin Hilary Mantel, die 2022 starb und für ihr Riesenwerk über Cromwell gleich zweimal mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, hat großartige Texte über das Schreiben hinterlassen, die in dieser Woche erstmal veröffentlicht wurden. Es sind aber keine Essays, sondern Erzählungen, in denen es um Kindheit und Jugend geht, um die Zeit, in der man sprechen, lesen, denken und eben auch: schreiben lernt.

Die Geschichten haben mit Erfahrungen der Autorin zu tun, sind aber, betont sie im Vorwort, nicht unbedingt autobiographisch, aber: „Es gibt einen verhandelbaren Halbschatten.“ All diese Erzählungen, sagt Mantel, seien aus dem Nachdenken über ihre frühen Jahre entstanden, über ihre Jugend in einer englischen Kleinstadt mit einfachen kleinen Häusern und rußgeschwärzten Textilfabriken. Da lebte sie mit ihrer Mutter, die ihren Geliebten mit ins Haus holte, und da wohnte man dann mit dem Vater zusammen unter einem Dach- was für ein Skandal.

All das spielt in diesen Erzählungen eine Rolle, nichts wird genau belegt, aber man ahnt den Blick des klugen jungen Mädchens auf Lebensentwürfe, die falsch oder zerbrechlich sind, und, schreibt sie, „der Käfig meiner Rippen schloss mein Herz wie einen Hummer in seinem Korb ein.“ Um zu zeigen, wie fabelhaft Mantel schreibt, muss ich nur diesen Absatz zitieren: „Es sollte Hilfsangebote, schrittweise Programme für junge Leute geben, die es hassen, jung zu sein. Erst später sieht man die Jahre als verloren an. Hätte es eine Jugend sein sollen, wünschte ich heute, ich hätte sie vergeuden können.“

Hilary Mantel, „Sprechen lernen“ (Dumont) 157 Seiten. 22 Euro-

Maria Borrély: „Mistral“

Mit Maria Borrély wird hier eine fast vergessene französische Schriftstellerin wiederentdeckt, die eine ganz bemerkenswerte Erzählstimme hat. Ein Nachwort der Übersetzerin Amelie Thoma erzählt uns mehr über sie, die 1890 geboren wurde, Lehrerin war, 1963 starb und 1929 diesen kleinen – ja: Liebesroman schrieb. Er spielt in der Haute-Provence, über deren Wälder, Dörfer, Schluchten und Lavendelfelder der Mistral bläst, ein trockener, die Menschen verwirrender Wind.

Zunächst geschieht nicht viel - wir tauchen ein in den Arbeitsalltag der Bauern mit seinen vielen täglichen Ritualen, und wir lernen Marie kennen, ein besonders schönes Mädchen. Wir erleben, wie Marie sich verliebt in Olivier, der sie heiß küsst und plötzlich wieder verschwindet, um eine reiche Großgrundbesitzertochter zu heiraten. Wie das erzählt wird! Es scheint, als litten Wind, Bäume, der Himmel mit Marie.  „Tagsüber ging es noch einigermaßen. Aber in der Nacht. Und immer dieser Wind. Ein Wind, der kirre macht. Bleischwer, betäubt.“

Zerbricht sie daran? Die Sprache, die Maria Borrély für die Landschaft, die Menschen und ihre Gefühle findet, ist geradezu farbig, mit starken Naturbeschreibungen und unerhört schönen, poetischen Sätzen. Das ganze Buch ist wie ein zeitloses Gemälde, eins von Monet vielleicht, in wunderbar hingetupften Farben. Der Dichter André Gide lobte es in einem Brief an die Autorin „eine außerordentliche Knappheit, ein Reichtum an Farben, ein eigentümlicher Klang, eine unmittelbare Kraft bis in die kleinsten Sätze der Dialoge…“ Ja, genau das ist es. Eine reine kostbare Lesefreude, ein Juwel.

Maria Borrély, „Mistral“ (Kanonn Verlag) 127 Seiten, 20 Euro.

Valery Tscheplanowa: „Das Pferd im Brunnen

Eine junge Frau fährt mit 17 Jahren in das Russland ihrer Vorfahren auf der Suche nach der verlorenen Sprache, der verlorenen Familie. Es braucht ein wenig Geduld, bis man die Frauen – es geht vor allem um Frauen -auseinanderhalten kann: da ist Tanja, deren Mann im Krieg gefallen ist; ihre Tochter Nina, deren Mann sich mit Eiern und Butter einen Herzinfarkt angefressen hat; deren Tochter Lena, die Trümmer der Sowjetunion haben ihren Mann unter sich begraben.

Die Frauen waren es, die alles am Leben und Laufen hielten in einem Land, das zerfällt. „Manchmal scheint es, als dürfte nur ein ganz kleiner Teil der russischen Bevölkerung in der Gegenwart leben, der Rest ist verdammt dazu, einen sozialistischen Schwarzweißfilm zu bewohnen“, schreibt die Schauspielerin Valery Tscheplanowa, die hier ihren ersten Roman geschrieben hat. Es ist ein Buch voller Wehmut und mit wunderbaren Sätzen wie „Ich glaube, Sterben ist wie ein verlorener Zahn, gestern Abend hatte man ihn noch, und heute Morgen wurde er gezogen, das ist alles.“

Soviel Lakonie - und nur so lassen sich wohl Leben ertragen, in denen alle Träume platzen und es nur noch ums Überleben geht. Aber die Schmerzen bleiben, die Kinderschmerzen, oder „vergehen sie rechtzeitig, bevor das Greisenalter sie überholt?“ Weil Tscheplanowa nicht chronologisch erzählt, sondern die Leben der Frauen miteinander verknüpft, begreifen wir: es ist der immer gleiche Kreislauf von Leben, in denen Glück nicht vorgesehen ist. Dass das trotzdem kein trauriger Roman ist, liegt an der poetischen Sprache dieser neu entdeckten Autorin.

Valery Tscheplanowa, „Das Pferd im Brunnen“ (Rowohlt) 190 Seiten.  22 Euro. 

Tine Melzer: „Alpha Bravo Charlie“

Was für ein seltsamer Titel… Erst im Laufe der schmalen Lektüre kommen wir dahinter, was er bedeutet: Es ist das Buchstabieralphabet der Piloten, ABC, Alpha Bravo Charlie. Und Pilot war der Mann, um den es geht, Johann Trost. Korrekt, zuverlässig, präzise. Und nun? Geschieden, pensioniert, einsam. Wohin mit all dem, was er mal gelernt hat?

Immer noch zieht er sich jeden Morgen äußerst korrekt an, immer noch teilt er seine Zeit akkurat ein. „Es tut mir leid, dass ich mein früheres Leben vermisse, aber es ist niemand da, den das stört. Selbst Alleinsein ist ein pelziger Zustand.“ Mögen wir ihn, diesen Mann mit all seinen Marotten? Er tut uns ein bisschen leid, aber wir können auch nicht aufhören, weiterzulesen: er, der die Welt jahrzehntelang kleinklein von hoch oben aus dem Cockpit gesehen hat, er kauft sich jetzt Miniaturlandschaften, winzige Häuser, Wälder, Menschen und baut nach, was ihm fehlt.

Sonst hat er nichts zu tun, und wenn er am Spiegel vorbeigeht und sich sieht, erschrickt er schon, so einsam ist er geworden. Auch die Uniform fehlt ihm – die hat ihn früher zu etwas gemacht. Wer ist er jetzt? Ein unsichtbarer alter Mann. Tine Melzer erzählt aus der Innensicht von Johann Trost mit feinem Gespür und Witz, und er wird uns immer sympathischer, ihr verlorener Held, der einmal denkt: „Ich fürchte, ich habe einen weiteren nutzlosen Tag angerichtet.“ Es ist eine feine Erzählung über das, was einem Leben Sinn gibt. Und der Schluss des Buches ist eine fabelhafte Volte und zeigt alles noch mal in ganz anderem Licht. Eine Entdeckung!

Tine Melzer, „Alpha Bravo Charlie“ (Jung und Jung) 125 Seiten, 21 Euro.

Jakob J. Kena: „Appalachian Trail“

Dies ist ein Buch für Leute, die lieber lange Strecken laufen als dicke Bücher lesen. Aber es ist ein Buch übers Laufen: das Langstreckenwandern. Gut, das ist jetzt keine Weltliteratur, aber es findet seine Liebhaber, und auch ich habe gestaunt: wussten Sie, wie viele Langstrecken-Wanderwege es für Unerschrockene gibt? Einer führt von Portugal bis Ungarn, 6100 km! Ein anderer mit 6300 km von Finnland in die Türkei, und im Great Himalaya Trail geht es nicht um Gipfelbesteigungen, sondern um 4500 km Fußmarsch quer durch den Himalaya.

Wer macht sowas? Zum Beispiel Jakob J. Kenda, ein Slowene, der sich den Appalachian Trail ausgesucht hat. Da geht es 3500 km geradeaus mit einem Gesamtanstieg von 142 km, das wäre siebzehnmal auf den Mount Everest… und es dauert etwa sechs Monate. Der Trail durchquert 14 US-Bundesstaaten von Georgia bis zur kanadischen Grenze, und Kenda ist ihn gegangen und erzählt auf über 500 Seiten davon. Das liest sich ebenso verrückt wie spannend.

Warum tun sich Menschen sowas an? Man weiß, dass man Bären, Schlangen, Wölfen begegnet und sogar Mördern, die einsamen Wanderern auflauern - seit 1974 wurden auf dem Appalachian Trail elf Morde verübt. Man kann krank werden, es ist keine Hilfe in der Nähe, nur ab und zu eine einfache Schutzhütte und man geht mit schwerem Rucksack 40, 50 km am Tag. Es ist ein Buch über eine Welt, die ich überhaupt nicht kenne – aber das ist schließlich ein Grund, weshalb wir lesen, oder? Und wer Interesse an solchen Extremsportarten hat, der wird hier liebevoll, detailgenau und spannend bedient und lernt auch viel über die amerikanische Realität.

Jakob J. Kena, „Appalachian Trail“ (Drava) 512 Seiten, 21 Euro.

Brendan Behan, „Frau ohne Rang und Namen“ (Wagenbach) 135 S.   22.-

Hundert Jahre alt wäre er in diesem Jahr geworden, der irische Dichter Brendan Behan, wenn er sich nicht schon 1964 mit nur 41 Jahren zu Tode gesoffen hätte. Er entsprach genau dem Klischee des Iren: klug, gerissen, bereit zur Gewalt, alkoholsüchtig. Mit drei konnte er lesen, mit acht war er Mitglied der IRA, mit vierundzwanzig hatte er schon ein Drittel seines Lebens in Gefängnissen und Besserungsanstalten verbracht.

Mit sechzehn wurde er das erste Mal verhaftet, im Gefängnis schrieb er, und seine brillanten, bösen, witzigen Erzählungen, die uns in den 60er Jahren heilig waren, wurden jetzt in der schönen roten Leinenreihe vom Wagenbach Verlag endlich neu aufgelegt. Der Titel hat‘s schon in sich: „Frau ohne Rang und Namen.“ So heißt eine der Erzählungen, in der die angebliche Geliebte des Vaters, den man gerade begraben hat, verhärmt und traurig an der Theke steht und ein Gläschen trinkt- man hatte sie sich wer weiß wie aufgedonnert vorgestellt, und nun sowas.

Alle Geschichten handeln letztlich vom Alkohol, meine liebste ist die von Mrs Murphy, die morgens von ihren Freunden abgeholt wird: sie soll endlich ins Altersheim ziehen. Aber auf dem Weg dahin kann man ja noch ein Gläschen nehmen, ach, und noch eins in der Stammkneipe, und wenn man schon mal dabei ist…schließlich kommt man endlich nachmittags am Heim an und die Heimleiterin rümpft die Nase: sind Sie etwa betrunken? Hinaus! Und Mrs Murphy sagt: „Wo meine Freundinnen nicht willkommen sind, da lass ich mich nicht nieder.“ Und fährt vergnügt wieder nach Hause. Gerade noch mal gut gegangen!

Brendan Behan, „Frau ohne Rang und Namen“ (Wagenbach) 135 Seiten,   22 Euro. 

Jean de la Fontaine: Das große Fabel-Buch

Ich gebe zu: heute ist nicht der 400. Geburtstag des großen Fabeldichters Jean de La Fontaine, es ist schon der 402. Am 8. Juli 2021 wurde er geboren, und zum 400. gab es bei Faber&Faber diese schöne Neuausgabe seiner Fabeln, die nicht vergessen sein sollte!

Erinnern Sie sich noch an die berühmteste der Fabeln? Wir lernten sie im Französischunterricht: der Rabe, maitre corbeau, sitzt auf einem Ast und hat ein Stück Käse im Schnabel, un fromage. Der Fuchs kommt, maitre renard, und schmeichelt ihm und sagt: nein, was bist du schön, Rabe, mit deinem herrlich glänzenden Gefieder! Und der Rabe sagt: „N’est-ce pas? Nicht wahr?“ Und der Käse fällt für den Fuchs herunter. Eine Fabel über die Eitelkeit, und fast immer fordern bei La Fontaine die großen, mächtigen Tiere die kleinen heraus, die machen einen Fehler – aber nur einmal, dann haben sie was fürs Leben gelernt.

Das ist heute so amüsant zu lesen wie im 17. Jahrhundert, als es geschrieben wurde, und im Grunde gehen La Fontaines Fabeln zurück auf Äsop, der so etwas schon 600 Jahre v.Ch. verfasste. Zeitlose Lehren also, die uns den Spiegel vorhalten. In diesem Band sind die schönsten Fabeln mit ganz großartigen Bildern von Jan Peter Tripp versammelt, ein Schmuck- und Geschenkband voller Witz und Klugheit. La Fontaines 500. feiern wir bestimmt auch noch – wenn die Welt so lange durchhält. Die Kunst tut es!

Jean de la Fontaine, Das große Fabel-Buch (mit Illustrationen von Jan Peter Tripp) (Faber&Faber), 225 Seiten, 36 Euro.

Marta Kijowska: „Nichts kommt zweimal vor“

Als eine zierliche alte Dame aus Polen 1996 den Literaturnobelpreis bekam, wussten wir nicht mal, wie sich ihr Name schreibt oder ausspricht: Wisława Szymborska. Und dann lasen wir ihre zauberhaften, klugen Gedichte und waren für immer verliebt. Die Gedichte behandeln in leicht verständlicher Sprache alle denkbaren Themen – Natur, Liebe, Tiere, Politik, Bürokratie, Ängste und Freuden und immer wieder: Poesie, die ist, schreibt Szymborska, ihr im Leben ein „rettendes Geländer.“

Jetzt wissen wir mehr über diese Dichterin, die 2012 starb: Marta Kijowska hat eine ganz wunderbare Biografie über sie geschrieben, über die Dichterin, ihr Leben, ihre Lieben und ihre Arbeitsweise in diesem fürchterlichen 20. Jahrhundert, das vor allem auch für die Polen von Krieg, Besatzung, kommunistischer Herrschaft geprägt war. Alles hat die Szymborska gesehen, erlebt, auf ihre unnachahmlich leise Art beschrieben - zum Beispiel die glückliche Liebe: was hat die Welt denn, fragt sie im Gedicht, von glücklich Liebenden, die nur mit sich selbst beschäftigt sind und diese Welt ja gar nicht sehen?

Szymborska war eine Liebende und sah die Welt trotzdem und beschrieb sie uns in Gedichten. Der Nobelpreis brachte sie derart aus der Fassung, dass sie vier Jahre nicht schreiben konnte. Das Titelbild der Biografie zeigt die Kettenraucherin lächelnd, mit geschlossenen Augen vor einer Tasse Tee – so lässt sich alles ertragen. Die Biografie ist ein großartig zu lesender Einstieg auch für die, die die Texte dieser Dichterin noch nicht kennen, die morgen ihren 100. Geburtstag hätte feiern können.

Marta Kijowska, „Nichts kommt zweimal vor“. Eine Biografie über Wisława Szymborska (Schöffling), 320 Seiten, 28 Euro. 

Frederick Kohner: „Gidget“

Schon das Titelbild sieht nach Urlaub aus: eine lachende junge Frau im Badeanzug mit Surfbrett. Das ist Gidget, um die es in diesem Sommerroman geht. Der Autor Frederick Kohner schrieb dieses Buch im Sommer 1957 in nur zwei Wochen für und vor allem über seine Tochter Kathy, die das allererste Mädchen war, das 1956 zusammen mit einer Gruppe Jungs den damals auf Hawaii und in Kalifornien aufkommenden Sport „Wellenreiten“ betrieb, heute würden wir surfen sagen.

Das war eine reine Männerdomäne, aber für einen Sommer in Malibu mischte Kathy sich unter all diese Männer, mutig, sportlich, und nach und nach bekamen die Jungs Respekt vor dem kleinen 15-jährigen Gör und nannten sie Gidget, eine Zusammensetzung aus girl, Mädchen und midget, Zwerg. Diese leichte Sommererzählung über das Meer, den Strand von Malibu, ein junges Mädchen, das mutig das Surfen (und auch die erste Liebe!) für sich entdeckt, wurde völlig überraschend ein großer Erfolg und sogar mit Salingers „Fänger im Roggen“ verglichen.

Und danach wurde auch das Surfen bekannt und es kamen wie Gidget immer mehr Frauen und Mädchen dazu. Aber sie war die erste, Kathy Kohner, heute heißt sie Kathy Zuckerman, ist 83 Jahre alt, lebt in Kalifornien - natürlich am Meer und schreibt in ihrem herrlichen Vorwort zum Buch: „Hoffentlich werdet ihr das Buch mögen, und dann raus mit euch ins Wasser und: Nicht aufhören mit dem Paddeln!“ Das ist Ferienlektüre, durch die frischer Wind weht, wenn die Geschichte auch 70 Jahre alt ist - ein Strand, ein junges Mädchen, Wellen, Mut - blauer Himmel, erste Liebe - mehr *schön* geht nicht.

Frederick Kohner, Gidget (Fischer) 175 Seiten, 22 Euro.

Sylvie Schenk: „Maman“ 

Es fällt auf, dass viele Schriftsteller sich im Moment mit ihren Müttern beschäftigen – Mutterbücher haben Konjunktur! Eines, das besonders zart, vorsichtig und rührend ist, ist Sylvie Schenks Erinnerung an ihre Mutter Renée, „Maman“. Die wurde 1916 in Lyon geboren, Renées Mutter starb bei der Geburt des kleinen Mädchens. War sie eine arme Seidenarbeiterin, wie auch schon die Urgroßmutter?

Arme Familie bewahren nur wenige Dokumente und fast nie Fotos auf, und Sylvie Schenk spürt in kleinsten Details dem Leben ihrer Mutter nach, einem Leben, das schon ganz früh falsche Weichen gestellt bekam: erst ein Heim für das mutterlose Baby, als Vierjährige kommt sie zu Bauern und muss sofort bei der Arbeit helfen. Es gibt keine Liebe, keine Spiele, kein Lächeln, niemand redet mit dem Kind, es verstummt und verhärtet. Und als sich tatsächlich liebevolle Adoptiveltern finden, die dieses kleine Mädchen mit sechs Jahren zu sich nehmen, es lieben, gut kleiden, zur Schule schicken – da ist es schon zu spät.

Renée ist versteinert, sie wird nie Glück empfinden, nie Liebe geben können, obwohl sie heiratet und Kinder bekommt, die sie großzieht. Das Elend vererbt sich weiter auf die nächste Generation. „Maman,“ schreibt Sylvie Schenk, „war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.“ Aber: „Ich vernehme aus ihrem ganzen Leben ein tiefes, andauerndes Grollen.“ Indem Sylvie Schenk dem Unglück der Mutter nachspürt, heilt sie, glaube ich, beim Schreiben darüber eigene Wunden. Ach, die Mütter- wie sehr sie unser Leben prägen. Dieses sanfte schmale Buch erzählt beeindruckend davon.

Sylvie Schenk: „Maman“ (Hanser), 173 Seiten, 22 Euro.

Steinunn Sigurdardóttir: „Nachtdämmern“

Nachtdämmern, so heißt dieses wunderschöne, poetische Buch der isländischen Autorin Steinunn Sigurdardóttir. Es sind mehrere Gedichte, Gedankensplitter, kleine Verse, die, hintereinander gelesen, zu einer Autobiografie und einer großen Klage zusammenwachsen. Und wenn wir in diesem Sommer sehen, wie in Südeuropa die Wälder brennen und der Rauch die Tage dämmrig macht, dann versteht auch der letzte Leugner, dass wir es mit einer Klimakatastrophe zu tun haben.

In Island bedeutet das: die Gletscher verschwinden, die Sinnbilder dieses Landes: Eisland. Das Buch in Gedichtform liest sich wie ein wehmütiger Abgesang darauf, eine Klage, ein Lamento – „Wenn DER GROSSE geht/ dann geht nicht nur er/ sondern auch die aussicht der welt verloren“, heißt es, und: „alles wird der erde zum verhängnis/ das innere feuer stürmt herauf/ Die Erde, selbst sie, unter dem gletscher, heizt/ hält es nicht mehr aus.“

Wehmütig schafft die Autorin Bilder vom „kaltschönen Meer“, von der „Merkwürdigkeit, die man Liebe nennt“ und von den „verkohlten Halden der Enttäuschung“ – es ist ein ganz und gar zauberhaftes Gedankenspiel mit Verlust und Sehnsucht angesichts einer Natur, einer Welt, die zugrunde geht. „Wohin soll sich die menschheit dann retten?/Zu den sternen? Welchen sternen?“

In „Nachtdämmern“ leuchtet die Sehnsucht nach allem, was wir gerade verlieren und zerstören, tief berührend noch einmal auf. Der größte Gletscher vergeht – „So verreckt der weißeste Körper der welt,/dann übernimmt das Geröll.“

Steinunn Sigurdardóttir: „Nachtdämmern“, deutsch von Kristof Magnusson „Nachtdämmern“ (Dörlemann) 118 Seiten, 22 Euro.

Eric Pfeil: „Azzurro: Mit 100 Songs durch Italien“

Wann immer wir mit dem Auto nach Italien fahren, lassen wir italienische Schlager, canzoni, donnern und singen natürlich mit – „Volare“, „O sole mio“, „Azzurro“ ... Und Azzurro heißt ein herrliches Taschenbuch mit hundert Geschichten zu hundert italienischen Songs. Der Autor ist Eric Pfeil, er schreibt unter anderem für den Rolling Stone, hat eine Band namens Die Realität und knöpft sich hier die berühmtesten italienischen Schlager vor.

Die Texte sind leider nicht abgedruckt, das hätte wohl den Rahmen gesprengt – aber er weiß zu jedem dieser Songs interessante kleine Geschichten zu erzählen – zum Beispiel dass Adriano Celentano dieses „Azzurro“, das der Mailänder Rechtsanwalt Paolo Conte geschrieben hatte, erst gar nicht singen wollte – und dann wurde es sein größter Hit.

Conte wurde später auch Sänger und sang sein Lied selbst total anders. Oder Patty Pravo, die 1968 mit „La Bambola“ zum Superstar wurde – Schock für Italien: Kratzstimme, Hosen statt Röcke, kurze Haare statt Mähne, solche Frauen gab es damals zumindest im italienischen Musikbetrieb noch nicht, und dann der nächste Schock: Gianna Nannini mit „Bello e impossibile“, Schön und unmöglich, noch so eine rasante selbstbewusste Frau gegen den Püppchenmainstream.

„O sole mio“ ist natürlich auch dabei, 1916 von Caruso gesungen, dessen Frau damals gerade mit dem Chauffeur durchgebrannt war und der daraufhin ein wütend-wildes Liebesleben begann. Er brachte damit alles durcheinander und sagte auf Nachfragen nur: „Caruso feels too much!“ Schönes Buch zu Musik, die wir alle kennen und lieben. Also, auf nach Rimini mit diesem Soundtrack im Ohr!

Eric Pfeil: „Azzurro: Mit 100 Songs durch Italien“, Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 14 Euro

Dagmar Leupold: „ Dagegen die Elefanten!“

Herr Harald ist der Mann an der Garderobe, der im Theater unsere Mäntel entgegennimmt. Die riechen nach Bratfett oder Parfüm, mal fehlt ein Knopf, mal hängt ein Saum, und er macht sich über Menschen und Mäntel seine Gedanken, gibt nach dem Konzert alles ordentlich zurück und fährt danach in seine stille Wohnung.

Herr Harald lebt allein und hat feste Rituale, wie er isst, wann er einkauft, wann er seine Hemden zum Waschsalon trägt, immer in dieselbe Maschine, wenn die mal nicht frei ist, kommt er schon ins Schleudern.

Wir haben es mit einem sehr einsamen Menschen zu tun, sehr zerbrechlich, den Rituale wie ein Geländer zusammenhalten. Herr Harald sieht einmal einen Film über das erstaunliche soziale Leben der Elefanten. Sie haben nämlich ein soziales Leben. Herr Harald nicht. „Dagegen die Elefanten!“

Ab und zu blitzen Erinnerungen auf an das „Haraldkind“, und wir ahnen, dass da ein Kind schon früh verwundet, verletzt, eingeengt worden sein muss. Er zieht sich als Erwachsener in sich zurück und ist am sichersten allein.

Aber zwei Dinge geschehen in diesem leisen, anrührenden Buch: Herr Harald verliebt sich ein wenig in die Umblätterin bei Klavierkonzerten, die sitzt neben dem Pianisten, sehr aufmerksam, und hat den einen großen Moment des richtigen Umblätterns, und sie ist ein Mensch, der genauso wenig je beachtet wird wie er.

Und einmal wird ein Mantel nicht abgeholt nach dem Konzert, und als er ihn vom Haken nimmt, ist er erstaunlich schwer. Herr Harald greift in die Tasche, und da ist eine Pistole. Was nun? Dagmar Leupold hat ein wunderbares Buch voller Melancholie, Schmerz und Liebe geschrieben.

Dagmar Leupold: „ Dagegen die Elefanten!“, 272 Seiten, Jung und Jung, 23 Euro, E-Book: 18 Euro.

Susanne Falk: „Fast ein Idyll. Halbwegs wahre Geschichten“

Wer keine dicken Romane lesen will, sondern im Urlaub ab und zu mal eine kleine Geschichte braucht, der ist mit diesem Buch gut bedient – noch dazu, weil es geheimnisvoll ankündigt, dass es sich um „halbwegs wahre“ Geschichten handelt.

Ein guter Kunstgriff: denn alle Figuren und Lebensumstände stimmen, etwa bei Coco Chanel oder Johann Sebastian Bach, bei Thomas Mann, Beethoven, Kleopatra oder Shakespeare, bei Marlene Dietrich oder Marilyn Monroe. Nur das, was sich hier auf wenigen Seiten zuträgt – das stimmt nicht, das hat sich Susanne Falk ausgedacht und sie liegt ganz sicher damit sehr nah am Möglichen.

Wir wissen doch, dass Marilyn Monroe und John F. Kennedy eine Affäre hatten … Warum also sollte Marilyn nicht für ein Liebeswochenende ein Häuschen auf Martha’s Vineyard mieten? Sie trägt neue schwarze Seidenwäsche, sie hat schweren Rotwein besorgt, und sie sieht den Präsidenten vom Boot am Strand hochkommen, die Sicherheitsleute bleiben zurück – für zwei Tage und eine Nacht!

Aber schon an der Tür fallen beide so übereinander her, dass in drei Minuten erledigt ist, wovon sie träumten. Und dann? Was tut man? Was redet man? Er geht wieder, sie weint und betrinkt sich.

Halbwegs wahr und sehr denkbar, oder? Und dass Kleopatra was mit ihrem Gärtner hat, der danach natürlich leider sterben muss – können wir uns gut vorstellen. Und wo der Bauer nicht weiter weiß, zieht Marlene Dietrich mal eben das querliegende Kalb aus der Kuh – diese Frau packt alles an! Diese 24 Geschichten und ein fingierter Brief sind witzig, möglich und sehr schön erfunden.

Susanne Falk: „Fast ein Idyll. Halbwegs wahre Geschichten“, Picus Verlag, 265 Seiten, 22 Euro

Claire Thomas: „Die Feuer“

Wir sind in Melbourne, in einem Theater. Draußen ist es heiß, und nicht nur das – in der Nähe der Stadt wüten große Brände in den Wäldern. Hier ist man aber sicher, es wird das Stück „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett gegeben, ein Stück über die Absurdität des Lebens.

Ein altes Ehepaar, Winnie und Willie, steckt fest in Erdhügeln und resümiert über das Leben. Das löst in den Köpfen der Zuschauer auch Gedankenketten über ihr eigenes Leben aus, über das, was verfahren, was sinnlos, was vielleicht noch zu retten ist.

Drei Protagonistinnen hat die australische Schriftstellerin Claire Thomas herausgepickt, deren Gedanken sie uns lesen lässt. Es sind Assoziationen zu dem, was da auf der Bühne gerade geschieht. Da ist Margot, 70-jährige Literaturprofessorin, die darunter leidet, dass ihr Mann John dement ist; Ivy, 40-jährige Kunstmäzenin und Margots ehemalige Schülerin, denkt an das Kind, das sie verloren hat und Summer, eine junge Schauspielerin, die hier als Platzanweiserin arbeitet, macht sich Sorgen um ihre Geliebte, die irgendwo da draußen gerade ihre Eltern besucht, die am Wald wohnen, genau da, wo es brennt.

Auf der Bühne wird das Leben sinnlos, draußen spielt die Natur verrückt und im Dunkeln sitzen diese drei Frauen und alles kriecht hoch in ihnen, was sie lieber nicht erinnern, lieber nicht denken würden.

Der intime dunkle Theaterraum, die Assoziationsketten in den Köpfen, Beckett, der das alles schon wusste, die Menschen mit ihren Sorgen im Kleinen, und im Großen geht die Welt gerade den Bach runter. Es brennt. Das Buch namens „Die Feuer“ ist beeindruckend erzählt- ein gutes Buch zur Stunde.

Claire Thomas: „Die Feuer“, deutsch von Eva Bonné, Hanser, 256 Seiten, 23 Euro.

Lucy Fricke: „Die Diplomatin“

Ich wollte mal wissen, was genau das Wort „Schmöker“ bedeutet, das ich immer mal wieder für besondere Empfehlungen benutze – und mein Wörterbuch der Brüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert sagt: damit ist eher verächtlich ein altes, nutzloses Buch gemeint.

Aber ich denke ganz anders: ich denke, Sie liegen jetzt im Garten, auf dem Balkon, im Urlaub am Meer, und da brauchen Sie keine Klassiker, keine wer weiß wie schwierigen Bücher, da brauchen Sie einen richtigen Schmöker, etwas, das man mit Spannung und Genuss einfach so weg lesen kann, etwas, auf dessen Lektüre man sich freut.

Also bitte: Lucy Frickle hat mit „Die Diplomatin“ so ein Buch geschrieben. Es erzählt von Friederike Andermann, genannt Fred, die im diplomatischen Dienst zunächst nach Uruguay versetzt wird, dort an einer aus dem Ruder laufenden Entführungsgeschichte scheitert, nun nach Istanbul kommt, und da frustriert an die Grenzen von Rechtsstaatlichkeit, Vertrauen, europäischer Idee stößt.

Fred eiert zwischen Moral und Diplomatie herum, sie versucht, für freie Meinung und Menschenrechte bis an die Grenzen des diplomatisch Vertretbaren zu gehen und zweifelt zunehmend an ihrem Beruf, traut niemandem mehr, ist einsam, wird unsicher, bleibt aber standhaft.

Das alles ist nicht nur spannend und teilweise sehr humorvoll mit großartigen Dialogen geschrieben, vor allem, wenn es um niemals funktionierende sture Bürokratie geht, sondern die Geschichte ist auch brennend aktuell in Zeiten, in denen wir die Ohnmacht der Diplomatie ja an allen Ecken sehen. Ein rundum gelungener, unterhaltender und sogar brisanter Roman. Ein Schmöker! Im besten Sinne.

Lucy Fricke: „Die Diplomatin“, Claassen, 256 Seiten, 22 Euro.

Bonnie Garmus: „Eine Frage der Chemie

So einen unterhaltsamen und zugleich blitzgescheiten Roman habe ich schon lange nicht mehr gelesen! Die Chemikerin Elizabeth Zott, deren Leben hier zackig erzählt wird, ist derart lebendig, dass ich mehrmals ungläubig gegoogelt habe: es gibt sie nicht, sie ist wirklich erfunden!

Wir sind im Jahr 1961, da hat es eine Frau unter lauter Wissenschaftlern schwer, die nehmen sie nicht ernst, und wenn sie merken, was Elizabeth Zott alles kann und weiß, bügeln sie sie als Konkurrentin so gnadenlos nieder, dass sie fast das Handtuch wirft. Fast, denn einer der Professoren erkennt sofort ihr Potenzial, ein Sonderling, hochgescheit, einsam und verschroben – und diese beiden verlieben sich ineinander.

Zusammen sind sie unschlagbar, bis … aber ich will nicht zu viel verraten. Nur dies: dass Elizabeth aus der Uni fliegt und ihr Geld mit einer Kochsendung im Fernsehen verdienen muss, „Essen um sechs“. Als Wissenschaftlerin, die sie nun mal ist, sagt sie aber nicht: Stellen Sie die Kartoffeln mit Wasser und Salz auf den Herd, sondern sie sagt: geben Sie Natriumchlorid zu der Knollenfrucht und setzen Sie sie mit H2O auf den Herd. Und am Ende jeder Sendung sagt sie: „Kinder eure Mutter braucht jetzt einen Moment für sich. Lasst sie in Ruhe und deckt den Tisch.“

Und sie hat riesigen Erfolg, Hausfrauen himmeln sie an, trauen sich, alte Berufsträume wieder auszuleben und, ja: alles wird (ein bisschen allzu) gut am Ende, aber was für ein Lesespaß! Ich beneide Sie, dass Sie dieses Buch noch vor sich haben. Sie werden sich, wie auch ich, unsterblich in Elizabeth Zott verlieben.

Bonnie Garmus: „Eine Frage der Chemie“, Piper, 462 Seiten, 22 Euro

Karl Valentin: „Mein komisches Wörterbuch. Sprüche für alle Lebenslagen“

Heute habe ich keinen direkten Buchtipp, heute möchte ich an jemanden erinnern: der große Komiker und Sonderling Karl Valentin wurde heute vor 140 Jahre in München geboren, und er war nicht nur irgendein Komiker, dieser lange schlaksig-unglückselige Mensch: Er beeinflusste Brecht, Samuel Beckett, und auch Loriot und Gerhard Polt beriefen sich als seine Nachfolger auf ihn.

Er war der Erste, der die Alltagskatastrophen und den Widersinn dieser Welt auf den Punkt brachte, im Piper Taschenbuch „Falsch entbunden – Katastrophen des Alltags“ kann man das nachlesen, das Radlerpech, die Brillensuche, ach, und der berühmte Firmling mit Vater im Lokal, wo alles schiefgeht.

Ich liebe Valentins kurze Pointen am meisten – wie er zum Beispiel während der Zeit der Nationalsozialisten auf der Bühne sagte: „Heil…heil…ja, wie heißt der denn nun? Ich kann mir den Namen nicht merken.“ Und als ihm der Name einfällt: „Wie gut ist es doch, dass der Führer nicht Kräuter heißt, sonst müsste man ihn mit „Heil Kräuter!“ begrüßen.“

So komisch Karl Valentin auf der Bühne war, so unglücklich und krank war er privat: unselige Affären, Asthma, sicher auch magersüchtig, dieser spindeldürre Kerl.

1948 am Rosenmontag starb er, unterernährt und an einer Lungenentzündung, nachdem man ihn aus Versehen eine Nacht im eiskalten Theater eingeschlossen und vergessen hatte.

Er wurde am Aschermittwoch begraben, längst von der Stadt München vergessen. Erst viele Jahre später entdeckte man ihn wieder als einen unserer größten Komiker- – eine Art trauriger Clown, aber: ein Wortakrobat ohne rote Nase.

Karl Valentin: „Mein komisches Wörterbuch. Sprüche für alle Lebenslagen“, Piper, 320 Seiten, 12 Euro. 

Adeline Dieudonné: „23 Uhr 12. Menschen in einer Nacht“

„Das wirkliche Leben“ hieß ein erschreckend intensiver Roman dieser Autorin, und sie kennt sich aus: Denn das wirkliche Leben beschreibt sie auch hier, und zwar genau das Leben um 23 Uhr 12 an einer Autobahnraststätte.

Da treffen Menschen ein, die nichts miteinander zu tun haben und deren Leben sich in diesen Minuten begegnen – dreizehn Menschen, eine Leiche und ein Pferd. Dreizehn Schicksale in einer heißen Sommernacht – Enttäuschung, Liebe, Zorn, Verzweiflung. Chelly kann ihren Mann Nicolas nicht mehr ertragen, sie sticht zu.

Juliette sitzt an der Kasse der Tankstelle, ihr Mann arbeitet im Schlachthof und dreht wegen dieser Arbeit durch. Alika ist Hausmädchen, kommt von den Philippinen und wird wie ein Möbelstück behandelt. Sie hütet die Kinder fremder Leute, während ihre eigenen ohne sie aufwachsen. Julianne hat einen Überfall überlebt und kommt mit den Erinnerungen nicht klar. Loic macht nachts Pannenhilfe und ist bei den Flirtpiraten im Netz unterwegs, und nicht nur da.

Olivier ist dabei, seine Großmutter in ein Pflegeheim zu fahren, die Familie will sie loswerden. Julie will endlich richtigen Sex, und als Monica vor das Auto läuft, weiß sie nicht, dass im Kofferraum eine Leiche liegt. Und das Pferd? Ach, das Pferd. Das hat auch seine Geschichte. Es ist 23 Uhr 12, als alle aufeinandertreffen. Und es ist 23 Uhr 14, als nichts mehr ist wie zuvor.

Zwölf kleine einzelne Geschichten wachsen zu dem zusammen, was wir – wie diese großartige Autorin – „das wirkliche Leben“ nennen. Kein leichter Stoff, aber was ist schon leicht?

Adeline Dieudonné: „23 Uhr 12. Menschen in einer Nacht“ , deutsch von Sina de Malafosse, dtv, 176 Seiten, 18 Euro.

Tove Ditlevsen: „Gesichter“

Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich Ihnen an dieser Stelle die autofiktionale Trilogie der Dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen vorgestellt: „Kindheit“ – „Jugend“ – „Abhängigkeit“. Nicht nur bei uns wurde Ditlevsen, die in den 1920er Jahren in einem Kopenhagener Arbeitsviertel aufwuchs und 1976 starb, damit wiederentdeckt, sie wurde geradezu weltberühmt und in mehr als 30 Sprachen übersetzt.

Autofiktional heißt: Sie erzählt von ihrem Leben, aber in Romanform und anhand einer anderen Person, also nicht 1:1. Und nun ist ihr wohl wichtigstes Buch erschienen: „Gesichter“, die Geschichte einer Frau namens Lise Mundus – in der wir Ditlevsen erkennen – die an einer Psychose leidet.

Sie kommt mit der Ehe, den Kindern, dem Alltagsleben nicht klar und nimmt eine Überdosis Tabletten, vielleicht nicht, um zu sterben, sondern um beschützt vor der Wirklichkeit in der Psychiatrie aufzuwachen.

Das kurze Buch schildert diese Wochen in der Klinik, ungeschönt, verstörend, bewegend. Lise fantasiert sich die Wirklichkeit zurecht, sie hört Stimmen, sie sieht Gesichter, sie schwebt zwischen Wahn und großer Klarheit, und vor allem weiß sie: Sie muss und will schreiben. Und als sie nach langer Behandlung entlassen wird, da sagt sie: „Morgen werde ich wieder mit dem Schreiben anfangen.“ Mit dem also, was auch Tove Ditlevsen immer wieder gerettet hat.

Von Rilke stammt der Satz: „Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.“ Tove Ditlevsen zeigt in diesem Roman ihr Gesicht ziemlich unverhüllt, voller Schmerzen und doch: wie zart!

Tove Ditlevsen: „Gesichter“, Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro; E-Book 14,99 Euro.

Gerhard Polt: „Dr. Arnulf Schmitz-Zceisczyk“

Heute wird er 80 Jahre alt, der Kabarettist, Autor, Schauspieler, Regisseur, der Philosoph, das bayerische Urgestein: Gerhard Polt. Wir verdanken ihm Klassiker: von Mai Ling, der braven asiatischen Frau aus dem Katalog bis zum renitenten Kind, das partout nicht Osterhasi! einsehen will, sondern stur bei Nikolausi! bleibt.

Starrsinn, Intoleranz, Spießertum – das sind die großen Themen des großen Gerhard Polt, und im Verlag Kein&Aber, der ihn und sein inzwischen sehr umfangreiches literarisches Werk wunderbar betreut, ist gerade zum Geburtstag ein Polt-Roman über einen besonders fiesen Zeitgenossen erschienen, den man lieber nicht kennenlernen möchte: Dr. Arnulf Schmitz-Zceisczyk, beruflich im Finanzwesen tätig, Zweitwohnungsbesitzer, natürlich am Tegernsee, wo es schön sein könnte, wenn da nicht diese schrecklich einfachen Bauern mit diesen gackernden Hühnern wären, „Bauernhof hin und her, aber die können sich doch heute das Huhn auch im Edeka kaufen! Die Eier gibt es auch überall, da muss ich doch nicht züchten, nicht wahr.“

Wir lernen ihn hassen, diesen Dr. Arnulf Dingsbums, und seine kreuzdumme Gattin Annerose auch, die ab und zu Gehässigkeiten einstreut. („Also die Frau Orlow, die war beim Visagisten, weil die hatte einen Hals wie ein Truthahn. Aber ich muss leider sagen, der Hals, naja, so wie bei der Nofretete ist er nicht geworden!“)

Und beim Lesen lachen wir die ganze Zeit, während uns ordentlich gruselt. Es gibt sie, diese Arnulfs und Anneroses . Aber gegen Polt haben sie keine Chance, der seziert sie. Gerhard, mein Freund: Glückwunsch und: RESPEKT!

Gerhard Polt: „Dr. Arnulf Schmitz-Zceisczyk“, Kein&Aber, 144 Seiten, 22 Euro.

Christiane Bauermeister: „Der gute Russentisch“

Erinnern Sie sich an Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“? Hans Castorp ist im Sanatorium für Lungenkranke in den Schweizer Bergen, und Thomas Mann beschreibt den Speisesaal: „… es gibt einen guten Russentisch, wo nur feinere Russen sitzen.“

Im Moment sehen wir nirgends einen „guten Russentisch“, aber Christiane Bauermeister erzählt von Erinnerungen an ihre Reisen nach Russland in den 70er Jahren. Sie beschreibt ihre Besuche bei Künstlern, bei Schriftstellern, sie erzählt von Lilja Brik, der großen Liebe des Dichters Wladimir Majakowski, sie berichtet von engen Gemeinschaftswohnungen und großer Gastfreundschaft, und einmal trifft sie bei einem Besuch in (damals noch) Leningrad im Vorzimmer des Bürgermeisters einen Herrn mit grauem Anzug und blauen Augen, „die etwas von einem Wiesel hatten“, und der gibt ihr seine Visitenkarte.

Jetzt fiel ihr das Kärtchen in die Hände: „Wladimir Putin“ stand darauf. Wir wissen, wohin sich dieser Mann aus dem Vorzimmer entwickelte. Nein, er sitzt bestimmt nicht „am guten Russentisch“, etwa mit Wladimir Sorokin, dessen Bücher in Russland schon verbrannt wurden, oder mit Helena Semjonowa, die mit 85 Jahren ärmlich in einem Mansardenzimmerchen im 6. Stock wohnte, als junge Frau hatte sie bei Alexander Rodtschenko Kunst studiert. Es gibt ihn noch, den guten Russentisch. Die russischen Schlächter aus der Ukraine sitzen dort nicht.

Das ist meine 100. Kolumne, 100 Mal habe ich Ihnen hier neue Bücher vorgestellt, und heute möchte ich nur daran erinnern, dass es Putins Krieg ist, nicht der von Tschechow, Turgenjew oder Lilja Brik.

Christiane Bauermeister: „Der gute Russentisch“, Transit, 173 Seiten, 20 Euro

Anne Tyler: „Eine gemeinsame Sache“

Anne Tyler legt mich immer wieder rein. Jedes Mal denke ich, das ist aber harmlos, da geschieht ja gar nichts, warum erzählt sie das jetzt so ausführlich? Warum soll es mich interessieren, dass Mercy in ihr Atelier jeden Tag irgendwas mitnimmt, Schuhe, eine Jacke, einen Teekessel? Sie malt halt da. Abends ist sie ja wieder bei ihrem Mann Robin zu Hause.

Bis ich merke: Mercy zieht aus. Nach 50 Jahren Ehe verlässt sie ihren Mann so, dass der gar nichts merkt, bis sie endgültig weg ist. Und wir haben es auch nicht gemerkt. Anne Tyler hat ein geradezu teuflisches Gespür für ganz feine Haarrisse, die früh auftauchen, kaum bemerkt, und die irgendwann ganze Familiengebäude einstürzen lassen.

„Eine gemeinsame Sache“ heißt ihr neuer Roman, in der wunderbaren Tyler-Reihe bei Kein&Aber erschienen. Wir leben mit der Familie Garrett, der braven Alice, der wilden Lily, und David sieht noch lange nach dem Tod seines Vaters den Moment vor sich, wie er fast im See ertrank, und der Nachbar rettete ihn, während der Vater nur guckte, sich nicht rührte.

Diese Wunde heilt nie und ist der Knackpunkt, der Davids ganzes Leben verändert hat. Im Nachhinein weiß man beim Lesen von Tyler alles über die Familien, aber während man liest, denkt man: wie bei uns, Schwestern, die sich nicht mögen, zuverlässige Mütter, wenig gefühlvolle Väter, alles ganz normal, und am Ende haben wir zwar Familienalben voller Bilder, aber keinen Zusammenhalt. Eben keine „gemeinsame Sache“.

Das kann so nur Anne Tyler erzählen. Beste Unterhaltung mit langsam wachsender Gänsehaut.

Anne Tyler: „Eine gemeinsame Sache“, deutsch von Michaela Grabinger, Kein & Aber, 352 Seiten, 26 Euro, E-Book: 21 Euro.

Axel Hacke: „Ein Haus für viele Sommer“

Axel Hacke kann es einfach: mit leichter Hand erzählen, immer etwas komisch, immer etwas melancholisch, und wenn er von den Reisen zu seinem Haus in Italien auf der Insel Elba schreibt, dann sind wir sofort mit ihm da, riechen die Luft, Oliven, Zitronen, fluchen, weil der Fiat 500 mal wieder nicht fährt, obwohl sich Mechaniker Ennio eine goldene Nase daran verdient, kennen die Nachbarn, seit dreißig Jahren dieselben mit den immer gleichen Sprüchen und Ausreden, ja, morgen kommt er, Lorenzo, der Schreiner…Er kommt nie. Er muss in der Sonne sitzen und Wein trinken. Und „Serafino führt seine verlorenen Haare Gassi.“ So ein Haus, sagt Hacke, das ist nicht Urlaub.

Wenn man nach langer Fahrt endlich ankommt, hat es irgendwo reingeregnet oder es ist sonst was kaputt, du musst lüften, die Betten beziehen, den Staub raus wirbeln, warum macht man das, immer wieder, obwohl man doch die ganze Welt bereisen könnte? Weil es zum Zuhause geworden ist, weil man es liebt, auch wenn die Ziegen mal wieder den Zaun runtergetrampelt und den Garten kahl gefressen haben. Wenn endlich alles mit schwerer Schufterei in Ordnung gebracht ist, fährt man wieder ab, der Urlaub ist rum. Und nächstes Mal dasselbe von vorn – es ist „Ein Haus für viele Sommer.“

Aber wärmer und lebendiger als Hacke kann das wirklich niemand erzählen. Während wir lesen, sind wir tief im Italienurlaub, verwoben in ein Netz von Geschichten, Gerüchten, und wir gehören dazu und wir sitzen einfach nur da „und lassen das Leben anbeißen.“ Ein Buch ohne jede Hektik, innen und auch außen in der Aufmachung: wunderschön.

Axel Hacke: „Ein Haus für viele Sommer“, Kunstmann, 285 Seiten, 24 Euro.

Frauke Tuttlies: "Der geworfene Apfel"

Wir erinnern uns: Eva reichte Adam den verbotenen Apfel, und aus war es mit dem Paradies. Frauke Tuttlies' Roman heißt: "Der geworfene Apfel", und man hat das Gefühl, dieser Apfel findet das Paradies wieder.

Die Erzählerin, ein Schulmädchen, schaut in den Apfelgarten der Großmutter, und sie sieht, wie der Großvater unter den Apfelbäumen die Tante Maria küsst. Zwar ist die Großmutter schon gestorben, aber in Ordnung ist das ja wohl trotzdem nicht, oder?

Denn der Großvater ist der strenge Patriarch einer sektenähnlichen, äußerst frommen Familie, in der für Liebe und ähnlichen Schnickschnack nur wenig Platz ist. Der Großvater kriegt mit, dass die Enkelin ihn und Tante Maria erwischt hat, wirft ihr einen Apfel zu und ruft: "Das bleibt unser Geheimnis!"

Das Mädchen will dieses Geheimnis mit dem Großvater nicht haben. Er hatte sie doch alle gelehrt, dass Gefühle, Romane, Gedichte, Politik, dass alles Leben außerhalb strenger gottesfürchtiger Regeln verboten, dass alles außer dem Glauben Schund und Sünde war und gesühnt werden musste, und nun das?

Das junge Mädchen ist erschüttert, und doch weckt dieser heimlich beobachtete Kuss die eigenen Träume und Sehnsüchte, sie traut sich, das Bedürfnis nach etwas mehr Liebe und Romantik in ihrem streng protestantischen Elternhaus zuzulassen, und siehe da: Es ist möglich, und Gott straft nicht sofort jeden Gedanken daran. Und auch nicht jeden Kuss.

Das ist ein kleines, liebevolles Buch über Sehnsucht und Poesie, und ein zweiter Apfel wird auch noch geworfen: eines Tages dankbar in Großvaters Grab. Tante Maria und er hatten übrigens geheiratet.

Frauke Tuttlies: "Der geworfene Apfel" , Transit, 124 Seiten, 16 Euro

Hans Christian Andersen: "Die schönsten Märchen"

Seit 1967 wird am 2. April weltweit der Tag des Kinderbuches gefeiert - zu Ehren des großen Märchenerzählers Hans Christian Andersen, der am 2. April 1805 in Dänemark geboren wurde.

Ein Grund für mich, Sie heute in meiner kleinen Kolumne an diesen Mann zu erinnern, dem wir so schöne Märchen wie "Die Schneekönigin", "Der kleine Zinnsoldat", "Das hässliche Entlein" oder "Des Kaisers neue Kleider" verdanken.

168 Märchen hat er geschrieben, mein liebstes ist das von der Nachtigall, die den sterbenden Kaiser von China nachts am Fenster wieder gesund singt - weil Musik, auch Nachtigallenmusik - so was einfach kann!

Andersens Leben begann nicht glücklich, der Vater, ein armer Schuhmacher, starb, als er erst elf Jahre alt war, der Sohn arbeitete in der Fabrik, um die alkoholkranke Mutter zu unterstützen. Aber er fand Förderer, die früh sein Talent erkannten, er konnte dann die Schule besuchen, sogar studieren und zu schreiben anfangen.

Er schreibt herzzerreißend schön und wahrhaftig, aber er muss ein höchst seltsamer, ungeschickter, verschrobener Mann gewesen sein, verschlossen, misstrauisch, und als er einmal für längere Zeit in London bei Charles Dickens wohnte, ging er dem und seiner Tochter mit all seinen Marotten so auf die Nerven, dass sie nach seiner Abreise einen Zettel an den Spiegel im Gästezimmer klebten: "Andersen schlief in diesem Raum für fünf Wochen - für die Familie schienen es Jahre gewesen zu sein."

Ja, so kann es gehen: große Genies sind nicht automatisch umgängliche Menschen. Aber Andersens Prinzessin auf der Erbse hatte ja auch ihre Macken - und wir lieben sie genau dafür!

Hans Christian Andersen: "Die schönsten Märchen. Illustriert mit Aquarellen von Edmund Dulac", wgb Edition, 176 Seiten, 40 Euro

Juliane Marie Schreiber: "Ich möchte lieber nicht"

Das ist ein Buch nach meinem Herzen! Schnell, frech, wütend! Es ist ein Buch gegen den Glücklichkeitswahn - warum müssen wir alle eigentlich dauernd positiv denken oder sogar Scheitern als Chance begreifen? Für Christian Lindner sind ja auch Probleme eher "dornige Chancen". Wie bitte? Warum muss ich mich pausenlos selbstoptimieren, warum wird uns vorgelogen, wir könnten alles schaffen, wenn wir nur wollten?

Es macht sich ein Glücksterror breit, der zum Unglücklichsein führt, man schafft nämlich in dieser Welt nicht alles, was man will. Und außerdem wurde die Welt nicht von den Glücklichen verbessert, sondern von den Suchenden, den Unzufriedenen.

Das Unglück treibt uns an, nicht das bequeme Glück, das wusste schon Karl Marx. Mein Duschgel soll nicht nur gut riechen, nein, es soll mich glücklich machen und der Träum-süß-Tee soll mich gefälligst noch im Schlaf beseelen.

Über diesen ganzen Wahn, uns sogar Produkte als Glücksbringer zu verkaufen, hat die Politologin Juliane Marie Schreiber ein fulminant wütendes Buch geschrieben, dessen herrlicher Titel "Ich möchte lieber nicht" aus Herman Melvilles "Bartleby" entlehnt ist, der jede Arbeit ablehnte mit diesem Satz. Er ging allerdings schließlich daran zugrunde, während wir die Möglichkeit haben, zu dem ganzen "Du musst aber positiv sein"-Zwang irgendwann einfach mal zu sagen: "Ich möchte lieber nicht."

Ich möchte mich nicht darüber freuen, dass Venedigs Kanäle wegen Corona ohne Touristen wieder sauber sind, sondern ich möchte bedenken, dass Hunderttausende starben. Ich möchte im Hier und Jetzt bleiben und nicht in der Glückslüge verblöden.

Juliane Marie Schreiber: "Ich möchte lieber nicht", Piper, 205 Seiten, 16 Euro

Julia Schoch: "Das Vorkommnis"

Das Vorkommnis ist folgendes: Die Ich-Erzählerin, die wir mit der Autorin gleichsetzen dürfen, signiert nach einer Lesung noch am Büchertisch, als eine junge Frau zu ihr sagt: "Wir haben übrigens denselben Vater." Die Autorin steht auf und umarmt ganz spontan diese fremde Frau. Und weint. Und mehr geschieht nicht, das war das Vorkommnis, das war schon alles, aber es verändert auch alles.

Denn erst später denkt die Erzählerin nach: Kann das wahr sein? Gab es da ein Geheimnis in ihrer Familie? Sie erinnert sich an Risse, an Unerklärbares aus der Vergangenheit, sie wird von einer Verunsicherung ergriffen, die in ihr ganzes Leben eingreift: Was stimmt noch, was nicht, muss sie ihre Vorstellungen von Familie ändern? Wer gehört dazu, wer nicht? Will sie sich überhaupt an alles, an ihre Eltern, an den Vater, die Kindheit in der DDR so genau erinnern oder macht diese Art der Erinnerung nicht letztlich einsam und unglücklich, ist das Vergessen und Verdrängen nicht einfacher?

Das ist das Tolle an diesem intensiven Roman: Dass es um das Vorkommnis gar nicht geht, sondern nur darum, was es mit der Erzählerin macht und wie es all ihre Gefühle und Sicherheiten ins Wanken bringt.

Dieses Buch ist wirklich, und das sage ich selten, ein literarisches Kunstwerk, ein virtuoses Meisterstück über Erinnerung und Verdrängung und über das, was wir eigentlich sind: Hilflose, schlecht verwurzelte, leicht zu erschütternde und zu irritierende Menschen. Wir alle. Der Roman gilt als Auftakt einer Trilogie "Biographie einer Frau." Wir dürfen erwartungsfroh gespannt sein.

Julia Schoch "Das Vorkommnis", dtv, 191 Seiten, 20 Euro

Jack Kerouac: „Unterwegs“

"Ich war müder, als ich es seit Jahren und Jahren gewesen war. Ich musste bis New York noch 580 Kilometer per Anhalter abreißen und hatte zehn Cents in der Tasche.“ Das war der lässige Sound von „Unterwegs“, On the road, dem Roman von Jack Kerouac, Mitte der 50er Jahre in den USA erschienen.

Ein Typ reist mit seinem Freund, mit vielen wechselnden Mädchen, flüchtigen Affären, Drogen durch sein Amerika, mit alten Autos, per Anhalter, auf Güterzügen, und er schreibt darüber atemlos und wie Musik, das klingt wie der neu aufkommende Jazz, und wir wollten alle sofort los und weg und auch unterwegs sein.

Das Buch wurde der Kultroman einer ganzen Generation, meine zerlesene Ausgabe ist von 1963. Heute weiß ich: da war vieles gekürzt und bereinigt, aber die ungekürzte Version gibt es inzwischen auch – hat einige Längen, heute natürlich auch nicht mehr den Sprengstoff von damals.

Das Buch war auch die Vorlage zum Kultfilm „Easy Rider“. Aus Buch und Film weht eine Sehnsucht nach Freiheit, die unter Umständen sehr teuer zu bezahlen ist. Auch Jack Kerouac hat bezahlt, er starb mit nur 47 Jahren, ausgelaugt.

Am 12. März ist der 100. Geburtstag des wilden Beatniks, der auf einer Rolle Fernschreiberpapier schrieb, um nicht jedes Mal ein neues Blatt einspannen zu müssen. Er hatte nie Geld, aber diese Rolle wurde 2011 bei Christie’s für fast zweieinhalb Millionen Dollar versteigert – soviel zum Thema Nachruhm.

Kann man das heute noch lesen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es damals eins meiner wichtigsten Bücher war im deutschen Nachkriegsgrau: es zeigte andere Möglichkeiten zu leben.

Jack Kerouac: „Unterwegs“, dt. von Thomas Lindquist, Rowohlt, 384 Seiten, 10 Euro / „On the Road. Die Urfassung“, 576 Seiten, dt. von Ulrich Blumenbach, 10 Euro.

Giulia Corsalini, „Die Tschechow Leserin“

Dies ist ein Buch aus einem kleinen Freiburger Verlag, der sich auf italienische Literatur spezialisiert hat, und mit diesem Roman von Giulia Corsalini ist ein sehr guter Wurf gelungen. Corsalini lebt in den Marken und lehrt Literatur an der Universität.

Ihr erster Roman erzählt die Geschichte von Nina, die in Kiew lebt und ihren kranken Mann betreut. Ihre Tochter Katja will studieren, das Geld fehlt, und so reist Nina in die kleine Stadt Macerata nach Italien und arbeitet dort als Altenpflegerin und im Supermarkt, um Geld nach Hause in die Ukraine schicken zu können.

In ihrer Freizeit sitzt sie in der Universitätsbibliothek und liest Tschechow, dessen Bücher sie immer schon geliebt hat. Und sie trifft auf einen Russischprofessor, der ihr anbietet, an der Universität Kurse abzuhalten. Das tut sie, ist fast glücklich in all ihrer Einsamkeit, aber dann wird ihr Mann lebensbedrohlich krank, und sie muss überstürzt zurück nach Kiew. Aber sie kommt zu spät, und das kann ihr Katja nicht verzeihen.

Acht Jahre später: Nina arbeitet in Kiew am Institut für russische Kultur und wird eingeladen, an einer Konferenz über Tschechow teilzunehmen – in Macerata. Sie fährt gern wieder hin, schon um den Professor Giulio de Felice wieder zu sehen, zu dem sie eine eigenartige Nähe und Bindung verspürt.

Und wir haben oft das Gefühl: Wir lesen Tschechow, denn hier wird nichts erklärt, beurteilt, bewertet – die Dinge geschehen, der Grundton ist melancholisch, und die Geschichte von Frauen aus der Ukraine, die illegal im Westen arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen, gespenstisch aktuell.

Giulia Corsalini: „Die Tschechow Leserin“, Nonsolo Verlag, 180 Seiten, 19,90 Euro

Mark Forsyth: „Eine kurze Geschichte der Trunkenheit“

In Europa ist Krieg und trotzdem ist auch Karneval. Lustig ist uns nicht zumute, aber ob lustig oder traurig: getrunken wird, dafür oder dagegen. Das Trinken gehört dazu, und zwar schon länger als der Karneval.

Vor Urzeiten, wahrscheinlich konnten die Menschen noch nicht mal aufrecht gehen, gab es vergorene Körner, fermentiertes Obst, man – wer auch immer – aß davon und konnte dann erst recht nicht mehr aufrecht gehen.

Der Alkohol war immer schon in der Welt, sogar Tiere mögen ihn, aber am besten kennt der Mensch sich aus und hat das Trinken immer mehr verfeinert. Dieses kenntnisreiche kleine Buch ist keine Geschichte des Alkohols, es ist tatsächlich eine Geschichte der Trunkenheit: Wie haben sich die alten Griechen, die Azteken, die Wikinger, wie die Kerle im Wildwest-Saloon und wie Mütterchen Russland – pardon: besoffen? Wie, mit was, und was waren die Folgen?

Man kriegt mit leichter Hand eine Menge historisches Wissen mit, wir haben es hier mit einem wirklich unterhaltenden Sachbuch zu tun. Der Autor – selbst kein Trinker!!! – weiß, dass man in heiterer Runde idiotische Witze erzählt, fürchterliche Lieder anstimmt und am nächsten Tag einen dicken Kopf hat, was aber vom nächsten Rausch nicht abhält. Manches ist einfach nüchtern nicht zu ertragen.

Nüchternheit, so unser Autor, sagt eher „nein“, selige Trunkenheit sagt „ja“ zum Leben, das wusste schon der biblische Noah: als er von der Arche runterkam, pflanzte er als erstes einen Weinberg. Und noch ein kleiner Liebesrat in diesen närrischen Tagen, er stammt aus dem alten Ägypten: „Kommst du betrunken nach Hause und legst dich aufs Bett, reibe ich dir die Füße ein.“

Mark Forsyth: „Eine kurze Geschichte der Trunkenheit“, Klett-Cotta, 271 Seiten, 10 Euro.

Alexis Ragougneau: „Opus 77“

In dieser Woche erschien im Unionsverlag ein Roman, in dem es um Musik geht –für mich immer ein spannendes Thema, also hab ich es, um mich mal von 700 Seiten Orhan Pamuk zu erholen, rasch dazwischengeschoben – und wurde nicht enttäuscht.

Es ist fast sowas wie ein Thriller, eine düstere Familiengeschichte, und eine literarische Hommage an die Musik, vor allem an Schostakowitschs Opus 77. Dieses Stück ist ein 1947 geschriebenes Violinkonzert, das erst aufgeführt werden konnte, als Stalin endlich tot war und der Komponist nicht mehr verfemt.

Hier nun spielt es eine berühmte Pianistin überraschend auf der Beerdigung ihres Vaters, wobei der Geigenpart einfach fehlt – den hatte früher ihr Bruder gespielt. Wir blicken in eine zutiefst gestörte Musikerfamilie: der Vater war ein autoritärer Dirigent, der Bruder labiler Geiger, die Mutter früher Sängerin, in Depressionen versunken, und die Tochter erfolgreich, aber hart und verschlossen geworden.

Und jetzt, auf dieser Beerdigung, zeigt sie mit Opus 77 die Dissonanzen in der Familie, die Zerstörungen, Enttäuschungen, wir hören beinahe beim Lesen Groll, Eifersucht, Ehrgeiz, Leidenschaft, und natürlich lesen wir – nämlich die Geschichte von David, den der Vater fast vernichtete und von Ariane, die das mit ihrem wütenden Spiel nun rächt.

Wir steigen ein in die Tragödie dieser Familie und haben am Ende des Buches fast sowohl ein Konzert besucht als auch einen Roman gelesen. Der französische Dramatiker Alexis Ragougneau hat in Frankreich viele Preise für diesen Roman bekommen, der nun auch auf Deutsch vorliegt.

Alexis Ragougneau: „Opus 77“, deutsch von Brigitte Große, Unionsverlag, 224 Seiten, 22 Euro.

Annika Büsing: „Nordstadt“

In diesen Tagen erscheint im Steidl Verlag ein Buch, das hoffentlich viel Beachtung finden wird: ein Debütroman von Annika Büsing, einer Lehrerin aus Bochum. „Einmal Ruhrgebiet, immer Ruhrgebiet “, sagte sie in einem Interview. Ihr erster Roman, Nordstadt, spielt genau dort, wo es rau und ruppig zugeht, und zwar meist in einem Schwimmbad.

Hier ist Nene, die Hauptfigur des Romans, Bademeisterin, denn das Schwimmen hat ihr geholfen, stark zu werden und ein paar schreckliche Dinge aus ihrem Leben zu vergessen. Und hier schwimmt auch ab und zu Boris, der schöne Pumaaugen und verkrüppelte Beine von der Kinderlähmung hat.

Ganz langsam nähern sie sich einander an, gehen ins Kino, Nele immer praktisch und geradeaus, Boris mal zugänglich, mal nicht, in Lügen verstrickt, zutiefst von Hänseleien schon verletzt – und doch entsteht eine Art Liebe. Nene erzählt rückblickend und wir ahnen schon, dass es nicht gut ausgeht.

Das ist aber das Schöne an diesem ebenso nüchternen wie poetischen Buch: Es klebt kein Zuckerherzchen drauf, wo kein Zuckerherzchen hingehört. Da ist Kummer, da ist aber auch viel Wut: „Manchmal nehmen wir ein Gefühl und verwandeln es in ein anderes. Wir nehmen Trauer und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Angst und verwandeln sie in Wut. Wir nehmen Liebe und verwandeln sie in Wut.“ Der erste Satz des Buches ist ihrer: „Ich liebe dich,“ sagt Nene. Und in der schlimmen Kälte, in der sie beide gerade draußen stehen, fragt er: „Wird das den Winter überdauern?“ Tut es nicht, aber ein bemerkenswert eindringliches Debüt ist entstanden, aus Liebe und Wut.

Annika Büsing: „Nordstadt“, Steidl, 123 Seiten, 20 Euro. Das Buch erscheint am 28. Februar.

Elias Hirschl: „Salonfähig“

Der junge Mann, der hier aus seinem Leben erzählt, ist Österreicher, gehört der rechtskonservativen Partei Junge Mitte an und ist sozusagen ein Schnösel der Generation Slim Fit: schmale Anzüge, teure Designerklamotten und –möbel, Porschefahrer. Vorm Spiegel übt er reden, lachen, gehen und die Haare so zu legen wie sein großes Vorbild, Parteichef Julius Varga. In Varga erkennen wir mühelos Österreichs smarten Ex-Kanzler Kurz.

Unser Erzähler bewundert ihn restlos, und seine Rhetoriktrainerin hat ihm geraten: „Suche dein Idol. Finde dein Idol. Werde dein Idol.“ Das tut unser Held, der kein eigenes Leben hat, nur ein nachgeahmtes, wie eine Art Karriereroboter kokst er sich durch die Nächte, vermeintlich auf der Überholspur, aber immer weiter ins Armselige abdriftend.

Ist das eine Satire? Eigentlich schon, wenn es nicht so fürchterlich denkbar wäre, dass sich reiche junge Menschen ohne irgendein Ziel und ohne eigene Meinung nur nach Äußerlichkeiten richten, nur nachahmen, nur irgendwie durchwurschteln. Wenn da der Absturz kommt – und der wird kommen – kann sich ein Julius Varga sich immer aus der Affäre ziehen, aber was bleibt für die inhaltslleeren, emotional verkorksten Mitläufer? Ihre Rhetoriktrainerin brauchen sie jetzt wohl nicht mehr, aber die Therapeutin mehr denn je.

Das liest sich frech, komisch und schon auch ziemlich gruselig und erinnert an Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ vor 30 Jahren, die Geschichte des Patrick Bateman, der an der Börse mit Milliarden jonglierte und zum Monster mutierte. Unser Monster hier ist gerade noch: salonfähig.

Elias Hirschl: „Salonfähig“, Zsolnay, 256 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.

Doris Knecht: "Die Nachricht"

Ruth lebt in dem Haus, in dem sie einst mit Mann und Kindern glücklich war, aber ihr Mann ist seit drei Jahren tot, die Kinder sind groß, und sie versucht, mit der neuen Situation klarzukommen. Das geht eigentlich ganz gut, aber dann ploppt in ihren E-Mails eine anonyme Nachricht auf. Nur ein einziger Satz: "Weißt du eigentlich von der Affäre deines prächtigen Ehemannes?"

Ja, sie wusste davon, es rumort noch in ihr, erschwert ihr das Trauern, aber wer zum Teufel schreibt so eine Mail und warum? Das beschäftigt Ruth und uns Leser nun über viele Seiten, und die Mails werden giftiger. Sie verdächtigt die ehemalige Geliebte - die war's aber nicht.

Und außerdem hat Ruth andere Sorgen, ihre Tochter Sophie kriegt ein Kind und will nicht sagen, von wem, ihr jüngerer Sohn kommt über den Tod des Vaters nicht weg, der ältere lebt in Amsterdam, ist schwul, seinen Freund kennt sie nicht, es passiert aber auch was Schönes: Ruth lernt Simon kennen, einen sehr interessanten Mann, der wieder ein bisschen Glück in ihr Leben bringt.

Aber irgendwas stimmt mit dem nicht, und immer, wenn sie sich besonders freut auf eine Reise, einen Abend, dann geht was schief - sehr merkwürdig. Und nach und nach wird die Geschichte zu einer Art Krimi: Woher kommen die Mails? Was ist mit Simon los? Wem kann Ruth noch trauen? Einer verletzten, trauernden Frau, die älter wird, kann jeder leicht Schmerz zufügen. Wie geht man damit um?

Das Buch ist aktuell, es bezieht die Coronazeit und den Lockdown schon mit ein, einen Lockdown, der uns allen ja Nähe und gesellschaftliches Miteinander noch schwerer macht.

Doris Knecht: "Die Nachricht", Hanser Berlin, 256 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.

Heinrich Steinfest: "Amsterdamer Novelle"

Eine Novelle (aus dem lateinischen: novella, die Neuigkeit) ist eine kurze spannende Erzählung, die, so habe ich es auf der Universität gelernt, eine "unerhörte Begebenheit" erzählt. Nach all den dicken Romanen griff ich neulich zur "Amsterdamer Novelle" des versierten Erzählers Heinrich Steinfest, einfach, um mich kurz mit etwas "Unerhörtem" zu erholen - und ich wurde nicht enttäuscht.

Es geht um einen Mann namens Roy Poulsen, der als Maskenbildner in Köln arbeitet. Sein Sohn Tom lebt in Amsterdam und schickt ihm ein Handyfoto: darauf ein Mann auf einem Fahrrad, in kurzen Hosen, vor einem alten Haus in einer Amsterdamer Gracht. "Der sieht aus wie du!", schreibt Tom. Poulsen sagt zuerst: Das bin ich nicht, ich trage keine kurzen Hosen, ich war noch nie in Amsterdam und Fahrrad fahre ich auch nicht - aber je länger er das Bild anschaut, desto verwirrter wird er. Das ist er.

Es lässt ihm keine Ruhe, er fährt nach Amsterdam und sucht in dem Viertel, in dem Tom das Foto gemacht hat. Und: Er findet das Haus. Die Tür steht offen, Poulsen geht hinein, und was jetzt geschieht, ist eine wirklich "unerhörte Begebenheit", es geht um Mord und Betrug und Fantasie und Realität, und ich verrate gar nichts, nur dass man mit großer Freude in eine völlig verrückte Geschichte eintaucht, die sowohl spannend als auch fantastisch ist, philosophisch und witzig, und ohne dass ich jetzt irgendwas ausplaudere, zitiere ich den Schluss: "Roy lief zurück zum Rad, setzte sich drauf und fuhr in westlicher Richtung davon, weg von dem Haus. Alles stimmte. Klick!"

Jetzt sind Sie dran mit Lesen und Staunen!

Heinrich Steinfest: "Amsterdamer Novelle", Piper, 110 Seiten, 15 Euro, E-Book: 12 Euro.

Paul Theroux: "Figuren in der Landschaft - Begegnungen auf Reisen"

Der Amerikaner Paul Theroux ist mit mehr als 30 Büchern einer der erfolgreichsten Reiseschriftsteller der Welt. Dies nun ist ein Lesebuch seiner wichtigsten Reiseberichte - sehr tröstlich in Zeiten, in denen wir selbst nur eingeschränkt reisen können!

Er erzählt von Reisen zu berühmten Menschen wie Liz Taylor, Robin Williams oder Michael Jackson oder Reisen auf den Spuren anderer großer Reisender wie Joseph Conrad oder Paul Bowles. Theroux ist ein kluger Beobachter, er nimmt sich selbst nie so wichtig, und er sagt: Der wahre Reisende muss bescheiden, geduldig, allein, anonym und wachsam sein.

Wir ahnen es schon, das ist kein Tourist. Ein Tourist fährt zur Erholung zwei, drei Wochen irgendwohin und dann wieder nach Hause. Der wahre Reisende lässt sich treiben, lässt sich auf Länder und Menschen und ganz und gar fremde Verhältnisse ein, von der Politik bis zur Küche eines Landes.

Und in diesem Fall lässt sich Theroux vor allem auf Menschen ein, der Titel sagt es. Eins der groteskesten Kapitel beschreibt, wie er mit Liz Taylor im Hubschrauber zu Michael Jackson auf die Neverland Ranch fliegt, dieses gigantische Kinderparadies, und geradezu herzzerreißend ist der Spaziergang mit Robin Williams, der endlich Depressionen und Drogensucht hinter sich habe und in einer neuen Ehe gut aufgehoben sei - für die New York Times hat Theroux das 1999 geschrieben.

Wir wissen: 2014 haben die Depressionen Williams wieder eingeholt und er hat sich erhängt. Theroux' Menschen- und Reiseberichte sind klug, packend, etwas ganz Besonderes, ein Gang durch Landschaften, ein Gang durch das Leben selbst.

Paul Theroux: "Figuren in der Landschaft - Begegnungen auf Reisen", Hoffmann & Campe, 525 Seiten, 28 Euro.

Jo Lendle: "Eine Art Familie"

In einem Interview sagte der Autor Jo Lendle: "Familie ist das, was wir anfangs kaum hinterfragen." Wir werden hineingeboren, aber irgendwann spüren wir, dass wir auf den Schultern voriger Generationen stehen und wollen mehr wissen. Und so entstand "Eine Art Familie", ein Roman über Lendles Großonkel Ludwig, der Mediziner und Pharmakologe war und lebenslang forschte zu den Themen Schlaf und Narkose, was ja auch eine Art Schlaf ist - wie tief, wie schläft man ein, wie wacht man auf?

Ein Sonderling muss er gewesen sein, dieser Lud, wie er in der Familie genannt wurde. Er hat einen Koffer voller Tagebücher hinterlassen, aus denen und aus einer gehörigen Portion lebendiger Fantasie konstruiert Lendle seinen mitreißenden Roman über einen verschlossenen Wissenschaftler, eine verwaiste Nichte namens Alma Grau, die zeitlebens mit ihm lebt und an ihn hinliebt und das Fräulein Gerner, das den Haushalt zusammenhält.

Diese drei sind "eine Art Familie", und der Roman ist darüber hinaus eine Art Wissenschaftsgeschichte vom 19. ins tiefe 20. Jahrhundert - denn Lud Lendle erforschte im Krieg auch die Folgen von Giftgas, und die Politik und die Zeitläufe spielen durchaus eine Rolle in diesem klugen, breitgefächerten Roman voller Poesie mit wunderbaren Sätzen wie diesen: "Die Zeit heilt nicht. Sie spielt dem Leiden nur vor, dass es nicht länger nötig ist. Sie lässt den Schrecken müde werde, bis er klein beigibt und schweigt."

Lendle hat ein wunderschönes Erinnerungsbuch über seinen bizarren, klugen Großonkel geschrieben, an den er keine wirkliche Erinnerung hat, "aber ich wünschte, es wäre eine".

Jo Lendle: "Eine Art Familie", Penguin, 368 Seiten, 22 Euro, E-Book: 19 Euro.

Otto Jägersberg: "Pianobar"

Im neuen Jahr wird der Schriftsteller Otto Jägersberg 80 Jahre alt. Er ist der Meister der kleinen Form, der pointierten Beobachtungen, Kurzfeuilletons, Gedankenblitze - wir haben es mit einem Flaneur durch Zeiten und Stile zu tun. So ein Mann passt in eine Pianobar, wo man beobachtet und trinkt und Pfeife oder Zigarre raucht, und das niemals in Hoodies oder Turnschuhen, sondern immer elegant: hier schreibt ein Herr.

Und er schreibt zum Beispiel: "Besuch bei alten Bekannten. Sie haben sich wieder einmal verändert, obwohl sie dieselben sind. Früher gefielen sie mir besser. Wahrscheinlich habe nur ich mich verändert."

Er denkt über die Liebe nach, "Liebe", schreibt er, "ist immer. Der Mensch ist dauernd von und durch Liebe gefährdet. Sie lauert überall, vorn wie hinterrücks." Also genau genommen: vor der Liebe sollte man sich hüten. Und auch die Pianobar, in der unser Beobachter scheinbar so entspannt sitzt, offenbart ihre Tücken: "Er spielt kleine Stücke, der Pianist der Pianobar, kleine melodische Häppchen, die er zu einem Menü bindet. Es hört und hört nicht auf."

Ein leiser Überdruss spricht aus all dem, und er kann sogar richtig hämisch werden: "Nicht damit gerechnet, dass nach der Hochzeit noch eine Ehe kommt. Jetzt hamse den Salat."

Das ist vergnüglich zu lesen, man überprüft eigene Ansichten, eigene Erfahrungen, und wenn das Leben unzumutbar wird, flüchten wir uns in Bücher, Bücher wie dieses: "Da können wir alles Versäumte hineinlesen." Und dann werden wir vielleicht so gelassen wie dieser Autor: "Ich will sehen, wie Schnee fällt, sonst nichts."

Otto Jägersberg: "Pianobar", Diogenes, 263 Seiten, 24 Euro.

Albert Camus und Maria Casarès: "Schreib ohne Furcht und viel - Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959"

Eine Liebesgeschichte in Briefen: Sie war die Schauspielerin Maria Casarès, durch den Film "Kinder des Olymp" weltberühmt geworden und er der Nobelpreisträger Albert Camus, wie ein Donnerschlag trifft beide 1944 die Liebe bei der ersten Begegnung. Sie trennen sich, aus Vernunft, er ist verheiratet. Und begegnen sich zufällig 1948 wieder und bleiben Liebende bis zu Camus' Tod.

Und schreiben sich Briefe, 865 sind erhalten und zeugen in diesem Band von nie versiegender Leidenschaft, sind ein nicht endendes, atemloses Gespräch, 583 Seiten füllen allein die Briefe des Jahres 1950! Ich erwähne dieses gewaltige Buch vor Weihnachten, weil es darin um fast nichts als die Liebe als Lebensquelle geht. "Mein liebster Schatz, als ich vorhin Deinen Brief bekam, sagte ich mir vor dem Öffnen, dass er als solcher schon ein Wunder sei. Ich habe den Brief in den Händen gedreht und Dich geliebt." (Er an sie) "Mein Liebster, ach, wie schwierig es ist, ohne einander zu leben, nicht wahr?" (Sie an ihn) "Mein Liebster, zehn Jahre geteiltes Leben verbinden zwei Menschen für immer im Innersten der Welt, und sie können sich nicht mehr voneinander losreißen, ohne sich aus dem Herzen der Welt loszureißen." (Sie an ihn)

"Letzter Brief, um dir zu sagen, dass ich am Dienstag komme, bis bald, meine Prächtige. Ich bin so froh, bei der Aussicht, dich wiederzusehen, dass ich beim Schreiben lache." (Er an sie) Er sah sie nicht wieder: vier Tage später, Anfang Januar 1960, starb Camus nach einem Autounfall.

Albert Camus und Maria Casarès. "Schreib ohne Furcht und viel - Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959 ", Rowohlt, 1565 Seiten, 50 Euro

Adeline Dieudonné,: „Bonobo Moussaka"

Na klar gibt es auch schöne Weihnachtsessen. Aber es gibt eben auch die, bei denen man seufzend mit am Tisch sitzt und denkt: Wär ich doch bloß zuhause! Wer sowas vor sich hat, der sollte noch rasch diesen Monolog von Adeline Dieudonné lesen, Gedanken bei einem Weihnachtsessen.

Da sitzt die alleinerziehende Mutter mit ihren zwei Kindern bei Cousin Martin und seiner Musterfamilie im vollgestopften Musterhaus, und ein befreundeter Bankier mit Frau und Kind ist auch noch eingeladen und nichts, was sie reden, ist irgendwie interessant oder auch nur angenehm. Sie geben voreinander an und blähen sich auf. Und im Kopf der Mutter kreisen böse und bissige Gedanken über den Mist, der da geredet wird, über das verlogene Ritual, über diese ganze unwürdige Lügerei und Protzerei, während sie, während die ganze Welt doch wirklich andere Sorgen hat, und auf der Heimfahrt möchte sie sich am liebsten bei ihren Kindern für diesen missglückten Abend entschuldigen.

Und der seltsame Titel? Erklärt sich von selbst in diesem langen Monolog, der ursprünglich ein Eine-Frau-Theaterstück war, ein Stück, das wie unter einer Lupe aufzeigt, was mit uns und unserer Gesellschaft nicht stimmt. Warum sind wir so ohne Mitgefühl? So eitel, so angeberisch? Sind wir traurig oder bockig? Können wir da vielleicht mal rauskommen, Freunde werden?

Der Text ist ein Strom von Gedanken, von Assoziationen, Erinnerungen und Momentaufnahmen, er ist wie ein Song– voller Wut und Liebe und er endet mit der Frage, ob man etwas ändern kann: „Ich weiß zwar noch nicht wie. Aber ich werde einen Weg finden!“

Adeline Dieudonné,: „Bonobo Moussaka“, dt. von Sina de Malafosse, dtv, 112 Seiten, 10 Euro.

Dorothy Gallagher: „Und was ich dir noch erzählen wollte“

Wenn mir die Bücherstapel zu hoch und zu viel werden, greife ich manchmal nach etwas ganz Schmalem, zur Erholung von all den dicken Romanen. Funktioniert nicht immer, aber diesmal war es das perfekte Buch: Dorothy Gallagher, „Und was ich dir noch erzählen wollte“, eine Art Monolog von 122 Seiten.

Eine Frau erzählt ihrem Mann, wie sie jetzt lebt und erinnert sich an die gemeinsamen 30 Jahre. Denn Ben, ihr Mann, ist ganz plötzlich gestorben, vor fünf Jahren. Die Gespräche mit ihm fehlen ihr, und so schreibt und redet sie also nun davon, wie New York sich verändert hat, wie sie umgezogen ist in eine kleine Wohnung, welche von den alten Sachen sie mitgenommen hat und welche nicht.

Und am Anfang klingt alles nach „ach, wärst du doch hier“, aber im Laufe des Erzählens kommt sie immer mehr bei sich selbst an, entdeckt im Alleinsein ihr eigenes Leben wieder und fragt am Ende: „Stell dir vor, du sähest mich auf der Straße. Würdest du mich gleich erkennen? Ich habe meine Haare grau werden lassen…“ Sie fragt ihn, ob er je bedacht hätte, alt zu werden.

Ihr eigenes Alter spürt sie erst, seit er weg ist. Weißt du noch, sagt sie, „Nicht jung zu sein? Undenkbar! Unmöglich: Und doch: ohne das Undenkbare zu denken, hatten wir das Unmögliche geschafft.“ Wenn sie etwas falsch macht, fehlt ihr sein Kommentar: „Du schimpfst nicht mehr mit mir; alles muss man selber machen.“

Wir erfahren, dass Ben die 30 Jahre hindurch schwer krank war, er hatte MS. Sie kamen beide damit klar, und trotzdem war sein Tod eine Überraschung, ein Schock. Von all dem erzählt sie, und es ist warm und schön zu lesen.

Dorothy Gallagher: „Und was ich dir noch erzählen wollte“, dt. von Monika Baark, Aki Verlag, 122 Seiten, 20 Euro.

Cees Nooteboom: „Endlose Kreise. Reisen in Japan“

Sein ganzes Leben lang war der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom, der jetzt 88 Jahre alt ist und immer wieder für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, ein leidenschaftlicher Reisender. Schon mit 17 trampte er durch Europa, mit 24 heuerte er als Leichtmatrose auf einem Schiff in die Karibik an, er hat die ganze Welt bereist und beschrieben, am meisten aber zog es ihn immer wieder nach Japan, dieses rätselhafte Land, das sich uns wohl schwerer als jedes andere auf der Welt erschließt.

Das brodelnde Tokio gegen die leeren Zen Gärten, die grotesken Mangafiguren gegen die weißgeschminkten Geishas, der schnellste Zug gegen die tiefste Meditation und Versunkenheit, wie passt das alles zusammen, Teezeremonie und Yamaha Rennmotorräder? Jahrtausendealte Kaiserkultur und modernste Industrie?

Das Rätsel dieser Unvereinbarkeiten hat Nooteboom immer wieder nach Japan getrieben, und dieses Buch vereint Aufsätze über seine vielen Jahrzehnte auseinander liegenden Reisen dorthin. Um Japan zu verstehen, meint er, müsste man letztlich sich selbst und sein Leben völlig ändern, und selbst dann: dazugehören würde man nie, bliebe immer ein gaijin, ein Fremder.

Aber darüber zu lesen, das ist faszinierend, fast schon meditativ und ein wirklicher Zauber. Am ehesten erschließt sich wohl dieses Land über seine Literatur, wenn wir Murakami, Kawabata, Oe lesen, wenn wir japanische Filme sehen – oder ein Buch lesen, in dem ein Autor wie dieser Niederländer sich so total auf das Allerfremdeste einlässt und glücklich dabei ist. Das macht auch uns Leser, ja: glücklich.

Cees Nooteboom: „Endlose Kreise. Reisen in Japan“, dt. von Helga van Beuningen, Schirmer/Mosel, 256 Seiten, 29,80 Euro.

Robert Louis Stevenson: „Die Schatzinsel“

Am 13. November, hat er Geburtstag, der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson – und wenn es auch kein runder Geburtstag ist, er wurde 1850 geboren, so wollen wir doch an sein berühmtestes Buch erinnern: Die Schatzinsel.

In meiner Kindheit wurde noch streng zwischen Jungen- und Mädchenbüchern unterschieden, aber bei Tom Sawyer, Robin Crusoe und der Schatzinsel – da trafen wir uns wieder, und auch kleine Mädchen gruselten sich gern vor Long John Silver, dem Piraten mit dem einen Bein, der den Schatz von Captain Flint an sich reißt.

Die Geschichte erschien 1881 zuerst als Fortsetzungsroman in einer Jugendzeitschrift, und 1883 dann als Buch, das sofort ein Erfolg wurde und es bis heute geblieben ist. Stevenson war tuberkulosekrank, er ist schon mit 44 Jahren gestorben, und in der Zeit des Krankseins malte er für seinen Stiefsohn Lloyd die Karte einer Insel, auf der ein Schatz vergraben lag.

Später wurde ein Buch daraus, es ist Lloyd gewidmet, und der Erzähler Jim Hawkins, der mit einer Crew zur Schatzinsel aufbricht, ist etwa in Lloyds Alter – 17 Jahre, und tapfer und mutig wie er. Alle Kinder kannten damals Bill Bones, den blinden Pew, Dr. David Livesey und natürlich Long John Silver.

Übrigens: die Piraten versaufen ihren Teil des Schatzes am Ende und das bringt allen Unglück; Jim Hawkins finanziert mit seinem Teil seine Ausbildung – da sehen wir mal: auch Piratenbücher können wohltuenden Einfluss haben auf junge Leser!

Robert Louis Stevenson: „Die Schatzinsel“ (in verschiedenen Ausgaben, etwa bei dtv, 12,90 Euro)

Castle Freeman: „Herren der Lage“

Vom texanischen Autor Castle Freeman kennen wir so schöne Titel wie „Männer mit Erfahrung“ oder „Der Klügere lädt nach“, schmale Romane über eine Kleinstadt namens Cardiff, und da passiert immer was. Was passiert hier? Beim gelassenen Sheriff Lucian Wing taucht ein aufgeblasener Anwalt namens Armentrout aus New York auf, dickes Auto, dicke Sprüche, die Tochter seines millionenschweren Bosses ist verschwunden, und zwar mit einem nichtswürdigen Jungen aus eben diesem Cardiff. Der Sheriff soll sie sofort herschaffen, sonst knallt’s.

Es erscheinen vom Vater bestellte Gangstertrupps, die ihn dazu zwingen wollen – aber mit der Zähigkeit und dem Witz des Sheriffs haben die nicht gerechnet, und das Ganze wird ein richtig schöner Kleinstadtwestern, in dem auch ein großes Wildschwein namens Big John eine bedeutende Rolle spielt.

Statt dass dauernd geschossen wird, lacht man eigentlich die ganze Zeit, weil sich hier die New Yorker Millionäre am Witz und an der Gerissenheit der vermeintlichen Hinterwäldler ordentlich abarbeiten.

Das alles ist unterhaltend, brillant lakonisch erzählt und endet natürlich gut für die beiden Jugendlichen – um die es letztlich so sehr gar nicht geht. Es geht darum, die Typen und die Strukturen in so einer kleinen Stadt zu zeigen, in der alles bestens funktioniert, weil man die Dinge etwas weniger hysterisch nimmt als in städtischen Bonzenkreisen.

Castle Freeman: „Herren der Lage“, Hanser, 182 Seiten, 20 Euro.

Anne Tyler: „Der Sinn des Ganzen“

Die amerikanische Autorin Anne Tyler wird am 25. Oktober 80 Jahre alt, deshalb möchte ich hier mal wieder auf sie aufmerksam machen – eine Frau, die mehr als zwanzig Romane geschrieben hat, immer über völlig unspektakuläre „normale“ Menschen, Alltagsgeschichten, wie wir sie alle mehr oder weniger auch kennen.

Aber wie Anne Tyler das macht, mit wie vielen Feinheiten, mit vorsichtiger Zuneigung für ihre Figuren, mit viel versteckter Spannung – das hat ihr schon zweimal den Pulitzerpreis eingebracht und das macht sie zu einer der großartigsten Erzählerinnen überhaupt.

Gerade erschien neu im Taschenbuch ihr Roman „Der Sinn des Ganzen“, die Geschichte eines Computerfachmanns, den ein plötzlich auftauchender Sohn völlig aus der Bahn seiner täglichen Rituale wirft. Aber man kann jedes Buch von Tyler lesen und findet immer Menschen und Schicksale, die mit uns auch zu tun haben: in „Launen der Zeit“ verlässt Willa ihre Familie, um für ein ihr völlig unbekanntes Kind zu sorgen, in „Der leuchtend blaue Faden“ geht es um Familiengeheimnisse, in „Abschied für Anfänger“ um einen Witwer, der seine tote Frau innerlich nicht loslassen kann, in „Verlorene Stunden“ um einen Mann, der bei einem Überfall sein Gedächtnis verliert – kurzum: wo immer wir Anne Tyler aufschlagen, sind wir mitten im Leben ganz normaler Menschen.

Die Geschichten sind glänzend erzählt, mit guten Dialogen, wir lesen gespannt, getröstet, und das ist ja schließlich irgendwie auch „Der Sinn des Ganzen.“ Entdecken Sie Anne Tyler im Verlag Kein&Aber, ihr Werk ist dort auch in schön aufgemachten Taschenbüchern erhältlich.

Anne Tyler: „Der Sinn des Ganzen“, deutsch von Michaela Grabinger, Kein&Aber, 224 Seiten, 13 Euro.

Natascha Wodin: "Nastjas Tränen"

Von der Autorin Natascha Wodin wissen wir, dass sie als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter in Deutschland geboren wurde und mit elf Jahren ihre Mutter durch Freitod verlor. In diesem ergreifenden Buch erzählt sie von einer ukrainischen Emigrantin, die bei ihr als Putzfrau beginnt, deren Schicksal sich mit ihrem verbindet, die, weil ein Touristenvisum abläuft, in die Illegalität rutscht und deren ganzes Leben im Grunde nur Flucht, Ausbeutung, Angst, Enttäuschung ist. Im Elend und Heimweh dieser Nastja erkennt Wodin das Heimweh und Elend ihrer Mutter wieder und auch die ewige Angst vor den Kämpfen mit Behörden, vor den Fallstricken der Bürokratie, das Gefühl, bis an die Grenzen der Kraft zu schuften und doch immer ein Niemand zu bleiben. Nastja ist stark, geduldig, belastbar, aber selbst sie kommt „allmählich an die Grenzen ihrer slawischen Leidensfähigkeit.“ Und als Wodin einmal eine Schallplatte mit ukrainischer Volksmusik auflegt, da geschieht es: „Ich hatte Nastja mit der Musik eine Freude machen wollen, aber stattdessen brach sie, die immer so zurückhaltend und scheinbar unbeschwert gewesen war, in Tränen aus.“ Und um diese Tränen, die endlich fließen, Tränen über den Verlust der Heimat, Tränen über all die Schufterei und die Willkür der Behörden, Tränen über die Erniedrigung und das Versinken aller Lebensträume, um diese Tränen geht es in einem Roman, der fast lakonisch und nüchtern wie ein Tatsachenbericht geschrieben ist, und den Leser doch bis ins Mark erreicht und erschüttert. Wie wenig wissen wir doch vom Kummer dieser Menschen, die mit und unter uns leben.

Natascha Wodin: "Nastjas Tränen", Rowohlt, 192 Seiten, 22 Euro.

Nina Bouraoui: „Geiseln“

So beginnt dieser Roman, der es in sich hat: „Ich heiße Sylvie Meyer. Ich bin dreiundfünfzig Jahre alt. Ich bin Mutter zweier Kinder. Ich lebe seit einem Jahr von meinem Mann getrennt. Ich arbeite bei Cagex, einem Gummiunternehmen. Ich bin für die Produktionskontrolle zuständig. Ich bin nicht vorbestraft.“

Das hört sich an wie die Aussage bei einem Verhör, und genau das ist es auch. Nun kennen wir die Eckdaten von Sylvie Meyers Leben, und die werden jetzt auf nur wenigen Seiten gefüllt mit mehr Leben, einem Leben, das dahin führte, dass sie ihren Chef bedroht und eine Nacht als Geisel genommen hat. Dem Chef ist weiter nichts passiert, außer, dass er eine Weile Angst hatte vor dieser sonst so gefügigen Frau da plötzlich mit einem Messer.

Und warum hat Sylvie das getan? Weil alles Elend ihres Lebens, ihres Alltags, die Missachtung, Ausbeutung, Benutzung irgendwann einfach explodierten, weil sie einmal nicht fügsam sein und sich für kurze Zeit frei fühlen wollte. War es das wert? Der Roman urteilt nicht, aber Nina Bouraoui erzählt so, dass wir Sylvie Meyer verstehen und dass nicht nur sie kurzzeitig eine Geisel nimmt, einen Mann, der ihr moralisches Empfinden verletzt hat, sondern dass sie selbst, dass alle, die in Fabriken ausgebeutet werden wie sie, Geiseln sind, Geiseln ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrer ständig verletzten Gefühle.

Ich bin nicht verrückt, schreibt Sylvie an ihren Mann, der sie verlassen hat. „Ich war aus der Mitte gefallen.“ Das ist mit nur wenig mehr als 100 Seiten ein ebenso intimer wie hochpolitischer, auf alle Fälle ein erschütternder Roman.

Nina Bouraoui: „Geiseln“ , dt. von Nathalie Rouanet, Elster Verlag, 125 Seiten, 19 Euro, E-Book: 13 Euro

Jami Attenberg: „ Ist alles deins!“

Jami Attenberg kann einfach grandios Familiengeschichten schreiben, diesmal ist es die Familie Tuchman in New Orleans, und alles spielt an einem einzigen langen, heißen Augusttag. Der Familienboss, ein skrupelloser Geschäftsmann und nicht sehr angenehmer Vater liegt mit Herzinfarkt im Krankenhaus und die Familie läuft auf.

Eine sehr spezielle Familie. Eine kühle, stets 1a geschminkte Mutter, ein Sohn, Gary, der diesen Vater überhaupt nicht mehr sehen will und Alex, die Tochter, die darüber nachdenkt, was in dieser Familie alles schiefgelaufen ist. Das Buch dröselt so nach und nach die Frage auf, warum dieser Vater so ein Monster war, warum die Mutter trotzdem immer zu ihm und selten zu ihren Kindern gehalten hat, und obwohl das ernste Themen sind, lacht man dauernd beim Lesen.

Irgendjemand hat mal gesagt, Jami Attenberg hätte eine Sprache wie Champagner, und da ist wirklich was dran: da perlt ein Witz, eine Frechheit, eine komische Schnelligkeit, dass die Lektüre zum reinen Vergnügen wird, obwohl man dieser Familie eigentlich lieber nicht begegnen möchte.

Hier wird am Sterbebett eines ziemlich grässlichen Menschen ordentlich aufgeräumt, und man kann nur staunen: manchmal gibt es kein Verzeihen.

Attenberg ist eine wunderbare Erzählerin. Sie denunziert nicht, sie versucht, ihre Figuren zu verstehen, zu erklären und zu zeigen, wie dicht das Netz von Hass, Liebe, Schuld und Reue ist und wie sehr – auch das!- das Verhalten der Eltern das Leben der Kinder prägt. Dass sie das mit so viel Humor tut, macht das Buch zu einer wirklich ungetrübten Lesefreude.

Jami Attenberg: „ Ist alles deins!“, deutsch von Barbara Christ, Schöffling, 316 Seiten, 24 Euro.

F. Scott Fitzgerald: „Partytime – Geschichten aus den Roaring Twenties“

Wir Leser wissen, was wir an F. Scott Fitzgerald haben: zum Beispiel „Der große Gatsby“ oder „Zärtlich ist die Nacht“, und natürlich wunderbare Geschichten über die wilden 20er Jahre, in denen er und seine Frau Zelda das glamouröseste Paar überhaupt waren, nicht nur in den USA: legendär ihre Auftritte, ihre Partys, ihre Bäder in öffentlichen Brunnen, ihre Streitereien in der Öffentlichkeit, ihr Luxus – aber wir wissen auch: er war Alkoholiker und Zelda litt unter psychischen Problemen und vegetierte am Ende elend in Kliniken.

Am 24. September, war Fitzgeralds 125. Geburtstag, im echten Leben wurde er aber nicht mal 45 Jahre alt. Der Diogenes Verlag hat ein wunderschönes Büchlein zu diesem Gedenktag herausgebracht – hellgrünes Leinen mit Goldprägung, und darin sieben seiner besten Kurzgeschichten, die wir in dieser Prachtausgabe unbedingt wieder lesen sollten.

Welch exakte Beobachtung der sogenannten feinen Gesellschaft, wie viele Träume von einem besonderen Leben beschreibt er! Herzzerreißend all die missglückten Liebes- und Lebensentwürfe, die Sehnsüchte, aus Kleinstädten heraus zu kommen, endlich den oder die Richtige zu heiraten, ach, und diese grässlichen Tanzveranstaltungen, wenn einen der Falsche auffordert und alle Hoffnungen zerstieben, und der Skandal, wenn man sich aus Trotz einen Bubikopf schneiden lässt und plötzlich nicht mehr zur Gesellschaft gehört…mit feinstem Pinsel skizziert Fitzgerald eine Gesellschaft, die auf dem Vulkan tanzt. Mit Börsencrash und Krieg ist dann eh alles vorbei – aber diese großartigen Geschichten sind geblieben.

F. Scott Fitzgerald: „Partytime – Geschichten aus den Roaring Twenties“, Diogenes, 270 Seiten, 22 Euro.

Una Mannion: "Licht zwischen den Bäumen"

Es beginnt im Auto von Faye Gallagher, es ist 1981, der erste Tag vor den Sommerferien, und Faye fährt mit ihren fünf Kindern in ihr abgelegenes Haus am Berg. Der Vater ist vor einiger Zeit gestorben, die Kinder vermissen ihn, mit der überforderten Mutter ist es eher schwierig. Und auch im Auto kommt es zum Krach mit der zwölfjährigen Ellen. Die Mutter hält an, schmeißt Ellen aus dem Auto und fährt mit den vier anderen entsetzten Kindern weiter.

Es ist Nacht, und bis nach Hause sind es fast zehn Kilometer. Was nun passiert und aus Sicht der fünfzehnjährigen Libby erzählt wird, löst eine Kette von hochdramatischen Ereignissen aus.

Ellen fährt per Anhalter und gerät an einen Kerl mit langen weißen Haaren, der sie begrapscht und an der gewünschten Stelle nicht anhält. In ihrer Angst lässt sie sich in einer Kurve aus dem fahrenden Auto fallen und kommt verletzt zu Hause an.

Der Mutter sagen die Kinder zunächst nichts, aber ein Bekannter der Familie findet den Langhaarigen und schlägt ihn zusammen, und nun gerät alles aus dem Ruder. Das ist eine psychologisch fein geschriebene Familiengeschichte über das Erwachsenwerden dieser Kinder.

Una Mannion wuchs mit sieben Geschwistern auf und kennt die starken Verbindungen und die feinen Haarrisse in Geschwisterbeziehungen sehr gut und kann wunderbar erzählen. Das Buch schmerzt: Hier ist niemand wirklich glücklich und keine Familie funktioniert. Und doch ist in allen auch eine tapfere Liebe, die ein Weitermachen immer ermöglicht.

Una Mannion: "Licht zwischen den Bäumen", deutsch von Tanja Handels, Steidl Verlag, 337 Seiten, 24 Euro.

Marion Karausche: "Der leere Platz"

Eine Mutter kann nur so glücklich sein wie ihr unglücklichstes Kind" - so lautet das Motto zu dieser bewegenden Familiengeschichte. Aus der Sicht einer Mutter, Marlen, erzählt Marion Karausche in ihrem Debütroman vom langsamen Auseinanderdriften einer glücklichen Familie, weil der intelligente, fröhliche, studierende Sohn Kai sich plötzlich dramatisch verändert: Er will nichts mehr mit den Eltern zu tun haben, kommt nach einem Urlaub nicht zurück, wird schließlich auf der Straße aufgegriffen, als er sein Auto und seine persönlichen Dinge verbrennt.

Er landet in der Psychiatrie, wo die erschütterten und ratlosen Eltern zu verstehen versuchen, was da eigentlich los ist. War es ein Drogenrausch, aus dem Kai nicht zurückfindet? Ist er krank? Die Diagnose wird gestellt: Schizophrenie. Kai hat klare Momente, wenn er seine Tabletten nimmt, und er fällt zurück in Apathie oder Raserei, wenn er sie nicht nimmt.

Karausche erzählt diese Achterbahnfahrten zwischen Liebe, Verzweiflung, Ratlosigkeit sehr intensiv und einfühlsam, wir ahnen, wie schwer es ist, in die Mühlen von Kliniken, Ärzten, Polizei, Betreuung zu geraten und wie schier unmöglich es ist, für so einen Kranken ein angemessenes Leben zu finden.

Marlen gibt nie auf, nicht einen Moment. Wenn Ärzte, Betreuer, sogar Kais Vater nicht weiterwissen, ist sie da, fängt ihr krankes Kind auf, das längst kein Kind mehr ist, sondern ein Mann, und sie muss ansehen, wie alles andere um sie herum zerbricht. Selten fächert sich in einem Debüt eine solche Palette von Sanftheit und Verzweiflung, von Drastik und Poesie auf. Ein unvergesslicher Roman.

Marion Karausche: "Der leere Platz", Kein & Aber, 271 Seiten, 22 Euro, E-Book 17,99 Euro

Werner Herzog: "Das Dämmern der Welt"

Werner Herzog treibt sich als Regisseur wilder Filme wie "Fitzcarraldo" oder als Autor besonderer Bücher wie "Vom Gehen im Eis" gern in sehr unwirtlichen Gegenden herum, Gegenden, die den Menschen das Äußerste abverlangen.

In diesem neuen Buch nun schildert er eine Begegnung mit dem Japaner Hiroo Onoda, dem Mann, sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch weitere 30 Jahre bis 1974 im Dschungel der Insel Lubang versteckte, die Stellung hielt, nicht wusste, dass der Krieg längst zu Ende war und für seinen Kaiser kämpfte, gegen wen eigentlich? Alle Versuche, ihn dort zu finden, unterlief er, wusste sich zu tarnen, zu verstecken, zu überleben.

Werner Herzog beschreibt das in geradezu atemlos machenden Bildern von einer Intensität und Poesie, wie ich lange nichts gelesen habe. Er erfindet, er vermutet, wie ein Mensch so etwas überlebt und aushält, aber er kann sich auch auf Tatsachen stützen, denn er hat Onoda, der 2014 mit 91 Jahren starb, noch kennengelernt und mit ihm über all das sprechen können.

Herzog war genau der richtige Mensch dafür, um diesen Mann zu begreifen, seinen Mut, seine Einsamkeit, seinen Stolz - und auch sein Dahinleben oft am Rande einer Art Wahnsinn - was war noch Gegenwart, was Vergangenheit, was Zukunft?

"Es gab keinen Beweis, dass er, wenn er wach war, wach war, und keinen Beweis, dass er, wenn er träumte, träumte. Das Dämmern der Welt." Dies ist ein ganz besonderes Buch, das ein ungewöhnlicher Mensch über einen anderen ungewöhnlichen Menschen geschrieben hat. Und es ist auch: ein Buch gegen jeden Sinn von Kriegen.

Werner Herzog: "Das Dämmern der Welt", Hanser, 127 Seiten, 19 Euro, E-Book 14,99 Euro

Dieter Forte: „Das Muster“

Dieter Forte, ein deutscher Autor, der lange in Basel lebte und dort 2019 starb, war vor allem berühmt für seine Theaterstücke. Aber er hat auch großartige Romane geschrieben, der mir liebste heißt „Das Muster“.

Und wenn wir heute so viel streiten über Identität und Überfremdung und Einwanderung – ach, als hätte es das nicht immer schon gegeben! Es zieht sich doch seit Jahrtausenden wie ein Muster durch die Völker, dass es Zuwanderungen, Abwanderungen, Vermischungen gibt, und wie schrecklich langweilig wäre es denn auch anders!

In diesem Roman, der der Auftakt zu einer Trilogie ist, erzählt Dieter Forte, wie eine italienische Seidenweberfamilie, die Fontanas und eine polnische Bauernfamilie, die Lukacz' quer durch die Jahrhunderte auf der Reise sind, auf der Flucht vor politischer und religiöser Verfolgung die einen, auf der Flucht vor Armut und Perspektivlosigkeit die andern, bis beide Familie irgendwann im 20. Jahrhundert im Ruhrgebiet landen.

Und Friedrich Fontana, der Leichte aus Italien, lernt Maria Lukacz kennen, die Schwerblütige aus Polen, er verliebt sich in sie, heiratet sie, und das Muster aus vielen verschiedenen Lebensfäden webt ein neues Bild, eine neue Familie. Und am Ende dieses Buches tauchen schon die Nazis auf, denen solche Art Vermischung gar nicht gefällt und die von der reinen Rasse schwafeln, als ob es die gäbe.

Fortes Bücher sind glänzend erzählt, sehr unterhaltsam und dennoch klug und sie spannen ein weites Panorama von der Vergangenheit in die Zukunft.

Im August stelle ich Ihnen vier Bücher vor, die schon älter sind. Heute Nr. 3: Dieter Forte: „Das Muster“, S.Fischer, 320 Seiten, 15 Euro.

Daniela Krien: "Der Brand"

Mit ihrem Roman "Die Liebe im Ernstfall" hat die 1975 geborene Daniela Krien einen veritablen Bestseller hingelegt. Und das neue Buch, obwohl sehr viel leiser, hat auch das Zeug dazu, es ist eine wunderbare Lektüre, die berührt, bewegt und unterhält - was ein Roman ja schließlich auch bewirken sollte.

Es geht um ein Ehepaar, das seit 30 Jahren verheiratet ist, Rahel und Peter, freundliche, kluge Menschen, die gut miteinander umgehen, aber Liebe und Leidenschaft sind nach der langen Zeit auf der Strecke geblieben. Peter kann sich damit irgendwie arrangieren und zieht sich zurück, Rahel kann es nicht, leidet, sucht, kämpft, versucht, eine Art Nähe wiederzufinden, über die täglichen Rituale und Höflichkeiten hinaus.

Wir sind mit den beiden in einem Ferienhaus, in das sie eigentlich gar nicht wollten, aber es gehört einer Freundin, deren Mann in der Klinik liegt, und jemand muss sich um Haus, Garten, Tiere kümmern. Das tun Rahel und Peter gewissenhaft, es fängt sogar an, ihnen zu gefallen, und in der Abgeschiedenheit und den täglichen Ritualen bricht so einiges auf: Wut, Enttäuschung, aber endlich wird mal geredet, endlich kommt alles auf den Tisch, hier kann man sich nicht groß aus dem Weg gehen.

Und diese Nähe, die Gespräche, auch der Zorn - die bringen am Ende, so scheint es, sogar die Liebe zurück. Und natürlich ist das eine andere Liebe als die der früheren Jahre - aber es ist etwas, das hält und verbindet, und so ist dieser Roman ein feiner, leiser, hoffnungsvoller Trost: ein geglücktes Leben ist möglich.

Daniela Krien: "Der Brand", Diogenes 272 Seiten

Éliette Abécassis: „Mit uns wäre es anders gewesen“

Nichts beschäftigt uns doch letztlich mehr als unser eigenes Leben, die Verhältnisse und Beziehungen, in den wir stecken, die Liebe, an der wir scheitern oder glücklich werden. Und manchmal hat sich jeder schon gefragt: Wie wäre es mit jemand anderem wohl verlaufen? Glücklicher? Besser? Richtiger?

Wie wäre es, wenn Amélie und Vincent nicht so jung, unerfahren und schüchtern gewesen wären und sich beim ersten Treffen gleich mal geküsst hätten? Stattdessen verlieren sie sich aus den Augen, heiraten andere Partner, werden unglücklich, treffen sich zufällig immer mal wieder, fühlen sich zueinander hingezogen, haben nicht den Mut, etwas zu wagen – und so zerbröselt ihrer beider Leben vor sich hin.

Aber: Wäre es miteinander wirklich so anders gewesen? Liegt es nur an der Richtung, die wir einschlagen, oder ist nicht eine Art Scheitern immer schon vorprogrammiert, weil der Alltag die Liebe nun mal abnutzt?

Was für ein feines, kluges Buch über dieses Thema: „Die Hälfte der Fehler, die wir im Leben begehen, sind überstürztem Handeln geschuldet, die andere Hälfte fehlendem Tatendrang.“ Na, dann ist ja alles Schiefgehen schon vorherbestimmt – was denn nun, Augen zu und durch?

Nein, sagt Abécassis, nur nie aufgeben. Alles kann sich immer und jederzeit noch ändern, zum Guten, auch nach 30 Jahren noch. Man muss es nur tun. Auch bei Amélie und Vincent, die nun alt geworden sind? „Sie fragte ihn, warum ihre Liebe nicht möglich gewesen sei, und er antwortete, sie sei nicht unmöglich gewesen, sie hätten nur nie gewusst, wie sehr sie möglich war.“ Ich glaube, das geht gut aus. Bei uns auch?

Éliette Abécassis: „Mit uns wäre es anders gewesen“ , deutsch von Julia Schoch, Arche, 144 Seiten, 18 Euro, E-Book: 14 Euro.

Sigrid Nunez: „Was fehlt dir“

Die amerikanische Autorin Sigrid Nunez hat mit zwei schmalen Büchern große Erfolge bei den Lesern gefeiert: in „Ein Freund“ schildert sie, wie eine Frau einen großen Hund erbt, der ihr Leben ändert, und in „Sempre Susan“ beschreibt sie ihre Zeit als Mitarbeiterin von Susan Sontag, mit deren Sohn sie eine Liebesbeziehung begann, und sie schildert uns, wie schwierig diese weltberühmte Schriftstellerin war.

Beide Bücher zeichnet eine Art Güte aus, ein liebevoller, geduldiger Blick auf Menschen, seien sie auch noch so anstrengend. Und das ist auch mit dem neuen Roman so, der „Was fehlt dir“ heißt und am Montag erscheint. Ein Buch über die einfachste Frage der Welt: jemand hat Kummer, jemand ist todkrank, was fehlt dir? Das sollte man dann fragen können.

Es geht um Mitgefühl, um Freundschaft, um einen verflossenen Geliebten, eine sterbende Freundin, es geht darum, am Leben zu sein und am Leben anderer teilzunehmen – mit Geduld, Freundlichkeit und Anteilnahme. Es ist ein Buch, das irgendwie tröstet, weil man das Gefühl hat, man könnte doch ein guter Mensch sein, wenn man nur einige wenige Dinge anders machen würde.

Und dass das alles andere als einfach ist, ein guter Mensch zu sein – auch das weiß diese kluge, feinfühlige Autorin. Am Ende heißt es: „Ich habe es versucht. Liebe und Ehre und Mitleid und Stolz und Mitgefühl und Opferbereitschaft – was tut es schon, wenn ich gescheitert bin.“

Dies ist ein Buch gleichzeitig über Kummer und Verlust und auch dagegen: es ist zu schaffen, wenn man sich nicht verhärtet. Was fehlt dir? Manchmal ein Buch wie dieses.

Sigrid Nunez: „Was fehlt dir“ , deutsch von Anette Grube, Aufbau Verlag, 222 Seiten, 20 Euro.

Johanna Adorján: „Ciao“

"Ciao“, das klingt lässig als Titel für einen Roman, und genau das ist er auch – sehr modern und mit raffinierter Leichtigkeit erzählt, und wir wissen beim Lesen manchmal nicht: ist das jetzt Satire? Ist das Realität, eher komisch oder eher bitterböse?

Es ist, das kann man sagen, ein Buch über Leute, die mit der Zeit gehen und Leute, die aus der Zeit fallen, und das sind vor allem die vielzitierten, berühmten „alten weißen Männer“.

Einer davon ist Hans, er ist Journalist bei einer Zeitung, verheiratet, und seine Frau hat eine junge aufsteigende Influencerin kennengelernt, Xandi Lochner. Hans will über Xandi Lochner unbedingt ein Porträt schreiben, und da stellt man ihm eine Praktikantin zur Seite, die mitschreiben soll – sowas ist er nicht gewöhnt und mault.

Auf einmal darf er auch nicht mehr in den teuren Hotels wohnen und wer weiß wie viel Spesen machen, es wird gespart, es wird kontrolliert, und das Treffen mit der jungen, hippen Xandi Lochner läuft völlig aus dem Ruder.

Er fühlt sich ihr mächtig überlegen, aber sie lässt ihn total auflaufen. Dazu kommt, dass es Probleme mit den alten Eltern gibt, überall Probleme, und mit Problemen kommt Hans nicht klar, so dass er am Ende ziemlich blöd und abserviert da steht, während die Zeit der jungen Praktikantinnen und der Xandi Lochners gerade erst anfängt.

Johanna Adorján erzählt das alles schnell, intelligent, sehr unterhaltend und böse: Mitleid ist nicht zu erwarten mit denen, die so lange alle Privilegien hatten.

Lakonisch sagt die Autorin zu Hans’ Desastern: „Und das war das.“ Zack, Hans ist raus. So kann’s gehen.

Johanna Adorján: „Ciao“, Kiepenheuer & Witsch, 270 Seiten, 20 Euro, E-Book: 16,99 Euro.

Franz Kafka

Immer werden nur die runden Geburtstage gefeiert, aber bei einem so schrägen Vogel wie dem Schriftsteller Franz Kafka bietet es sich anders an: Heute am 3. Juli 1883, also vor 138 Jahren, wurde er in Prag geboren, dieser schmale große Mann mit dem durchdringenden Blick, vor dessen Texten viele kapitulieren, weil schon so viel hinein interpretiert wurde. Dabei ist die Sache ganz einfach: Da hat einer immer nur Angst.

Angst vorm Vater, vor den Frauen, vor Bürokratie, was für ein armes banges kleines Hühnchen, und dann so eine riesige Fluchtfantasie im Kopf! Da will einer ein Käfer sein!

Ungeziefer, nur ja nicht nützlich für die Gesellschaft, einfach im Bett bleiben, allenfalls ab und zu die Wände hochkrabbeln, und nur ja kein Sex, keine Ansprüche, kein forderndes Leben! Das kennen wir doch auch: An manchem Morgen liegen wir in unserm Bett, die kläglichen Beinchen gestreckt, da ist nur noch Panzer, man will auch ein Käfer sein wie Kafkas Gregor Samsa, liegenbleiben und nicht funktionieren. Aber wir wissen, dass das böse enden kann: Sie schmeißen einen am Ende auf den Müll.

Nichts an dieser Geschichte ist geheimnisvoll. Und so geht es überall mit Kafka: „Der Prozess“ und „Das Schloss“ erzählen von unmenschlicher Bürokratie, „es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern“, heißt es da. Das „Urteil“ spricht ein grausamer Vater über den Sohn, und all das kennen wir doch! Also: Ohne Angst Kafka lesen. Seine Figuren stecken im selben Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse wie wir alle. Man kann das einfach 1:1 nehmen oder die eigene Interpretation hinzufügen.

Sämtliche Werke Franz Kafkas sind auch als Fischer Taschenbücher erschienen.

Piet Klocke: „Fürs Leben muss man geboren sein“

Da steht ein langer dürrer Mensch auf der Bühne, große Brille, rote Haare, er zappelt herum und sagt lustige Sachen mit griesgrämigem Gesicht, und wenn wir klatschen, winkt er genervt ab und sagt, Herrschaften, lassen Sie das, das geht doch alles von Ihrer Zeit ab.

Und das ist so ziemlich der einzige Satz, den dieser seltsame Mensch zu Ende spricht, alles andere bleibt in der Luft schweben, wird angedeutet, bewegt sich im Reich des Grotesken und Absurden, und wir lieben ihn, diesen Piet Klocke, der niemals Angela Merkel nachmachen oder platte Tagespolitikwitze machen würde, sondern dessen Leid an der Welt und ihren Tücken immer etwas Entrücktes und tief Melancholisches hat.

Und nun hat Klocke seine Gedanken, Gedichte, Überlegungen in einem Buch mit dem Titel „Fürs Leben muss man geboren sein“ festgehalten, Untertitel: „Notiertes Nichtwissen“. Hier ist alles sozusagen unvollendet bis in kleinste Detail. „Für Wetterfühlige ist kein Wetter eine einzige Wohltat“, notiert Klocke oder „Nichts gegen Lebewesen, aber die Dinge nerven nicht minder“ oder er fordert: „Bedingungsloses Grundniveau!“

Dieser Philosoph weiß eine Menge, vom Leben, vom Leiden, vom Lachen, vom Sinnlosen und von der Sinnsuche. Piet Klockes Buch mit lauter kleinen und kleinsten Texten und lauter großen Gedanken sollte auf jedem Nachttisch liegen, auch bei denen, die sonst nicht lesen (die soll es ja geben!).

Jeden Abend ein Häppchen Klocke, und schon erträgt man das Leben besser. „Ein fleißiges Eichhörnchen muss auch mal vergessen dürfen.“ Herrschaften, Piet, Applaus muss jetzt sein, das hast du gut gemacht!

Piet Klocke: „Fürs Leben muss man geboren sein“, Heyne Verlag, 250 Seiten, 14,99 Euro, E-Book: 11,99 Euro

Claire Berest: „Das Leben ist ein Fest“

Das Leben der mexikanischen Malerin Frida Kahlo ist gut dokumentiert, sie hat es in Briefen und Tagebüchern selbst beschrieben, aber vor allem ihre opulenten, farbenprächtigen Bilder erzählen davon: von ihren lebenslangen Schmerzen und Verletzungen nach dem schweren Unfall, den sie als junges Mädchen hatte, von ihrer leidenschaftlichen Liebe zum Maler Diego Rivera, körperlich und künstlerisch ein Gigant, ein Riese, ein Mann, der sie ständig betrog, sogar mit ihrer eigenen Schwester und sie doch so unbändig liebte wie sie ihn.

Frida Kahlos Leben und ihre Bilder sind also weitgehend enträtselt, aber nun erfährt man durch diesen Roman der Französin Claire Berest doch etwas mehr. „Das Leben ist ein Fest“ – ja, Frida wusste zu feiern, aber immer schleppte sie unter den prächtigen aztekischen Kleidern ihren verwundeten Körper, ihre verwundete Seele mit sich.

Diese leidenschaftliche Frau und große Künstlerin, die die Männer unter den Tisch saufen konnte und selbst etliche Affären hatte, darunter mit dem Revolutionär Leo Trotzki, der im mexikanischen Asyl bei ihr wohnte, diese starke Frau war stets von Schmerzen gepeinigt.

Berest erzählt von den Hochs, den Tiefs, den Reisen nach Paris und New York, den ersten Ausstellungen, dem beginnenden Weltruhm. Dann die Scheidung von Rivera, die zweite Heirat der beiden – und Fridas elendem Tod. Es ist ein fesselnder, sehr poetischer und doch kraftvoller Roman über eine unglaublich faszinierende Frau und große Künstlerin.

Und an vielen Stellen leuchtet die Erzählung so, wie Kahlos Bilder leuchten, in die die Autorin sich einzigartig einfühlen kann.

Claire Berest: „Das Leben ist ein Fest: Ein Frida-Kahlo-Roman“, deutsch von Christiane Landgrebe, Insel Verlag, 221 Seiten, 22 Euro, E-Book: 19 Euro.

Deborah Kagel: „Mit Kind und Kagel!“

Wenn jemand mit Nachnamen Kagel heißt, dann ist es witzig, seine Erinnerungen an die Jugend „Mit Kind und Kagel“ zu nennen. Deborah Kagel hat das getan, man lacht. Dann liest man den Untertitel und wird nachdenklich: „Der Fadenschein muss gewahrt bleiben.“ Das hört sich bitter an, nach einem Glück, das es vielleicht gar nicht gab. Und man beginnt zu lesen und wird hineingezogen in eine Familie, die es in sich hat.

Der Vater: der aus Argentinien stammende Komponist Mauricio Kagel, nicht nur in Köln, wo er vor allem lebte und wirkte, ein Begriff. Die Mutter: auch sie aus einer nach Argentinien emigrierten jüdischen Familie, die Malerin Ursula Burghardt. Und zwei Töchter, Pamela und Deborah.

Deborah lebt heute in Amerika und schrieb sich mit diesem Buch ihre schwierige Kindheit in einem Künstlerhaushalt, in dem Kinder eher störten, von der Seele. Und sie hat das sehr gut gemacht: mit klarem Blick auf den „Fadenschein“, der gewahrt wurde, aber ohne Bitterkeit oder gar Hass.

So war es eben, und es war nicht leicht mit diesem Vater – nicht leicht für die Künstler-Mutter in seinem Schatten, nicht leicht für Kinder, die nicht auf Spielplätzen, sondern in Konzertsälen und Museen groß wurden. Vieles ist zum Lachen, denn es ging höchst unbürgerlich zu bei den Kagels.

Aber oft spürt man auch, wie gleich zwei Künstler in der Familie ihren Schatten über Kinder legen. Dass Deborah auch Künstlerin wurde, ist bei dieser Vorgeschichte nicht erstaunlich. Ihr schönes Buch mit vielen Fotos ist heiter, wehmütig und voller Respekt vor der Kunst ihrer Eltern, ihren Bildern, seinen Kompositionen.

Deborah Kagel: „Mit Kind und Kagel!“, 260 Seiten, 34 Euro, bei lots-of-dots-publications.com

Adolf Winkelmann: „Die Bilder, der Boschmann und ich“

Mein Rat: wenn Sie was schreiben wollen, denken Sie sich einen Boschmann aus, ein Gegenüber, irgendjemanden, der fragt oder widerspricht. Und schon haben Sie einen Grund, zu formulieren, was Sie sagen wollen.“

Und genau das hat der Filmregisseur Adolf Winkelmann getan: er hat sich den Boschmann ausgedacht, den es vielleicht gibt, vielleicht auch nicht, und mit dem unterhält er sich – über seine legendäre Ruhrpotttrilogie „Die Abfahrer“, „Jede Menge Kohle“ und „Nordkurve“, diese irren Heimatfilme im allercooolsten Sinn.

Mit nix hat er angefangen, dieser wunderbar besessene Winkelmann, nur mit der unbändigen Lust, irgendwie Filme zu machen in einer Gegend (und über sie!), in der es noch bis 1964 keine einzige Universität gab, geschweige denn eine Kunst- und Filmszene, gar nichts: nur Maloche, Zechen, Kohle, Stahl, Bier anne Ecke und Tauben auffem Dach.

Und genau diese Welt wird im Buch lebendig: „Unsere Heimat ist das Ruhrgebiet. Und das Ruhrgebiet ist in den Augen seiner Bewohner eine einzige riesige Stadt mit mehr als fünf Millionen Einwohnern.“

Winkelmann, eingefleischter Dortmunder, erzählt nicht nur von seiner Liebe zum Film und seinen 40 Jahren als Lehrer an der Filmhochschule. Er erzählt vom Zechensterben, in dessen Folge das Brauereisterben kam, und er pickt das Wort vom Strukturwandel auf, für ihn „ein verlogenes Wort für das Drama des Untergangs einer riesigen Industrie mit Mann und Maus.“

Ja, wie es schon in „Jede Menge Kohle heißt“: „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.“ Winkelmann ist Kult mit Herz und Hirn und sein Buch verzaubert rundum. Nä, watt schön.

Adolf Winkelmann: „Die Bilder, der Boschmann und ich“, Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop, 175 Seiten, 14,90 Euro.

Max Küng: „Fremde Freunde“

Jacqueline und Jean, Schweizer Ehepaar, dem es gut geht, aber auch schon mal besser ging, haben ein Ferienhaus in der französischen Provinz. Tolles Haus, groß, leicht angegammelt, verschlingt mehr Geld als gedacht.

Um eventuell Mitstreiter zu finden, die sich an den Kosten beteiligen würden gegen schöne Urlaube, laden sie zwei befreundete Ehepaare auf eine Urlaubswoche ein- natürlich ohne zu verraten, worum es ihnen geht. Freunde? Naja, die Kinder sind eher befreundet. Was macht dieser Filipp eigentlich? Lebt vom Geld seiner Frau Salome. Und Bernhard ist eigentlich doch spießig, was findet Veronika an dem?

Ach, so eine Woche mit fremden Freunden ist sehr anstrengend, da läuft einiges aus dem Ruder, obwohl Jean jeden Tag für alle köstlich kocht. Nein: da läuft ALLES aus dem Ruder, und in jedem der drei Schlafzimmer liegen abends Ehepaare, die gehässig über die anderen reden.

Keiner mag keinen wirklich leiden, und als dann auch noch ein Feind von außen kommt, als Autos zerkratzt werden und Steine durchs Fenster fliegen – da kann von Idylle keine Rede mehr sein, und von irgendwelchen Zukunftsplänen auch nicht. Da will jeder aus diesem Schlamassel einfach nur noch so heil wie möglich rauskommen.

Das liest sich böse, witzig, spannend, das ist glänzend erzählt und der Autor kennt die Frustration falscher Erwartungen und die Unfähigkeit zur Ehrlichkeit und seziert diese fremden Freunde, zum großen Vergnügen von uns, den amüsierten Lesern. Die ideale Urlaubslektüre, aber Vorsicht, eher nicht dann, wenn Sie mit „Freunden“ fahren!

Max Küng: „Fremde Freunde“, Verlag Kein&Aber, 431 Seiten, 25 Euro.

Rachid Benzine: „Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter“

In den letzten Jahren arbeiten sich viele Autorinnen an ihren Müttern ab, an deren Altwerden, Demenz, Tod, an den Konflikten, die es lebenslang zwischen Müttern und Töchtern gab – wir lasen es bei Monika Helfer, Annie Ernaux, Tove Ditlevsen, Melitta Breznik – und das sind nur die, die mir gerade einfallen. Söhne schreiben eher über ihr schwieriges Verhältnis zum Vater.

Und nun habe ich ein kleines, ganz und gar erstaunliches Buch von Rachid Benzine gelesen, in dem es um seine Mutter geht. Benzine ist Marokkaner, hochgebildeter Unidozent, und seine Mutter ist eine einfache Frau, die fünf Söhne geboren hat und weder lesen noch schreiben kann.

Nun ist sie alt, sehr schwach, bettlägerig und die vier älteren Söhne leben mit ihren Familien in allen Teilen der Welt. Und der Jüngste schreibt: „Ich zog vor 15 Jahren einen Strich unter die Idee einer Familiengründung und zog zu meiner Mutter in die kleine Zweizimmerwohnung, in der ich 45 Jahre zuvor auf die Welt gekommen war. Seit 15 Jahren pflege ich sie.“

Er wäscht sie, er wechselt die Windeln, er füttert sie, Pflegerinnen helfen ihm, aber das meiste macht er allein, redet mit ihr, tröstet sie und: er liest ihr vor, Balzac, immer nur Balzac, einst durch eine Hörkassette entdeckt, sie liebt diesen Schriftsteller und will nichts anderes hören.

Das Buch hat keine 100 Seiten und ist von einer großen liebevollen Ruhe und Zärtlichkeit. Es endet mit dem Satz: „Mein größter Reichtum in diesem Leben ist, dass ich sie lieben konnte.“ Und wie er diese Liebe beschreibt: das ist lesenswert in diesen Zeiten des Jammerns.

Rachid Benzine: „Als ich ihr Balzac vorlas. Die Geschichte meiner Mutter“, deutsch von Andreas Jandl, Piper Verlag, 96 Seiten , 16 Euro.

Ina Westman: „Heute beißen die Fische nicht“

Es war am Anfang nicht die ganz große Liebe zwischen Emma und Joel. Aber im Laufe der Jahre ist da etwas gewachsen zwischen ihnen, sie leben ein erstaunlich gutes Leben miteinander und haben sogar eine Tochter adoptiert: Fanni aus Afrika.

Und dafür müssen sie sich im aufgeklärten Finnland auf der Straße anhören: „Gabs denn hier keine Kinder?“ oder „Wenn die mal nur keine Terroristin wird!“ Emma, die in der ganzen Welt unterwegs war als Fotografin in Krisenregionen, fasst so ein Denken einfach nicht, es zermürbt sie.

Joel ist gelassener, und überhaupt ist man gerade einen Sommer lang auf einer einsamen Schäreninsel, weg von allem. Aber mit Emma stimmt etwas nicht, sie sieht Menschen, die nicht da sind, sie hat Halluzinationen, ist oft für Mann und Kind nicht erreichbar.

Nach und nach erfahren wir, dass sie bei einem Attentat verwundet wurde. Ein Splitter steckt in ihrem Kopf. Die Schrecken der Erinnerung holen sie ein. Aber Joel bleibt ruhig, das Kind tut gut, und ab und zu ist auch das Wetter so schön, dass die Fische anbeißen.

Und am Ende des Sommers gibt es neue Kraft, neue Ideen, wie es weitergehen könnte, und wir haben einen ruhigen, sanften und sehr schönen Roman gelesen, dessen Figuren wir lieb gewonnen haben. Und wir haben trotz einsamer finnischer Schären auch unsere Welt wieder erkannt: die zerstörte Natur, die schwierige Liebe, das Unfassbare der Kriege, Armut, Grausamkeiten. Man darf nicht verzweifeln, auch das vermittelt dieses poetische Buch. Es gibt immer auch Licht und Zukunft, trotz allem.

Ina Westman: „Heute beißen die Fische nicht“, mare Verlag, deutsch von Stefan Moster, 253 Seiten, 22 Euro, E-Book: 16 Euro.

Gustave Flaubert: „Bouvard und Pécuchet“

Als der große Schriftsteller Gustave Flaubert, der Mann, der den Roman „Madame Bovary“ geschrieben hat, heute vor genau 141 Jahren am Schlaganfall starb, lag auf seinem Schreibtisch das unvollendete Manuskript zu „Bouvard und Pécuchet“.

Das ist die Geschichte einer Männerfreundschaft: Zwei Büroangestellte lernen sich in fortgeschrittenem Alter kennen, werden sofort Freunde, ziehen mit dem Erbe des einen aufs Land und probieren im Leben und in Gesprächen alles aus, was ihre Zeit an Wissenschaft, Philosophie, Ackerbau, Politik bietet.

Sie sind auf jedem Gebiet Dilettanten, sie scheitern immer, lassen sich aber nie entmutigen und ihre Freundschaft übersteht jede Niederlage: Sie machen als Gärtner alles falsch, nichts gedeiht letztlich, sie brennen Alkohol und der Kolben explodiert, alles, was sie kochen, schmeckt grauenhaft, und im Grunde dreht sich auch jedes philosophische Gespräch im Kreis. Als das Dorf die beiden Spinner leid ist und vertreibt, bauen sie sich einen Doppelschreibtisch, um nun Schriftsteller zu werden.

Der Roman ist, (wenn man die Geduld dazu aufbringt, mal einen fast 150 Jahre alten Schelmenroman zu lesen!) sehr komisch, und die Komik liegt im Missverhältnis zwischen Anspruch und Können. Flaubert zeigt den typischen Kleinbürger seiner Zeit, der überall mitreden will und doch nur Halbheiten auf Lager hat.

Das Buch ist jetzt frisch übersetzt im Rahmen einer schönen Gesamtausgabe erschienen, mit vielen Anmerkungen versehen und zwar schon ein alter Schinken, aber die Besserwisser und das unüberschaubare Chaos widerstreitender Meinungen gibt es heute noch genauso.

Gustave Flaubert: „Bouvard und Pécuchet“ , Wallstein, hrsg. und übersetzt von Hans-Horst Henschen, 460 Seiten, 34 Euro.

Annalena McAfee: „Blütenschatten“

Eve Laing ist Künstlerin. Sie malt vorwiegend Pflanzen, riesengroß, beeindruckend, eine Ausstellung steht bevor und ihre beiden langjährigen Helfer im Atelier sind sehr beschäftigt mit dem Aufziehen von Leinwänden, dem Waschen der Pinsel, was eben so anfällt – da kann man einen schönen, stillen jungen Mann gut brauchen, der sich auch noch als Assistent bewirbt.

Aber seit Luka da ist, läuft alles aus dem Ruder. Er mobbt beharrlich die beiden Altgedienten, bis sie gehen, er wanzt sich so an Eve ran, dass die – doppelt so alt wie er – tatsächlich eine Affäre mit ihm anfängt, obwohl sie gut, wenn auch etwas langweilig verheiratet ist.

Sie blüht dabei natürlich auf, aber sie riskiert alles: ihr Zuhause, ihre Ehe, ihren Ruf. Damit verrate ich nicht viel, denn das Buch beginnt mit einem Spaziergang an ihrem alten Haus vorbei, in dem Eve hinter den Fenstern ihren Mann mit seiner neuen Frau sieht.

Alles wird rückblickend während dieses nächtlichen Spaziergangs durch London erzählt – die ganze grausame Geschichte, die vor sechs Monaten begann und die für Eve die in einer Katastrophe endet, menschlich, finanziell, künstlerisch.

Das ist ein wirklich spannender Liebesroman, bei dem sich die Liebe als das Gefährlichste herausstellt, das es geben kann – wenn man allzu hungrig danach ist. Dabei kennt Eve noch genau den Song von Stephen Stills: „If you can’t be with the one you love, love the one you’re with…“ Das aber ist hier gründlich (und für uns Leser höchst unterhaltend!) schief gegangen. Die Autorin ist übrigens die Frau des berühmten Schriftstellers Ian McEwan, und sie kann mithalten!

Annalena McAfee: „Blütenschatten“, deutsch von pociao und Roberto de Hollanda, Diogenes, 336 Seiten, 24 Euro, E-Book: 21 Euro.

William Boyd: „Trio“

Im Jahr 1968 war in der Welt eine Menge los: In Vietnam tobte der Krieg, in Paris gingen die Studenten auf die Barrikaden, in Prag marschierten die Russen ein und in Amerika wurden Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet.

Nur in Brighton, dem englischen Seebad, ist alles friedlich, denn da wird gerade ein mittelmäßiger Liebesfilm gedreht, und alle, die damit zu tun haben, haben ihre eigenen Sorgen: die Hauptdarstellerin Anny wird von ihrem kriminellen Ex erpresst, hinter dem das FBI her ist, der Regisseur Reggie, der plötzlich nur noch Rodrigo genannt werden möchte, fängt eine Affäre mit der Drehbuchautorin an, während seine schon längst nicht mehr eifersüchtige Frau Elfrida, eine Schriftstellerin mit Schreibhemmung, sich fast tot säuft, und der Produzent Talbot quält sich mit seiner Homosexualität herum – in den Sechzigern noch ein höchst heikles Thema. Kurz: ein Haufen Hysterie, Lügen, Geheimnisse an diesem Drehort, an dem auch so ziemlich alles schief geht, täglich eine neue Katastrophe.

Und Boyd, der alte Romanfuchs, dem wir schon so viele Bücher, Theaterstücke und sogar den letzten James Bond Roman „Solo“ verdanken, schafft es, diese Figuren derart lebendig, mit Witz und Mitgefühl zu schildern, dass wir uns mit ihnen befreunden und alles über sie gern lesen.

Das Haupttrio sind Talbot, der Produzent, Anny, der Star und Elfrida, die Schriftstellerin. Aus ihrer Sicht wird jeweils erzählt und der ganze Wahnsinn eines Filmdrehs unterhält uns über 400 Seiten lang, weil es sich liest wie – ja, eben wie ein flotter Film. In diesen öden Zeiten genau das richtige Buch!

William Boyd: „Trio“, deutsch von Patricia Klobusiczky, Kampa Verlag 424 Seiten, 22 Euro, E-Book: 17 Euro.

Susanne Abel, „Stay away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe“

Stay away from Gretchen“ – das sagte die US Army warnend zu ihren GIs, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland stationiert waren – haltet euch ja weg von diesen deutschen Frauen, diesen Gretchen. Aber es passierte doch, und nicht nur einmal: Menschen verlieben sich, egal, was Armeen befehlen. So auch Robert und Greta (!), und sie lieben sich wirklich, wollen heiraten, Greta erwartet ein Kind von ihrem (noch dazu) schwarzen GI, in diesen prüden Nachkriegsjahren – und er wird erst mal zur Strafe in den Koreakrieg geschickt, das Kind wird in ein Heim gesteckt, dann zur Adoption freigegeben, die verzweifelte Greta landet in der Psychiatrie.

Diese Geschichte ist verpackt in die eines schmucken Radiomoderators, der daran verzweifelt, dass seine alte Mutter allmählich dement wird und dumme Dinge anstellt, die dann für ihn rufschädigend in der Zeitung stehen.

Diese Mutter ist Greta, deren Kriegs-, Flucht- und Liebesgeschichte wir erfahren. Der Sohn hat das alles nicht gewusst und ihm dämmert jetzt, dass es da noch ein anderes Leben, sogar eine Schwester gab. Wo ist sie? Das alles: brisanter Stoff, fesselnd erzählt, am Ende vielleicht etwas zu aufgeladen mit guten Zufällen und Fast-Happy-Ends.

Aber: Die Geschichte der Mischlingskinder ist wahr, ziemlich grausam und wert, endlich beachtet zu werden – und sei es in einem wirklich fesselnden Unterhaltungsroman, der weite Bögen spannt von Krieg und Nachkrieg bis heute und der Schicksale aufgreift, die erst so nach und nach die ganze Tragik zeigen – Tragik vielleicht auch unserer Eltern, von der wir erst jetzt erfahren.

Susanne Abel, „Stay away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe.“ dtv , 485 S., 20 Euro, E-Book: 16,99 Euro.  

Rumena Bužarovska: „Mein Mann“ 

Das Titelbild zeigt einen Mann mit zerkratztem Gesicht: so geht man mit Fotos um, wenn einen der Kerl enttäuscht hat! In diesem Fall sind es elf Kerle, elf Geschichten über Ehemänner, von elf verschiedenen Frauen erzählt, zwischen Zorn, Enttäuschung, Spott und Verblüffung.

Der eine geht fremd, der andere ist impotent und verhilft seiner Frau großmütig zu einem Liebhaber, mit dem sie aber nur vor dem Fernseher sitzt. Einer ist Arzt, aber er malt gern, und er malt immer nur das, was er als Arzt sieht– er ist Gynäkologe! Und einer schreibt schmalzige Gedichte und hält Lesungen damit, und sie findet seine Gedichte einfach nur unsäglich peinlich, aber wenn er in der Nacht, im Dunkeln, zu ihr sagt: „Orchidee, öffne dich!“– wie das Dichter anscheinend so sagen – dann, schreibt sie, „dann öffne ich mich.“ Aha! Da ist also doch noch so was wie Liebe!

Ja, in all diesen kurzen Geschichten ist irgendwas wie Liebe, und wenn es nur das Seufzen über die Vergänglichkeit der Liebe ist. Mein Mann, für den hat man sich ja schließlich mal entschieden, und nun muss man da durch. 

Die Autorin ist Mazedonierin, und sie sagt, nach der Zerschlagung des Großgebildes Jugoslawien kamen alte patriarchale Strukturen zurück,  und das wurde auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Der Zorn darüber ist in jeder dieser feurigen Geschichten zu spüren – aber auch die Sehnsucht danach, es möge doch bitte wieder so sein wie früher… ungeschminkte Ansichten von Frauen über das, was „mein Mann“ ist. Und so eine missglückte Sexszene wie die zwischen Sanja und Toni hab ich noch nie gelesen. 

Rumena Bužarovska: „Mein Mann“  Stories. Suhrkamp, 169 Seiten, 22 Euro.  Stories. Suhrkamp, 169 Seiten, 22 Euro.

Albert Sixtus und Fritz Koch-Gotha (Illustrationen): „Die Häschenschule – Ein lustiges Bilderbuch“

Das muss jetzt heute sein: „Die Häschenschule“. Als ich Kind war, wurde sie gelesen, und jetzt liegt sie immer noch Ostern in den Buchläden: „Hasenhans und Hasengretchen /gehen lustig Pfot’ in Pfötchen/ um die sechste Morgenstund’/durch den bunten Wiesengrund.“

Sie gehen in die Schule, von der Hasenmutter zum Bravsein ermahnt und vom Lehrer Hausmann an den Ohren gezogen, wenn sie nicht brav sind: „In die Ecke muss er nun. / Ei, da kann er Buße tun!“ Dieses Buch entspricht keinem einzigen Kriterium für ein gutes Jugendbuch: Die Verse sind eher schlicht, die Bilder bieder, die Pädagogik fragwürdig. Und doch lieben wir alle unsere Häschenschule, wir Alten und auch die Jungen, und Hasenhans und Hasengretchen hoppeln nun schon seit 1924, das sind bald 100 Jahre, und kein Ende ist abzusehen.

Was ist das Geheimnis dieses seltsamen Bilderbuchs? Wahrscheinlich gerade das: Man lacht über das Bild, das Familie Hase abgibt, und doch ist da eine Sehnsucht, so beschützt und behütet zu sein. Denn draußen in freier Wildbahn lauert der böse Fuchs.

Drin aber walten Vater und Mutter Hase, und der letzte Vers lautet: „Wär ich nicht ein Kindelein,/ möcht’ ich gleich ein Häschen sein!“ Jetzt ist Ostern. Jetzt dürfen wir alle mal kurz Häschen sein an diesem fröhlichsten aller Feste, und wir dürfen uns freuen an den gediegenen Versen des Kinderbuchautors Albert Sixtus, die man sofort auswendig kann, und den bieder-bräsigen Bildern des Zeichners Fritz Koch-Gotha, die es geschafft haben, mit einer Hasengeschichte ganze Generationen zu beglücken. Weiß der Himmel, wie sie das hingekriegt haben.

Albert Sixtus und Fritz Koch-Gotha (Illustrationen): „Die Häschenschule – Ein lustiges Bilderbuch“, Esslinger Verlag, 144 Seiten, 40 Seiten, 10 Euro.

Dacia Maraini: „Trio“

Nicht nur wir haben unsere Pandemie. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wütete auf Sizilien die Pest, und da wusste man nichts über Viren und nur wenig über Hygiene, aber man half sich auch da schon mit Quarantäne und Flucht aus den Städten aufs Land.

Von so einer Flucht handelt das Buch „Trio“: Annuzza ist von Palermo ins Hinterland nach Casteldaccia, Agata von Messina nach Castanea geflohen, sie sind Freundinnen, schreiben sich Briefe, und der dritte im Bunde des Trios ist Girolamo, der Mann von Agata, der sie liebt, aber auch in Annuzza verliebt ist. Und das Wunder ist: Agata ist nicht eifersüchtig, sie sagt: lieber weiß ich ihn bei dir als sonst wo, und unsere Freundschaft darf das nicht zerstören.

Und so wechseln die Briefe hin und her und auch Girolamo fährt mal zur einen, mal zur anderen und sie überstehen alle zusammen das ganze elende Pest-Desaster mit Geduld, Fürsorge und Liebe.

Die Italienerin Dacia Maraini hat ein ganz und gar erstaunliches, schönes kleines Buch geschrieben über Toleranz in schlimmen Zeiten, ein Buch über Liebe, die, wenn es wirklich Liebe ist, verzeiht und tröstet und rettet. In den Briefen erkennen wir auch das Warten, die Ödnis, die Langeweile, die Verluste von allem, was Freude macht – im 18. Jahrhundert genauso wie bei uns heute.

Und einmal schreibt Agata: „Es scheint, als ob die Epidemie langsam abklingen würde, man sagt, das Schlimmste sei überstanden. Aber immer noch sterben Menschen.“ Das sollten wir vielleicht auch bedenken trotz des Unmuts über immer neue Regeln und politisches Unvermögen: immer noch sterben Menschen. Das kann niemand wollen.

Dacia Maraini: „Trio“, deutsch von Ingrid Ickler, Folio Verlag, 144 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15 Euro.

Daniela Strigl: „Gedankenspiele über die Faulheit“

Dass dieses Buch in dieser Woche erscheint, ist kein Zufall: am 22. März wird der „International Goof Off Day“ begangen, der Faulenzer-, der Trödeltag. Man soll jede ernsthafte Tätigkeit vermeiden, also kann man dann das passende Buch dazu lesen: Daniela Strigls „Gedankenspiele über die Faulheit.“

Es ist kurz, na klar, ist ja was für Faule, es ist interessant und es bestätigt uns: Faulsein ist prima. Faulheit kann eine Charaktereigenschaft sein oder nur ein Zustand. Das Gegenteil ist der Fleiß, der hässlich macht, das wusste schon Karl Kraus. Faulheit klingt ekelhaft nach Fäulnis, nehmen wir doch lieber das schöne Wort Müßiggang – aber der ist dann schon wieder aller Laster Anfang.

Der schlaue Immanuel Kant bringt die Definition auf den Punkt: „Faulheit ist der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit.“ Das heißt, man ruht sich aus, ohne erst mal müde geworden zu sein. Eigentlich doch schön, und lehrt uns die Bibel nicht auch, die Vögel anzusehen, die nicht säen, nicht ernten, und der Himmlische Vater ernährt sie doch? Ich galt früher oft als faul, weil ich immer mit einem Buch in der Ecke saß.

Lesen ist auch eine Form der Verweigerung, aber ist es faul? Faulheit, resümiert die Autorin, ist auch eine Form der Freiheit. In der Zeit, in der wir anscheinend nichts tun, tun wir unter Umständen das meiste – oder das Wichtigste. Man muss doch auch mal Nein sagen können! Wir denken an den großen Verweigerer Bartleby von Herman Melville, der auf alles, worum man ihn bittet, antwortet: „Ich möchte lieber nicht …“ Aber Achtung: Das geht dann ja auch nicht wirklich gut aus.

Daniela Strigl: „Gedankenspiele über die Faulheit“ , Droschl, 54 faule Seiten, 10 Euro.

Simone Meier: „Reiz“

„Reiz“– der Titel des neuen Romans von Simone Meier kommt geheimnisvoll daher. Wer reizt wen und wie und warum? Im Grunde ist es der Reiz des Lebens, der Reiz des Neuen und des Alten, der Reiz der Liebe, der Freundschaft, und es ist durchaus sehr reizvoll, wie das erzählt wird. Zwei Geschichten wachsen erst nach und nach zu einer zusammen: die des Jungen Luca, der zum ersten Mal verliebt ist und mit seiner lesbischen Mutter sehr unkonventionell lebt.

Sein Vater ist ein sehr berühmter Schauspieler, eine ehemalige Affäre der Mutter, er wird nur F. genannt. Mit F. ist wiederum Valerie befreundet, eine etwas zynische Journalistin, die der Affären müde ist und in ruhigeres Fahrwasser steuert. Bei ihr in der Redaktion fängt eines Tages Luca als Assistent an, und der Kreis schließt sich.

Das Tolle an dieser Geschichte ist, wie sie erzählt wird: leicht, witzig, trotzdem ernsthaft mit Figuren und Gefühlen umgehend. Luca ist noch jung und hat keine Ahnung, welche Richtung sein Leben nehmen soll, Valerie blickt zurück und sagt: im Grunde ist man nur als Kind und als alter Mensch frei, dazwischen kommt die Tretmühle mit all den Pflichten und Regeln.

Freundschaft ist ein großes Thema in diesem liebevollen, schönen Roman, so wie Freundschaften uns seit einem Jahr durch die Pandemie tragen. Und am Ende stehen alle zusammen, Mutter und Geliebte, Valerie und F., Luca und seine neue Liebe Kia, und der letzte Satz lautet: „Sie standen beieinander wie träumende Tiere und erwarteten das Wetter.“ Und aller Kummer ist verbannt „in die lichtloseste Ecke der Tiefgarage des Vergessens.“

Simone Meier: „Reiz“, Verlag Kein & Aber, 238 Seiten, 19,80 Euro.

Sonia Simmenauer: „Muss es sein? Leben im Quartett“

„Muss es sein? Es muss sein!“ Das schrieb Beethoven als Motto vor sein letztes Streichquartett. Und „Muss es sein?“ heißt ein wunderbares Buch, das zuerst 2008 erschien und jetzt endlich in einer schönen Taschenbuchausgabe wieder zu haben ist.

Darin geht es: um Streichquartette. Nicht um Noten, sondern um die vier Menschen, die auf der Bühne sitzen und Quartett spielen. Sonia Simmenauer war jahrelang Managerin berühmter Streichquartette und weiß genau, was für eine hochexplosive Angelegenheit das ist: eine extreme Lebensform.

Enger zusammen oft als mit der Familie, auf Tour, in Hotels, auf Bühnen. Hat einer eine Lebenskrise oder ein körperliches Problem, betrifft es alle vier, und das hört man! Sie müssen auf Gedeih und Verderb ein Team sein, wie Chirurgen oder Astronauten. Dabei ist jeder für sich eine Künstlerdiva.

Bei Frauen, sagt Simmenauer, wird endlos diskutiert, bis das Problem weg ist und dann spielen sie kühl und beherrscht. Männer tragen ihre Wut in die Musik und donnern auf der Bühne los.

Das Buch liest sich wirklich wie ein Thriller und ist eine großartige Unterhaltung in Zeiten, in denen man uns ja überhaupt keine Konzerte erlaubt. Und ehe wir wieder in den Konzertsaal gehen, können wir hier lesen, wie es bei einem Quartett hinter den Kulissen zugeht.

Denn die Kunst ist das eine, die Nerven sind das andere, und ganz wichtig, schreibt Simmenauer: die Hotelzimmer so weit auseinander buchen wie nur möglich! Nur so kann es mit der Künstlerehe zu viert klappen. Aber wenn es klappt, wenn beseelende Musik entsteht, dann hat es nicht nur mit Fingerfertigkeit zu tun, sondern: mit Liebe.

Sonia Simmenauer, „Muss es sein? Leben im Quartett.“ Berenberg Verlag, 198 Seiten, 16 Euro

Alexander Gorkow: „Die Kinder hören Pink Floyd“

Wir sind in den 70er Jahren. Das Haus liegt am Stadtrand von Düsseldorf, der Vater ist ein Chef und telefoniert viel („Frau Saarschmidt, ist denn das Fax aus Cleveland/Ohio noch nicht da?“), die Mutter kauft in der Drogerie ein („Ach, die schöne Frau Gorkow, wieder Parfüm am Kaufen“) und die Kinder hören Pink Floyd im Zimmer der großen Schwester. Der kleine Bruder ist der, der jetzt hier erzählt, wie das alles war, damals, als Frau Schwerdtfeger noch quer über die Straße schrie, dass Frau Hackenbruch Krebs hat, alles Metastasen, ja, der Herr gibt und der Herr nimmt!

Wenn Vater die Nachrichten im Fernsehen guckt, muss es still sein, sonst beklagt er sich. („Anneliese, ich sehe hier die Nachrichten! Jetzt habe ich nicht mitgekriegt, was Giscard vorhat!“) Wenn er mit sehr viel Gift die Rosen spritzt und die Kinder helfen sollen, ruft die Mutter: „Die Kinder hören Pink Floyd!“ Das sagt dem Vater nicht viel, ist ihm aber lieber, als dass sie hören, wenn Heino vom allerschönsten Polenmädchen singt.

Dieser Roman ist atmosphärisch so dicht, dass wir alles vor uns sehen: das Einfamilienhaus, die Einbauküche, Frau Horstbroich rauchend an der Kinokasse und „das tiefe Braun der Erde Richtung Rhein, umgepflügt und schwer und satt wie Teig mit Kakao.“

Bei Gorkow sitzt jedes Bild, jedes Wort, jedes Gefühl zwischen Lachen und Weinen. Hier erzählt einer, der sich voller Liebe erinnert. Eine Zeit wird lebendig, die uns geprägt hat, und auch Pink Floyd haben uns geprägt mit ihrem „We don’t need no education“. Was für ein sanftes, warmes, was aber wunderbarerweise auch für ein lustiges Buch!

Alexander Gorkow: „Die Kinder hören Pink Floyd“, Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 20 Euro, E-Book: 17 Euro.

Amanda Cross: „Die letzte Analyse“

Ich lese nur selten Krimis. „Wer hat’s getan?“ interessiert mich in der Regel nicht, und diese supergut geschriebenen skandinavischen Krimis sind meist so blutrünstig, dass sie mich bis in die Träume verfolgen. Aber jetzt gibt es einen Krimi, in dem die Literatur dabei hilft, einen Mord aufzuklären! Das ist doch mal was für mich.

„Die letzte Analyse“ von Amanda Cross wurde schon 1964 geschrieben und erscheint erst jetzt bei uns. Cross war Literaturwissenschaftlerin und machte sich einen Spaß, indem sie die Amateurdetektivin und Literaturprofessorin Kate Fansler erfand.

Die löst den Fall, warum auf der Analysecouch ihres Freundes Emanuel plötzlich eine ermordete Patientin liegt, die ihre Studentin war – Janet Harrison. Und sie hatte ihr auch noch diesen Analytiker empfohlen! Und der war es bestimmt nicht!

Also fühlt sich Kate verantwortlich und legt los, und es ist sehr komisch zu lesen, mit welchen Methoden sie das tut: zum Beispiel mit lesen. Mit lesen? Naja, Bücher geben manchmal Hinweise und analytische Fähigkeiten helfen auch…

Ein verschmitzter, nicht blutrünstiger, liebenswerter Krimi für uns Mädels ist das, und es geht zu wie bei Alice im Wunderland: „Dauernd verschwinden schöne Verdächtige und lassen nur ihr Grinsen zurück“, klagt Kate, denn alles, was verdächtig war, ist es letztlich nicht.

Und doch geht es um Skrupellosigkeit, „und jede Skrupellosigkeit macht die nächste nicht nur möglich, sondern einfach unvermeidlich.“ Auch das wissen wir aus der Literatur! Wer aber hat denn dieses Mädchen nun ermordet und warum? Das müssen Sie schon selbst lesen!

Amanda Cross: „Die letzte Analyse“, deutsch von Monika Blaich und Klaus Kamberger, Dörlemann, 336 Seiten, 18 Euro, E-Book: 14 Euro.

Axel Hacke: „Im Bann des Eichelhechts“

Es ist Karneval, und wir haben nichts zu lachen. Doch! Haben wir wohl! Axel Hacke hat wieder zugeschlagen mit einem Buch über die schauerlichsten Versprecher, Verschreiber, Verhörer aus dem weiten Gebiet namens Sprachland. Er ist sozusagen der Erbprinz von Sprachland, denn er treibt jede sprachliche Verirrung auf und stellt sie in ernsthafte Zusammenhänge, denn Sprachland, da wohnen wir alle. Da geht es ums Essen – wie gut muss Ochsenschwansuppe schmecken? – um Märchen wie das vom Aschenpudel oder um das Weihnachtsoratorium, wo aus „Tochter Zion“ ein „Toter Ziehhund“ wird, unverdrossen singt der Chor „Toter Ziehhund, freue dich!“ Das ist aber wirklich auch Grund zur Freude. Aus Fruits de Mer wird in der Übersetzung „Meerobst“ oder aus „Farfalle con pesto arrabiate“ dann eben „Schmetterlinge mit zerstossen Wut“- dazu trinkt man Quantibein statt Chiantiwein und freut sich einfach nur. Der Mensch macht nun mal Fehler, und über Fehler darf man sich amüsieren, wie vorm Schaufenster der Bäckerei, die „gefühlte oder ungefühlte“ Donuts anbietet. Lasst uns fühlen! Lasst uns feuchte Augen kriegen, wenn nicht die Blaue Blume im Walde tief drinnen blüht, sondern „es blühen im Walde Tiftrienen die blaue Blume fein.“ Schenken Sie Tiftrienen zum Valentinstag, lesen Sie, schenken Sie dieses Sprachwunderbuch „Im Bann des Eichelhechts“, wer immer das nun wieder sein mag, ärgern Sie sich nie mehr, wenn Sie auf dem Weg, sich ein Gans-Körper-Tatoo machen zu lassen im c-flüssigen Verkehr steckenbleiben- überall ist Sprachwunderland, und dieses Buch ist ein echter Schuss aus der Schrägschusspistole.

Axel Hacke: „Im Bann des Eichelhechts“, Kunstmann Verlag, 263 Seiten, 22 Euro. 

Isaac Rosa: „Glückliches Ende“

Dies ist die Geschichte von Angéla und Antonio. Sie verlieben sich, sie heiraten, sie kriegen Kinder, sie zerreiben sich am Alltag, und eines Tages stehen sie vor den Scherben ihres Glücks und werden geschieden. Wann und wo und warum ist da was schief gegangen?

Der Roman des Spaniers Isaac Rosa fängt mit dem bösen Ende an und arbeitet sich vor bis zum Glück des Anfangs, das hier logisch dann das „Glückliche Ende“ des Buches ist. Angéla und Antonio erzählen immer abwechselnd, das macht es spannend, wir erleben die ganze Geschichte aus beiden Blickwinkeln, klug auch von einem Mann und einer Frau jeweils übersetzt.

Und wir erleben, wie das, was mal Leidenschaft war, Stück für Stück in kleinen, dann immer größeren Rissen zerfällt wie eine morsche Mauer. „Ich habe mich oft gefragt“, sagt Antonio, „ob die Liebe nicht vielleicht nur ein Märchen ist…“

Und ich denke mir beim Lesen dieses schönen, bewegenden Liebes- und Antiliebesromans mal wieder wie so oft: Es mangelt nicht an Liebe in der Welt. Es mangelt aber an erträglichen Erwartungen. Das, was wir, was Angéla und Antonio im ersten Überschwang alles wollen, träumen, erhoffen – das überfordert jede Liebe. Und irgendwann, das sagte ja schon Ephraim Kishon, ist es für die Wahrheit zu spät und dann hilft nur noch lügen, lügen, lügen.

Ein sehr schöner, gut geschriebener Roman über die Fallstricke der Erinnerung und die Achterbahn Liebe. Und wir erinnern uns an den weltberühmten ersten Satz von Tolstois „Anna Karenina“: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.“

Isaac Rosa: „Glückliches Ende“ , deutsch von Marianne Gareis und Luis Ruby, Liebeskind Verlag , 350 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Tove Ditlevsen: „Kindheit – Jugend – Abhängigkeit“

Tove Ditlevsen ist eine fast vergessene dänische Autorin, die in den 20er Jahren in einem Arbeiterviertel in Kopenhagen aufwuchs. Sie wollte schon früh schreiben, vor allem Gedichte, aber in ihrer rauen Umgebung war das schier unmöglich. Mit ungeheurer Kraft kämpfte sie sich frei, zog aus, hielt sich mit Jobs über Wasser und veröffentlichte tatsächlich als noch junges Mädchen erste Gedichte.

Dann kamen zwei unglückliche Ehen, ein Ehemann machte sie mit Tabletten süchtig. Nach Aufenthalten in Suchtkliniken, Rückfällen, Depressionen nahm sich diese so schöne, begabte Frau und Mutter zweier Kinder 1976 das Leben.

Ihr Werk ist schmal und von großer Intensität. In drei Bänden, zusammen gerade mal 450 Seiten, schildert sie ihren Weg: Kindheit – Jugend – Abhängigkeit, so heißen sie. Band eins ist schon zu haben, die Bände zwei und drei folgen im Februar, und man sollte alle drei lesen, um in ein Leben einzutauchen, das zwar von einem ständigen Kampf erzählt, aus dem aber der Wille zur Schönheit, zur Sprache, zur Dichtung so leuchtet wie ein Phönix aus der Asche. Sie jammert nie, und sie weiß, dass gerade eine elende Kindheit ein Quell für Inspiration ist: „… und ohne dass ich es weiß, sinkt meine Kindheit leise auf den Grund der Erinnerungen, dieser Seelenbibliothek, aus der ich bis an mein Lebensende Wissen und Erfahrungen schöpfen werde.“ Es sind drei Bände von großer poetischer Kraft, eine herzzerreißende Lebensgeschichte, und man wäre so gerne Tove Ditlevsens Freundin gewesen und hätte ihr gegen den „dunklen Rand aus Angst“, der sich um ihr Leben legte, die Hand gereicht.

Tove Ditlevsen: „Kindheit – Jugend – Abhängigkeit“, aus dem Dänischen von Ursel Allenstein, Aufbau Verlag, drei Bände, zusammen 450 Seiten, je 18 Euro.

Coco Chanel: „Die Kunst, Chanel zu sein“

In diesem Monat, am 10. Januar, war der 50. Todestag von Coco Chanel, und ich finde diese Frau immer noch so faszinierend, dass ich Ihnen dringend ihr Buch ans Herz legen möchte: „Die Kunst, Chanel zu sein“.

Das ist vielleicht ein bissiges Stück Literatur! Und Literatur ist es wirklich, denn Coco Chanel war nicht nur eine begnadete Modemacherin, sie konnte auch geschliffen formulieren, Menschen charakterisieren, Dinge so auf den Punkt bringen, wie sie es in der Mode getan hat.

Sie hat den Frauen das Korsett weggenommen und aus lockeren Stoffen Kleider schneidern lassen (sie konnte selbst nicht nähen); sie hat den Pelz nach innen in die Mäntel verbannt, kein Protz außen, Modeschmuck statt echter Klunker, das kleine Schwarze statt geblümter Wallekleider, sie hat den Riemen erfunden, mit dem Frauen die Handtasche über der Schulter tragen können, um die Hände für was Besseres als ein Täschchen frei zu haben; und das berühmteste Parfüm der Welt ist immer noch ihr Chanel No. 5, das erste synthetisch hergestellte Parfüm.

Sie hat sich als eine der Ersten die Haare kurz geschnitten, hat Kette geraucht, nie geheiratet, sich Liebhaber genommen und abgelegt, wie es ihr gerade passte, hat gearbeitet wie ein Pferd, ist steinreich geworden, hat sich von nichts und niemand beeindrucken lassen und harsche Urteile gefällt. Sie war geliebt und gefürchtet, mager, zäh, sie ist fast 90 Jahre alt geworden.

Und was hat sie mit ihrem Geld gemacht, außer gut zu wohnen? „Ich kaufe mir vor allem Bücher. Um sie zu lesen. Bücher waren immer meine besten Freunde.“ Coco als Vorbild!

Coco Chanel: „Die Kunst, Chanel zu sein“, Coco Chanel erzählt ihr Leben, aufgezeichnet von Paul Morand, Schirmer, 280 Seiten, 19,80 Euro.

Annette Mingels: „Dieses entsetzliche Glück“

Annette Mingels ist eine Autorin aus Köln, die aber seit Jahren in Amerika lebt. Und dort spielt auch ihr Roman mit dem verwirrenden Titel „Dieses entsetzliche Glück“. Am Anfang hat man das Gefühl, lauter Kurzgeschichten zu lesen. Immer wieder neue Figuren mit immer neuen Geschichten tauchen auf, aber sie alle leben in der fiktiven Kleinstadt Hollyhook, einem eher faden Kaff in Virginia, und nach und nach kreuzen sich ihre Wege, verknüpfen sich ihre Geschichten, ihre Lieben, ihr Kummer, ihr Scheitern – hier kennt jeder jeden und alles ist miteinander verbunden.

Wir haben es mit dem klassischen Episodenroman zu tun, bei dem sich in jedem Kapitel die Perspektive ändert und also auch das, was man als subjektive Wahrheit empfunden hatte. Was für die einen Glück ist, kann für die andern einer Katastrophe gleich kommen, eben ein „entsetzliches Glück“.

Da ist der erfolgreiche Arzt, mit einer Japanerin verheiratet, die plötzlich ohne ersichtlichen Grund nach Japan zurück geht. Ihr Sohn Kenji wird Schriftsteller und erzählt in seinem ersten Roman intime Dinge aus Hollyhook- zum Beispiel von Basil, der heimlich immer in ihn verliebt war und sicher war, Kenji hätte davon keine Ahnung.

Es ist, als schwebten alle Figuren an dünnen Fäden durch das Buch, ihr Leben ist fragil, zerbrechlich, sie sind voller Hoffnung, aber auch ratlos, wie es zu kriegen ist, dieses Glück. Und wenn man es kriegt- plötzlich ist es erschreckend. Ein psychologisch sehr fein gestricktes Buch, am Ende hat man das Gefühl, selbst in Hollyhook zu leben, wo für große Lebensentwürfe einfach kein Platz ist.

Annette Mingels: „Dieses entsetzliche Glück“, Penguin, 345 Seiten, 20 Euro. 

„Der Hund, Der Tunnel, Die Panne“

Hat uns Friedrich Dürrenmatt, der Schweizer Schriftsteller und Theaterautor, der in dieser Woche 100 Jahre alt geworden wäre, heute noch etwas zu sagen? In der Schule lasen wir seine Theaterstücke, auf der Universität musste ich ein Referat schreiben über seinen Roman „Der Richter und sein Henker“ – und dann habe ich Dürrenmatt eigentlich vergessen, nur so vage als großen Moralisten in Erinnerung behalten.

Ich habe erst jetzt entdeckt, wie komisch er sein konnte! Da gibt es bei seinem Diogenes Verlag ein schmales Taschenbuch mit drei Erzählungen, alle in den 50er Jahren geschrieben. „Der Hund“ und „Der Tunnel“ sind kurze, bitterböse Parabeln, aber die längste, „Die Panne“ ist eine fabelhafte Satire: ein Herr Traps, Vertreter, nicht besonders gescheit, oder, wie Dürrenmatt sagt, ein Mensch „an der Grenze seiner Denkkraft“ strandet für eine Nacht wegen einer Autopanne in einem Kaff und landet als Gast in der Villa eines pensionierten Rechtsanwalts.

Der lädt am Abend drei weitere pensionierte Juristenfreunde ein, man isst und trinkt gut, und man spielt mit Traps ein Spiel: hat er in seinem Leben Schuld auf sich geladen? Jeder hat, auch Traps, aber wie diese Juristen ihm spitzfindig das Wort im Munde umdrehen, sein Leben nach außen krempeln, Unerhörtes in seinem Verhalten entdecken- das ist verblüffend, komisch und grausam zugleich.

Aber auch eine pure Lesefreude: Traps ist überrumpelt und entzückt: ja, er ist ja tatsächlich fast ein Mörder! Man fordert die Todesstrafe, nein, sowas! Vertreter Traps ist plötzlich eine Art Verbrecher und endlich mal in seinem Leben: wichtig. Das hat was.

Friedrich Dürrematt: „Der Hund, Der Tunnel, Die Panne. Erzählungen“, Diogenes Verlag, 100 Seiten, 9 Euro.

„Alle sind so ernst geworden“

Neues Jahr, neue Möglichkeiten, und stimmt es, dass alle so ernst geworden sind? Vielleicht ein bisschen, corona-bedingt. Aber doch nicht ALLE und doch nicht SO ernst, und Corona ist eigentlich auch gar nicht gemeint beim Gespräch der beiden Schriftsteller Martin Suter (72) und Benjamin von Stuckrad-Barre (45).

Gut situiert, in sich ruhend mit Bestsellererfolgen, Familie, Lebenserfahrung der eine, nervös, umgetrieben, von jahrelangem Drogengebrauch zermürbt der andere. Sie reden über alles, über Siri, das Kochen, Ibiza, über Geld und übers Verliebtsein und im Grunde redet nur der eine, und der andere macht ab und zu kluge, besänftigende Einwürfe.

Stuckrad-Barre spricht eigentlich immer nur über sich, über seine Drogensucht, seine Trennungen, seine Liebeserfahrungen. Es liest sich, als wolle er alle Irrwege gestehen und Suter, ganz gütiger Vater, möge dulden und vergeben.

Selten nur kommt eine Themenanregung von Suter, aber Stuckrad-Barre ist nicht der Mann des geduldigen Zuhörens. Er hat in der Witzeschmiede bei Harald Schmidt gelernt, schnell zu reagieren und Pointen rauszuschießen.

Das alles liest sich amüsant und hat viele auch sprachlich schöne Blitze, aber alles in allem weiß man am Ende nicht: Wieso sind diese beiden befreundet? Suter ist so gelassen, Stuckrad-Barre so umgetrieben. Ernst ist hier gar nichts, aber durchaus sehr unterhaltend schon.

Und das lustigste Kapitel ist eindeutig das Gespräch der beiden mit Siri. Und da zeigt sich: Siri ist die Einzige, die ernst ist. Künstliche Intelligenz hat einfach null Humor. Siri: „Das übersteigt möglicherweise meine Fähigkeiten.“

Martin Suter, Benjamin von Stuckrad-Barre: „Alle sind so ernst geworden“, 258 Seiten, Diogenes Verlag, 22 Euro

 „Fressgedichte”

Alles ist dicht. Alles ist trübe. Wo kriegt man jetzt noch was Lustiges zum Verschenken her? Bei Zweitausendeins. Da gibt es vier kleine, höchst witzige Büchlein von Thomas Gsella: "Festgedichte", "Fressgedichte", "Trinkgedichte" und "Lustgedichte", jeweils hübsch in Leinen gebunden und mit umwerfend komischen Bildern von Rudi Hurzlmeier verziert.

a ist nun für jeden was bei, den Vielfraß, den Säufer, den Lüstling, und für die, die doch einfach nur feiern wollen. Ich finde das alles sehr komisch, und heute mach ich es mir leicht und für Sie lustig: hier aus den "Fressgedichten" eins über den Thermomix: "Rühren, mischen und zerkleinern, Emulgieren, garen, kneten, Kochen, wiegen und verfeinern, Gelber Saft aus roten Beten, Kochen, schlagen, hauen, prügeln, Kohl entgräten, Rüben stutzen, Rasen mähen, Hemden bügeln, Mails verschicken, Zähne putzen, Urlaub machen, Handy laden, Socken stopfen und mal fix Dach erneuern, Kinder baden, Alles kann der Thermomix."

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten Ihnen allen!

Thomas Gsella: „Fressgedichte”, Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins, 128 Seiten, 12,90 Euro.

„Schreibtisch mit Aussicht“

„Ein Buch zu schreiben ist ein schrecklich anstrengender Kampf, vergleichbar mit einer schmerzhaften Krankheit“, hat der Schriftsteller George Orwell gesagt. Warum tut man es dann? Er sagt: um sichtbar zu werden. Frauen sind oft in dieser Welt noch unsichtbarer als Männer, und in der Literaturgeschichte haben sie kaum eine Tradition. Aber natürlich schreiben Frauen auch, und unabhängig vom Geschlecht: Schreiben ist immer ein Akt höchster Konzentration. Wie läuft das ab?

Das wollte die Autorin Ilka Piepgras wissen und hat ein Buch mit 23 Texten von Schriftstellerinnen herausgegeben, die über ihre Arbeit Auskunft geben - mal ernst, mal schnodderig, mal sehr komisch wie zum Beispiel die fabelhafte Anne Tyler, die sich im März einen Roman ausdenkt, aber dann kamen die Osterferien der Kinder, dann hatte der Hund Würmer, im Mai ging die Spülmaschine kaputt, dann starb ein Onkel, ein schwarzer Mantel musste gekauft werden, dann musste die Katze zur Tollwutimpfung und die Kinder hatten Turnwettkämpfe.

Dann endlich war Sommer, die Kinder im Ferienlager, aber ein Kind bekam Blinddarmentzündung, man musste hinfahren, dann irgendwann „konnte ich endlich schreiben, aber stattdessen saß ich in meinem Arbeitszimmer auf der Couch und starrte an die Wand.“ Ja, sagt Anne Tyler, und dann fragt mich eine Mutter vor der Schule, ob ich auch arbeite oder „nur schreibe…“

Und Eva Menasse sagt: „Vieles mit dem Schreiben ist wie mit der Liebe; es kommt auf den Zeitpunkt an.“ Eine großartige Sammlung kluger Gedanken von wunderbaren Schriftstellerinnen wie Mariana Leky, Meg Wolitzer, Hilary Mantel oder Sibylle Berg.

„Schreibtisch mit Aussicht“ hrsg. von Ilka Piepgras, Kein & Aber, 286 Seiten, 23 Euro

Volker Weidermann, „Brennendes Licht“

Volker Weidermann ist ein Autor, der vorwiegend über Autoren schreibt: über vergessene, verbrannte, verfemte, auch über solche, die sich ein Leben lang bekämpften wie Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, „Das Duell“ hieß dieses Buch über zwei Alphamänner der deutschen Literatur.

Jetzt hat er einen schmalen Roman über Anna Seghers geschrieben, die aus Mainz stammte, vor den Nazis nach Mexiko floh und nach dem Krieg in die DDR ging, weil sie auf diesen Staat als stramme Kommunistin die größeren Hoffnungen setzte.

„Brennendes Licht“ schildert Seghers Jahre in Mexiko, 1941-1947. Und wir lernen eine Frau kennen, die für das Überleben ihrer Familie kämpft, die bezaubert ist vom Licht, den Farben, der Lebensfreude in Mexiko, die aber auch schweigt, wo sie hätte reden müssen und sich dem Diktat ihrer Partei unterwirft. Sie überlebt nur knapp einen Autounfall - oder war es ein Anschlag? Und schreibt weiter, nach ihrem sogar von Hollywood verfilmten Welterfolg „Das 7. Kreuz“.

Weidermann fühlt sich in dieses Leben und Schreiben behutsam ein. Er hat auch die anderen Emigranten im Blick, die sich dort trafen und immer Heimweh nach Europa hatten, obwohl sie doch fast im Paradies waren. Aber überleben, wenn in der Heimat der Schrecken wütet - das ist nicht einfach. Man brauchte Kraft, Hoffnung und den Mut, sich der engen Parteilinie unter Umständen zu widersetzen.

Das Buch ist so ein berührendes Stück Zeitgeschichte geworden, über das Schicksal von Anna Seghers hinaus. Ein faszinierendes Leseerlebnis auf den Spuren deutscher Schriftsteller in einem, ja: „Brennenden Licht.“

Volker Weidermann: „Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko", Aufbau Verlag, 185 Seiten, 18 Euro.

William Boyd: „Der Mann, der gerne Frauen küsste“   

Dem schottischen Autor William Boyd verdanken wir schöne Romane wie „Ruhelos“ oder „Eines Menschen Herz“, sogar einen James Bond Roman hat er geschrieben: „Solo“. Und jetzt können wir zwölf Kurzgeschichten von ihm lesen. Alle spielen in Boyds bevorzugtem Milieu: unter Schriftstellern, Schauspielern, Künstlern, in einer etwas aufgeblasenen Angeberwelt, in der aber die Lebens- und Liebesprobleme so profan sind wie es nur geht: Männer sind treulos, Freundschaften zerbrechen, Lügengeschichten bewegen sich auf ganz dünnem Eis und gute Vorsätze halten nicht lange.

Er dachte über sein Leben und seinen Nachwuchs nach: drei Jahrzehnte, drei Ehen, dreimal Kinder von drei verschiedenen Frauen. Wenn er so weitermachte und es schaffte, sagen wir, achtzig zu werden, könnte er sein Leben am Ende als Vater von acht Kindern beschließen…“ Das aber will Ludo nicht, also Schluss mit Seitensprüngen und immer neuen Ehen, ab sofort würde er nur noch gelegentlich fremd küssen. „Der Mann, der gerne Frauen küsste“- da haben wir ihn, und natürlich geht das schief.

Bei allen Desastern in diesen Geschichten muss man doch auch immer irgendwie lachen, weil es so klug, spitzfindig und gnadenlos sezierend erzählt ist - alle menschlichen Liebesschwächen liegen auf dem Tisch. Und ich liebe Sätze wie: „Ich fürchte, er liebt mich, verdammt. Was ist nur mit den Männern los?“ Schön auch, wenn jemand fragt, wie das Wetter ist. Antwort: „Mach die Vorhänge auf, sieh selbst.“ „Nein, es ist interessanter, wenn ich es von dir höre.“ William Boyds Geschichten sind wie flotte, kleine Filme. Klar, er ist ja auch Drehbuchautor.

William Boyd: „Der Mann, der gerne Frauen küsste“   Erzählungen, Kampa,  279 Seiten, 22Euro.       

Sophy Roberts: „Sibiriens vergessene Klaviere“

Die britische Reisejournalistin Sophy Roberts ist auf ein völlig skurriles Thema gestoßen: ihr Buch heißt „Sibiriens vergessene Klaviere“. Wie bitte? Sibirien? Dieses riesige, unerbittlich kalte Land, jahrzehntelang Verbannungsort für Menschen, die die verschiedenen Regierungen lieber weggesperrt in Lagern sehen wollten, und dann Klaviere?

Unter den Verbannten waren viele Künstler, hochgebildete, kritische Menschen, und die nahmen manchmal in die Verbannung ihr Klavier oder ihren Flügel mit, spielten, gaben Konzerte, gaben Unterricht, etablierten eine Musikkultur hier in einem der entferntesten und unwirtlichsten Flecken der Erde. Sophy Roberts ist diesen Klavieren und ihren Geschichten nachgereist, und wir Leser reisen mit und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Ist das noch ein Sachbuch oder schon ein Roman? Es ist beides: Es dokumentiert mit genauen Zeit- und Ortsangaben die Reisen der Klaviere in Eis und Schnee, aber es erzählt auch die dazugehörigen Geschichten der Menschen, Geschichten von innerer Stärke, Liebe zur Musik, Trost in einsamen Gegenden und schrecklichen Zeiten.

Der Komponist Peter Tschaikowsky hat gesagt: „Es gäbe wahrhaft Grund, verrückt zu werden, gäbe es nicht die Musik.“ Dieses wunderbare Buch erzählt von der russischen Musikkultur nicht nur in Petersburg und Moskau, sondern im fernen Sibirien, wo bis heute ein paar kostbare Instrumente vor sich hin träumen.

Sophy Roberts hat ihre Geschichten und die ihrer Besitzer zusammengetragen zu einem Buch voller Wunder. Ein Flügel zum Beispiel war auch immer dazu gut, um ihn bei Krieg, Razzien und Verdunkelung hochkant vors Fenster zu stellen. So haben wir über Klaviere noch nie nachgedacht!

Sophy Roberts: „Sibiriens vergessene Klaviere“ , aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Zsolnay Verlag, 400 Seiten, 26,80 Euro. E-Book: 19,99 Euro

Charlotte McConaghy: „Zugvögel“

 „Zugvögel“ heißt der erste Roman der irisch-australischen Autorin Charlotte McConaghy. Er spielt in einer nicht ganz so fernen Zukunft und hat das Verschwinden der Küstenseeschwalben zum Thema. Die Hauptfigur ist Franny, eine Ornithologin, und die macht sich auf eine sehr gefährliche Reise um zu erkunden, was diesen Vögeln wohl geschehen ist. Und wie jede gefährliche Reise, zu der man den Mut aufbringt, ist auch diese eine zu sich selbst.

Franny heuert auf einem Fischkutter mit lauter vom Leben ziemlich gebeutelten Männern an, um dem Flug der Küstenseeschwalben zu folgen, den Vögeln, die jedes Jahr die längste Reise unternehmen, die es auf dieser Welt gibt und die plötzlich verschwinden. Nur ungern nehmen die alten Seebären eine Frau mit, sie muss schwer arbeiten an Bord, sich nach und nach den Respekt der Männer erkämpfen und  was noch viel wichtiger ist: deren Interesse für ihr Anliegen, das den Fischern am Anfang völlig wurscht ist. Aber das ändert sich im Laufe der Reise.

Franny erzählt nach und nach von ihrem Leben, in dem es wenig Halt gibt. Sie schreibt in einem Brief an ihren Mann: „Ich weiß nicht, wie ich die Welt in eine Form bringen soll, mit der ich klar komme.“ Sie ist an den Vögeln und ihrem Verschwinden sehr interessiert, am großen Sterben in den überfischten und verdreckten Meeren, aber sie sucht auch danach, wo in diesem ganzen Desaster eigentlich ihr Platz ist.

Es ist ein Buch über die tiefe Liebe zur Natur, aber auch eins über Kämpfe - Kämpfe der Tiere, der Menschen, jeder will überleben, und wie überlebt man denn nicht auf Kosten der anderen?

Charlotte McConaghy: „Zugvögel“, Fischer, deutsch von Tatjana Handels, 397 Seiten, 22 Euro.

​Marta Orriols: „Der Moment zwischen den Zeiten“

„Mauro und ich waren viele Jahre ein Paar. Und dann waren wir es von einer Sekunde auf die andere nicht mehr. Vor ein paar Monaten ist er überraschend gestorben. Ein Auto hat ihn überfahren, und mit ihm so viel mehr.“ Auf der dritten Seite des Romans erfahren wir das. Und dann geht es zurück bis zu jenem Abend, und da wird es spannend: Die Ich-Erzählerin Paula hat gerade beschlossen, nun endlich mit Mauro eine Familie zu gründen und ein Kind haben zu wollen.

Und sie will ihm das bei einem schönen Abendessen im Restaurant sagen. Aber ehe sie dazu kommt, sagt er ihr: Paula, ich habe eine andere Frau kennengelernt, ich will Kinder mit ihr, ich verlasse dich. Und dann hatte er sich auf sein Fahrrad gesetzt, war losgefahren und tödlich verunglückt.

Wie kommt man mit so einem Laufpass und dann gleich dem völligen Verlust des Mannes klar, mit dem man eben noch sein Leben verbringen wollte? Was für eine Geschichte! Wir erfahren Paulas Achterbahngefühle zwischen Trauer und Zorn, wir dröseln mit ihr in Rückblicken diese Beziehung auf, wir lernen sogar die andere Frau kennen. Und wir erleben Paula – wie es der Titel sagt – zwischen den Zeiten: nicht mehr im alten Leben, noch nicht in irgendeinem neuen, das man Leben nennen könnte.

Der Katalanin Marta Orriols ist gleich mit ihrem ersten Roman ein großartiges Buch gelungen, eine Geschichte von Zorn und Fassungslosigkeit, aber auch von Liebe und Schmerz, und wir merken beim Lesen wieder, wie nah Liebe und Verlust, Leben und Tod, Kummer und Glück beieinander liegen. Nach dem Lesen will man das Buch sofort seiner Freundin leihen oder schenken!

Marta Orriols: Der Moment zwischen den Zeiten. dtv, 288 Seiten, 20 Euro, E-Book: 14,99 Euro.

Ludger Fischer: „Küchenirrtümer”

Pilze und Spinat darf man nicht aufwärmen! Muscheln darf man nur in Monaten mit R essen! Fleisch darf man vor dem Anbraten nicht salzen! Haben Sie das auch gelernt? Alles Quatsch. Und weil in dieser Buchmessenwoche überall so viel von neuen Romanen die Rede ist, dass ich hier nicht auch noch einen anpreisen will, tröste ich Sie mit einem herrlichen Buch von Ludger Fischer: „Küchenirrtümer“. 

Da kann man gar nicht genug staunen! Meersalz ist gesund und schmeckt besser? Nö. Salz ist Natriumchlorid, immer, nichts sonst, auch wenn es „fleur de sel“ heißt und dann fünfmal so teuer ist. Kein Unterschied, nur optisch. Weinbrandgläser müssen warm ausgespült werden? Um Himmels willen, nein, probieren Sie es einfach aus, Cognac aus warmen Gläsern schmeckt besch…

Und so geht es Kapitel für Kapitel weiter in diesem köstlichen Buch, das sich wie ein Schmöker liest. Zusammenfassung: wir machen alle alles falsch beziehungsweise sitzen den uralten Irrtümern unserer Mütter und Großmütter auf. Brot darf man nie im Kühlschrank aufbewahren! Ach nein? Na, dann lassen Sie es doch draußen vertrocknen oder im Steinguttopf verschimmeln. Nur im Kühlschrank hält es sich lange!

Cola löst ein Stück Fleisch über Nacht auf! Wer denkt sich solchen Horror aus? Verschwörungstheoretiker, die mal wieder vor der bösen Macht der Konzerne warnen wollen? Cola löst gar nix auf, hat nur mächtig viel Zucker. Und die wichtigste Mitteilung: hat man Ihnen auch immer gesagt „der Tod steckt im Küchenbrettchen“? Auch nicht wahr. Holzbrettchen sind sogar hygienischer als welche aus Plastik, und der Tod… der kommt in der Regel ganz woanders her!

Ludger Fischer: „Küchenirrtümer“, Osburg Verlag, 260 Seiten, 20 Euro

Susan Sontag: „Wie wir jetzt leben“

Susan Sontag, Schriftstellerin, Essayistin, die Greta Garbo der Intellektuellen, ist nach ihrem Tod 2004 mehr „in“ als je zuvor. Gerade ist eine dicke Biografie von Benjamin Moser erschienen, dann das kluge Erinnerungsbuch von Sigrid Nunez, „Sempre Susan“ und nun fünf kleine Erzählungen aus den 80er Jahren von ihr selbst: „Wie wir jetzt leben.“ Sind das wirklich klassische Erzählungen? Die Titelgeschichte zum Beispiel, das ist ein atemloses Aufzählen von insgesamt 27 verschiedenen Menschen, die über einen namenlosen Kranken reden. Es geht um Aids, und auch die Krankheit wird in der Geschichte nicht ein einziges Mal benannt. Hinter jeder dieser Figuren steckt im Grunde die Autorin, die versucht, sich über das Phänomen Aids klar zu werden. Es hat Susan Sontag immer geärgert, auf die Essayistin reduziert zu werden, sie wollte Literatin sein. Aber ihre Essays zum Beispiel über Kunst, Fotografie und Krankheit als Metapher überzeugen einfach mehr als ihre literarischen Versuche. Sie ist eine glänzende Denkerin, keine glänzende Erzählerin, doch diese kleinen Geschichten vermitteln uns trotzdem viel. Mit Rührung lesen wir, wie die 14-jährige Susan Thomas Mann im Exil besucht und kein gescheites Wort rausbringt, und doch registriert sie schon das zutiefst Bürgerliche seiner Existenz und schreibt: „Wir beide nicht in Bestform.“ Das ist groß, oder? Das ist schon ganz Susan! Der zweite Band von Sontags Tagebüchern heißt „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“– das genau ist es, worum es auch in diesem Band geht, und das macht die kleinen Geschichten lesenswert. Susan Sontag: „Wie wir jetzt leben“, Hanser Verlag, 123 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15,99 Euro.

Zora del Buono: „Die Marschallin“

Wer die ganz dicken, großen Schmöker liebt, in denen es um ALLES geht, der ist hier genau richtig. Zora del Buono erzählt eine Geschichte, die sich über fast ein Jahrhundert erstreckt. Es geht um eine Familie mit allen Höhen und Tiefen, um Politik und Liebe und Irrtümer, um Erfolge und Scheitern, und es ist noch dazu eine wahre Geschichte, nichts ist erfunden und alles überzeugend atemberaubend.

Denn die 1962 geborene Zora del Buono erzählt die Lebensgeschichte ihrer Großmutter, die auch Zora hieß und mit vier Brüdern im ehemaligen Jugoslawien aufwuchs, stramme Kommunistin und später treueste Anhängerin des Marschalls Tito. 1919 lernt sie ihren Mann kennen, einen italienischen Arzt, dem sie nach Bari folgt, er wird berühmter Radiologe und rettet später Tito das Leben. Zora lebt nun großbürgerlich in Süditalien, bekommt drei Söhne, bleibt Kommunistin, schmuggelt Waffen für die Partisanen und wird sogar in einen Mord verwickelt. Das Muttersein bedeutet ihr nicht viel, ihre Söhne findet sie wenig interessant, die Schwiegertöchter hasst sie allesamt, aber als ihre Söhne vor ihr sterben, zerbricht doch etwas in dieser Marschallin, die ganze Generationen beeinflusst und beherrscht. „Wäre sie ein Mann gewesen“, schreibt die Enkelin, „ sie wäre Major geworden, eher noch Marschall, vielleicht sogar Staatspräsident. So wie er. Wie Josip Broz Tito.“

Einen lebenssatteren Roman mit interessanteren Figuren kann man derzeit kaum finden: Es geht auch um Europa, um das 20. Jahrhundert und um den Beginn all der Probleme, die uns heute zu schaffen machen.  

Zora del Buono,  „Die Marschallin“, Verlag C.H.Beck, 382 S., 24 Euro. E-Book: 18 Euro

Joachim Meyerhoff: „Hamster im hinteren Stromgebiet“

Der Schauspieler und Schriftsteller Joachim Meyerhoff schreibt immer an seinem eigenen Leben entlang, und er garniert Tatsachen mit so viel Witz und Fantasie, dass seine Bücher zum Besten gehören, was man derzeit an deutscher Literatur lesen kann.

Es ging zum Beispiel schon um seine Kindheit auf einem Psychiatriegelände, wo sein Vater Arzt war, um die Jahre auf der Schauspielschule in München, um Liebe in der Provinz, und immer war das sehr komisch – aber nun geht es um einen Schlaganfall, der ihn mitten im Leben, er ist knapp 50, erwischt hat. Kann das noch komisch sein? Kann es, bei Meyerhoff.

Noch als er schon im Krankenwagen ist, halbseitig gelähmt, beobachtet er die schnaufenden, unbeholfenen Sanitäter und macht sich quasi im Kopf Notizen über sie. Er beschreibt den Krankenhausaufenthalt, die Schwestern, die Ärzte, für ihn ist einfach alles Stoff zum Erzählen und alles wird irgendwie komisch. Er überlegt, ob so ein Thrombus im Kopf auch was Gutes haben könnte, kann man nachher vielleicht plötzlich fremde Sprachen oder jodeln?

Er sieht viel Komik in all dem Elend, ist aber auch spürbar entsetzt darüber, wie schnell das gehen kann, dass ein Mensch zack, total reduziert wird, wenn ihm so etwas passiert. Aber die Ärztin zeigt ihm die Röntgenbilder und tröstet: „Schauen Sie hier, Ihr gesamtes hinteres Stromgebiet sieht sehr gut aus.“ Draußen im Park laufen wilde Hamster rum – sind die echt? Oder nur im hinteren Stromgebiet eingebildet? Und schon hat er auch den Titel für diesen fabelhaften, höchst unterhaltenden Roman – der leicht daherkommt und doch über etwas Schwerem tanzt.

Joachim Meyerhoff: „Hamster im hinteren Stromgebiet“, Kiepenheuer&Witsch, 307 Seiten, 24 Euro.

Margaret Laurence: „Der steinerne Engel“

Hagar Shipley ist über 90 Jahre alt und wohnt bei ihrem Sohn Marvin, den sie für einen Trottel und seiner Frau Doris, die sie für eine dämliche Trutsche hält. Sie hat den beiden ihr Haus überschrieben, pocht aber immer noch störrisch darauf, dass das ihr Haus sei und sie darin tun könne, was sie wolle. Kann sie aber eben nicht mehr, und sie müsste im Grunde dringend in ein Pflegeheim. Marvin und Doris kommen aber gegen diese störrische alte Frau nicht an. Hagar ist eingesponnen in ihre Erinnerungen, ihr Leben läuft vor ihr ab, und wir sehen: sie war schon immer so. Das Alter hat sie nicht böser gemacht, es hat nur den letzten Rest Fassade auch noch bröckeln lassen. Sie weiß, dass sie keine nette Frau ist, „in einem fernen Felsspalt meines Herzens, einer viel zu tiefen, verborgenen Höhle“ gibt sie zu, dass sie gern freundlicher gewesen wäre, aber es irgendwie nie hingekriegt hat: „Mir fallen nicht allzu viele ein, denen ich geholfen hätte.“ Ehe es ans Sterben geht, reißt Hagar noch mal aus, fährt mit einem Bus in eine Gegend, in der sie mal glücklich war, verirrt sich, wird krank, nur zufällig gefunden- und nun muss sie ins Krankenhaus und weiß: das ist die letzte Etappe. „Ich habe Angst“, kann sie endlich zu ihrem Sohn Marvin sagen. Beim Lesen ist man letztlich immer auf Hagars Seite, aus ihrer ruppigen Sicht wird auch erzählt. Ihre Kraft, ihr Lebenswillen imponieren, und die kanadische Autorin Margaret Laurence, die 1987 mit 6o Jahren durch Selbstmord starb, muss viel von diesem Charakter in sich gehabt haben – den Stolz, die Stärke, aber auch die tiefe Grundeinsamkeit.

Margaret Laurence: „Der steinerne Engel“, aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark, Eisele Verlag, 350 Seiten, 22 Euro 

Patti Smith: „Im Jahr des Affen“

Mein heutiges Buch wird die Fans von Patti Smith glücklich machen. Patti Smith, Rocksängerin, Dichterin, ist inzwischen auch schon 70 Jahre alt und schreibt seit einiger Zeit kleine Erinnerungsbücher - über ihr Leben in New York mit dem früh verstorbenen Fotografen Robert Mapplethorpe, über ihren auch verstorbenen Mann, den Gitarristen Fred „Sonic“ Smith, für den (und die Kinder) sie jahrzehntelang ihre Karriere aufgegeben hat – und nun ein schmales Buch „Im Jahr des Affen“.

Das war das Jahr 2016, der Affe stammt aus dem chinesischen Horoskop, und es war für Patti Smith ein Jahr der Reisen und ein Jahr des Abschieds von sterbenden Freunden, zum Beispiel dem Dichter Sam Shepard, dem sie bei seinem letzten Text hilft. Patti schreibt über Verlust, über den Tod, über Freundschaft, über das Altern, das Unterwegssein.

Sie, die poetische Träumerin, findet erboste Worte gegen Donald Trump, ohne ihn beim Namen zu nennen – sie nennt ihn einen „unerträglichen gelbhaarigen Hochstapler“ und seine Wahl eine „schreckliche Seifenoper“, aber das ist auch schon das Realistischste in diesen zarten, eher verträumten Texten. Aber: „Das Dumme am Träumen ist, dass wir irgendwann aufwachen.“

Patti Smith sieht durchaus die reale Welt, auch wenn sie sich immer bemüht, im Radio die Nachrichten schnell weg zu schalten. Aber zuhause ist sie in der Welt der Musik, der Dichtung, der Freundschaft. Ihr Buch ist wie ein Trostpflaster auf eine Wunde, die das Leben uns jeden Tag neu schlägt. „Trotzdem“, schreibt sie, „glaube ich nach wie vor, dass bald etwas Wunderbares passiert. Vielleicht morgen.“

Patti Smith: „Im Jahr des Affen“, aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Kiepenheuer & Witsch, 200 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro

Santiago Amigorena: „Kein Ort ist fern genug"

Das ist die Geschichte des jungen Juden Wincenty Rosenberg aus Warschau, der 1928 nach Buenos Aires auswandert und sich fortan Vicente nennt. Mutter und Bruder bleiben zurück, er verspricht: ich hole euch nach. Aber er muss sich ja erst selbst eine Existenz aufbauen, und das tut er: Er heiratet, wird Vater, eröffnet ein Möbelgeschäft. Mit wachsender Sorge liest er die Nachrichten aus Europa und die Briefe der Mutter: Man ist im Ghetto? Hat Hunger? Es gibt Lager? Was passiert da eigentlich?

Kommt her, schreibt Vicente seiner Mutter, aber das ist schon ganz unmöglich. Er ist fassungslos und wird immer schweigsamer. Worüber soll er reden, wenn es ihm das Herz zerreißt? Und dann kommen auch keine Briefe mehr – Stille jenseits des Ozeans, leben sie noch dort? Und Stille in Vicente, der sich schuldig fühlt, weil es ihm gut geht. Er spricht mit niemandem mehr, auch nicht mit Rosita, er stellt einen jungen Mann ein, der den Laden führt, und wandert ruhelos durch Buenos Aires.

Er geht in eine Art inneres Exil, der Originaltitel des Buches trifft es gut: „Le Ghetto intérieur“, das innere Ghetto. 1945, der Krieg ist aus und Vicente ist für einen Moment glücklich, er zeugt mit Rosita ein drittes Kind, das sie Victoire nennen, Sieg. Diese Victoire ist die Tante des Erzählers Santiago Amigorena, der hier die wahre Geschichte seiner Familie, seines Großvaters mit wenigen, sparsamen, tief beeindruckenden Worten erzählt. Er, der Enkel, weiß ja genau, was geschehen ist und kann die Lücken in den schrecklichen Ahnungen des Großvaters füllen. Und er verteilt keine Schuld.

Santiago Amigorena: „Kein Ort ist fern genug“. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, 184 Seiten, 20 Euro, E-Book: 15,99 Euro.

Rye Curtis: „Cloris”

Mr. und Mrs. Waldrip sind seit 54 Jahren verheiratet. Sie sind in Rente und leisten sich einen Hubschrauberrundflug über den Bitterroot National Forest. Das geht schief: Der Hubschrauber stürzt ab, der Pilot und Mr. Waldrip sterben.

Cloris Waldrip, eine energische Dame von 72 Jahren, versucht nun, in dieser Wildnis zu überleben. Sie erzählt aus der Rückschau, wie ihr das gelingt, so dass wir Leser beruhigt sind: Sie schafft es. Parallel dazu wird die Geschichte einiger Ranger erzählt, die in dieser undurchdringlichen Gegend arbeiten, nach Cloris suchen und nur mit Mühe ihr eigenes Leben auf die Reihe kriegen. Das ist manchmal schwieriger als mit Handtasche durchs Gestrüpp zu marschieren und aus einem Fluss zu trinken, was Cloris wochenlang tut.

Irgendwer, der im Wald lebt, beschützt sie, legt immer mal was zu essen hin, macht ein Feuer. Sie sieht den Fremden von weitem, mit Kapuze, wir ahnen, wer es sein könnte, denn den suchen die Ranger auch. Und so wachsen nach und nach zwei Geschichten zusammen, spannend, bewegend und – was Mrs. Waldrip betrifft, die auch in totaler Wildnis nie ihre Manieren vergisst – zuweilen sehr makaber komisch.

Der junge texanische Autor Rye Curtis schafft es, den Überlebenskampf einer alten Frau in einer rauen Gegend so zu beschreiben, wie Delia Owens in ihrem Bestseller „Der Gesang der Flusskrebse“ das Überleben der jungen Kya beschreibt. Dieses hier ist brutaler und komischer zugleich, und nicht nur Mrs. Waldrips Leben ändert sich dramatisch, sondern auch das der Ranger, die nie die Suche nach ihr aufgeben. Und der Kapuzenmann? Hat keine Chance.

Rye Curtis; „Cloris“, deutsch von Cornelius Hartz, C.H.Beck, 352 S., 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro

Ulrike Ulrich: „Während wir feiern“

„Sie muss diese Blumen loswerden.“ Das ist der erste Satz in Ulrike Ulrichs Roman „Während wir feiern“. Das hat mich an was erinnert, und ich habe nachgeschlagen in einem Klassiker, der auch von einer Feier erzählt: „Mrs Dalloway“ von Virginia Woolf. Der erste Satz dort lautet: „Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen.“

Und so liest man denn diesen neuen Romane in Gedanken an den anderen, es gibt viele Parallelen, und doch stehen natürlich beide total für sich. Ulrichs Hauptfigur ist Alexa, die ein Fest zum Schweizer Nationalfeiertag, dem 1. August auf ihrer Dachterrasse plant, und irgendwas kommt immer dazwischen.

Die Partygesellschaft funktioniert nicht reibungslos, 1923 bei Clarissa Dalloway nicht und heute bei Alexa nicht, denn die Welt draußen ist nicht in Ordnung, und jeder ihrer Gäste bringt ein anderes Problem mit. Bei Virginia Woolf begeht der traumatisierte Soldat Septimus Warren Smith am Ende Selbstmord und verdüstert das Fest, bei Ulrike Ulrich ist es Kamal, ein tunesischer Flüchtling, dem die Abschiebung droht und um den sich Zoltan, ein Freund von Alexa kümmert. Nicht genug kümmert und durchaus nicht nur aus politischen Gründen. Läuft da vielleicht alles aus dem Ruder, „während wir feiern“?

Das Buch ist eine kluge Gesellschaftsanalyse. Wir wissen, dass wir auf Messers Schneide leben in unserm reichen schönen Westen. Die Armen drängen nach. Wie wird die Zukunft aussehen, für uns alle? Das unterhaltend beschreiben zu können ist Ulrike Ulrichs Kunst. „Sie war davongekommen. Aber dieser junge Mann hatte sich umgebracht.“ So heißt es gegen Ende bei Woolf. Und hier? „Es wird schon wieder getanzt.“ 

Ulrike Ulrich: „Während wir feiern“, Berlin Verlag, 270 Seiten, 22 Euro

John O’Connell: „Bowies Bücher“

David Bowie war ein manischer Leser, auf jeder Reise hatte er einen vollgepackten Bücherkoffer dabei. Er flog nicht gern, er las auf langen Stunden im Zug, er las, seit er ein Kind war, und was er las, ging in sein Leben, seine Songs, sogar seine verrückten Kostüme ein. In diesem Buch arbeitet der Journalist John O’Connell mit Leidenschaft und Kenntnis die 100 Bücher ab, die Bowie die wichtigsten waren – es ist seine persönliche Liste. (Unter 100 Autoren nur zwölf Frauen! Den haben die Männer geprägt.) Er liebte Krimis und Reiseberichte, Sachbücher, zum Beispiel zur englischen Geschichte, Romane, Comics, und seine Lektüreliste ist wie die Geschichte seines Lebens: Aus Burgess’ „Clockwork Orange“ nahm er die Anregung zur Verwandlung in Ziggy Stardust; weil er Dante liebte, heiratete er seine Iman in Florenz, die Lektüre von Capotes „Kaltblütig“ bestärkte ihn in seiner Außenseiterrolle und die Bücher von Yukio Mishima ließen ihn lässig mit seiner Bisexualität umgehen und lehrten ihn auch: Man wird so, wie man sein möchte, wenn man sich bewusst so verhält. Du wirst, wer du bist, indem du es übst.

Das ist hochinteressant zu lesen und mit dem eigenen Leseleben zu vergleichen. Schön auch, dass O’Connell am Ende jedes Kapitels einen Tipp gibt, was man dazu hören oder wo man in dieser Richtung weiterlesen könnte. Bowies Bücher sagen etwas über diesen Künstler aus, aber auch über die Zeit, in der er lebte, die 70er, 80er, 90er Jahre – eine Zeit, in der wir auch gelebt und gelesen haben. Und da dürfen idiotische Klamotten, schlechter Geschmack, Verirrungen im Denken und im Aussehen durchaus dazugehören: Man nennt es Entwicklung.

John O’Connell: „Bowies Bücher“, KiWi , 383 Seiten, 16 Euro, E-Book: 14,99 Euro.

Clemens Berger: „Der Präsident”

Jay Immer ist Polizist, glücklich verheiratet mit Lucy, und er sieht Präsident Ronald Reagan verblüffend ähnlich. Das heißt: Wir sind in den 80er-Jahren. Eine Werbeagentur nimmt Jay Immer so lukrativ unter Vertrag, dass er als Polizist seinen Abschied nehmen und mehr verdienen kann als je zuvor. Jetzt fliegt er mit Lucy durch die USA, weiht Häuser und Brücken ein, posiert mit Lokalpolitikern und Touristen für Fotos, er spielt mit und hat Spaß. Er wird angefragt für ein Musikvideo, in dem Gorbatschow die Mauer einreißt und Johannes Paul II dazu singt – natürlich Doppelgänger wie er.

Aber Jay ist ein sehr ernsthafter Mann, und die Politik von Ronald Reagan gefällt ihm nicht, ihm gefallen die Lügen nicht, die kriegerischen Konflikte, die Art, wie er die Gewerkschaften behandelt und: Jay „war nicht darauf vorbereitet gewesen, Leidenschaften zu entwickeln.“ Jetzt hält er vor Leuten Reden, in denen er sich für Fehler der Regierung entschuldigt, einen Wechsel der Klimapolitik verspricht, kleine Dinge verändert – nicht auszudenken, wenn es damals schon Youtube gegeben hätte! So aber kommt er ernsthaft damit durch, auch damit, die besten Plätze in eigentlich ausgebuchten Restaurants zu kriegen – Jay Immer ist jetzt der 40. Präsident der Vereinigten Staaten.

Aber der Autor dieser wunderbaren Geschichte, Clemens Berger, lässt ihn nicht durchdrehen. Er zeigt seinen Helden, der keiner sein wollte, als liebevollen, klugen und auch mutigen Mann, der versucht, Unmögliches möglich zu machen, weil er in einem historischen Moment das richtige Gesicht hat. Und weil Menschen nun mal den Schein mehr lieben als die Wahrheit…

Clemens Berger: Der Präsident, Residenz Verlag, 335 Seiten, 24 Euro, E-Book: 16,99 Euro.  

Karine Tuil: „Menschliche Dinge“

Auf den ersten Blick bilden Claire, Jean und Alexandre Farel die perfekte gebildete, reiche, anerkannte Pariser Familie. Die Elite. Hinter den Kulissen sieht das anders aus. Claire und Jean sind, wie Karine Tuil das einmal schön ausdrückt, „geübte Simulanten ehelichen Glücks“, sie geben das strahlende Paar. Aber Jean führt seit Jahren ein Doppelleben mit einer anderen Frau und legt am Abend nach einem Fest, bei dem er als langjähriger Fernsehstar geehrt wird, auch schon mal eine junge Praktikantin flach; Claire verliebt sich Hals über Kopf in Adam Wizman, einen Juden, der für sie seine Familie verlässt, die Leidenschaft reißt beide hin.

„Und wo soll ich leben?“ fragt Alexandre, der Sohn. Erst mal schicken sie ihn mit Adams schüchterner und wenig attraktiver Tochter Mila auf eine Party. Und am nächsten Morgen steht die Polizei bei Jean vor der Tür: Anzeige wegen Vergewaltigung. Jean denkt, es ginge um die Praktikantin – es geht aber um Alexandre, den Mila angezeigt hat. Und nun dreht sich ein Karussell der Entsetzlichkeiten und wirft alles und alle aus der gewohnten Umlaufbahn.

Tuils Trick: die vermeintliche Vergewaltigung aus immer anderen Blickwinkeln zu erzählen, meist unter Anwälten im Gerichtssaal – was ist wahr? Nicht wahr? Es spielt keine Rolle: Diese Familie geht, von der Autorin messerscharf seziert, den Bach runter.

Dass Karine Tuil grandiose Gesellschaftsromane schreiben kann, hat sie schon mit „Die Gierigen“ und „Zeit der Ruhelosen“ bewiesen. Mit „Menschliche Dinge“ über genau das, nämlich die Gefühle, die uns aus dem Gleichgewicht bringen, ist ihr wieder ein Meisterwerk gelungen.

Karine Tuil: „Menschliche Dinge“, Claassen, 380 Seiten, 22 Euro, E-Book 19,99 Euro.  

Jhumpa Lahiri: „Wo ich mich finde“

Ist das wirklich ein Roman? Es sind Miniaturen, Momentaufnahmen, ganz kurze Geschichten, überschrieben mit Auf dem Bürgersteig, In der Buchhandlung, In der Sonne, Bei mir zuhause oder auch: Im Stillen – alles Antworten auf den Titel „Wo ich mich finde“.

Wir gehen mit der Ich-Erzählerin, Mitte vierzig, durch ihre Stadt in Italien. Sie lebt allein, eine scheue Einzelgängerin, sie beobachtet ihre Umgebung genau und stellt Veränderungen in der Stadt fest – der schöne alte Papierladen verschwindet, ein Koffergeschäft ersetzt ihn. Und tatsächlich, sie kauft eines Tages einen Koffer – steht etwa eine Veränderung an? Sie überlegt auf ihren Gängen: Hätte es eigentlich auch ein anderes Leben für mich geben können? Und ganz langsam entwickeln diese fast ereignislosen Geschichten eine Art Sogwirkung, denn sie regen den Leser dazu an, sich selbst zu fragen: wo finde ICH mich? Beim Telefonat mit der Mutter, beim Spaziergang mit dem Hund, am Fenster, im Supermarkt? Jhumpa Lahiri ist eine englische Autorin indischer Abstammung, diese Herkunft spielt in ihren Büchern eine Rolle.

Sie erzählt oft Familiengeschichten, die sich mit Wurzellosigkeit durch Herkunft befassen. Mein Lieblingsbuch von ihr war „Das Tiefland“, die Geschichte zweier Brüder, von denen der eine in Bengalen bleibt und als Terrorist erschossen wird, der andere dessen Witwe heiratet und in die USA zieht. Lahiri lebte lange in den USA und ist seit einigen Jahren in Italien, und jetzt ist Italienisch ihre Sprache geworden. Wenn man diese kurzen, zarten Geschichten liest und darüber nachdenkt, ist beinahe jede wie eine kleine Meditation…

Jhumpa Lahiri: „Wo ich mich finde“, a.d. Italienischen von Margit Knapp, Rowohlt, 155 Seiten, 20 Euro, E-Book: 14,99 Euro 

Lily King: „Writers & Lovers“

Ich liebe Romane, die vom Schreiben handeln. Jetzt nicht davon, wie der Autor/in rumsitzt und am Bleistift kaut oder auf die leere PC-Scheibe schaut, sondern davon, wie aus Leben Literatur wird. Wie man das erzählt, was einen umtreibt – Liebe, Tod, Verlust, Glück, wann wird daraus eine Geschichte über das eigene Leben hinaus, eine, die dann uns alle betrifft und interessiert?

Die Amerikanerin Lily King hat aus eigenem Erleben einen wunderbaren Roman gemacht. Als ihre Mutter starb und sie auf einem Schuldenberg in einem ganz und gar planlosen Leben da saß, fing sie an, zu schreiben – über eine Frau, die ihre Mutter verloren hat und… wir ahnen es.

Da gibt es zwei Männer, zwischen denen sich Casey, so heißt die Protagonistin im Buch, nicht entscheiden kann, da gibt es die Schreibversuche, die Manuskripte, die von allen Verlagen immer wieder zurück geschickt werden, und da gibt es den beknackten Vermieter, in dessen Garage sie wohnen darf und der tatsächlich zu ihr sagt: „Weißt du, ich staune nur immer wieder, dass du glaubst, du hättest etwas zu sagen!“

Und sie hat was zu sagen, diese Casey. Über die Unwägbarkeiten der Liebe, den Kummer, die Mutter verloren zu haben, über Freundschaft und darüber, wie man den richtigen Weg durchs Leben finden muss und finden kann, auch wenn einige Abzweigungen schon versperrt sind.

In einem Text für eine Literaturzeitschrift sagte die Autorin, sie widme diesen Roman „all den Frauen, die in alten Pantoffeln in Einfahrten stehen, und auch sonst allen, die an einem Traum festhalten, der ihnen abhandenzukommen droht.“

Und ich füge hinzu: Das ist auch durchaus ein Roman für Männer, die wissen wollen, was Frauen denken und fühlen.

Lily King: „Writers & Lovers“, C.H.Beck, 319 Seiten, 24 Euro, E-Book 17,99 Euro 

Jami Attenberg: „Nicht mein Ding“

Andrea Bern ist 39 Jahre alt, lebt in New York und will weder einen Ehemann noch Kinder. Aber für so eine Entscheidung muss man sich pausenlos rechtfertigen, wenn alle um einen herum heiraten und Kinder kriegen. Andrea fühlt einfach, dass das „Nicht mein Ding“ wäre, und so heißt ja auch der Roman der amerikanischen Autorin Jami Attenberg, die vor etwa zehn Jahren mit „Die Middlesteins“ bewiesen hat, was für großartige Familiengeschichten sie schreiben kann.

Der Untergrund ist oft traurig, und doch muss man beim Lesen dauernd lachen, so auch hier. Denn natürlich hat auch Andrea eine Familie– sie hat eine Mutter und einen Bruder und fatale Erinnerungen an ihren Musiker-Vater. Der Bruder heiratet die bildschöne, gescheite Greta, alles ist perfekt, und dann kommt ein schwer krankes, lebensunfähiges Kind zur Welt. Das verändert alles. Andrea nimmt zwar Anteil, ist aber doch immer wieder froh, dass das nicht ihr Leben ist.

Aber was genau ist denn ihr Leben? Das Kunststudium hat sie abgebrochen, malen wollte sie mal, eigentlich. Einen festen Freund gibt es nicht, nur zahllose Affären. Und was wäre denn nun ein richtiges, ein glückliches Leben? Sie sieht um sich herum keines, das ihr erstrebenswert scheint, aber sie selbst ist auch weit davon entfernt.

Wenn dieses trotz allem auch komische Buch eine Botschaft hat, dann diese: wenn man sich für eine Art Leben, wie auch immer, entscheidet: dann muss man da durch ohne Jammern. Man muss eine eigene Haltung finden. Und dann? „Du beißt in deine Pizza und trinkst einen Schluck Wein und stellst dir die Frage, für die du endlich bereit bist: Und jetzt?“

Jami Attenberg: „Nicht mein Ding“,deutsch von Barbara Christ, Schöffling Verlag, 223 Seiten, 22 Euro

Guillaume Musso: „Ein Wort, um dich zu retten“ 

Der Autor Guillaume Musso führt seit zehn Jahren die Bestsellerlisten an, in seiner Heimat Frankreich sowieso, aber auch bei uns, und seine Bücher gibt es in 40 Sprachen. Und ich sage es frei heraus: Weltliteratur ist das nicht. Er schreibt das, was man Schmöker nennt – leicht lesbare, gut gestrickte Bücher für Strand, Urlaub, lange Zugfahrten. Sie sind unterhaltend und so wie ein gutes Stück Kuchen. Danach ist man zufrieden, und auch dafür sind Bücher da: uns für ein paar Stunden herrlich abzulenken.

Also, packen Sie in Ihr Urlaubsgepäck die Geschichte vom störrischen Dichter Nathan Fawles, der sich auf einer Insel verbarrikadiert und keine Menschen mehr sehen will. Seit zwanzig Jahren schreibt er auch nicht mehr. Warum all das? Das will der junge, erfolglose Schriftsteller Raphael Bataille wissen, der auf der Insel einen Ferienjob hat. Und auch die Journalistin Mathilde Monney ist hinter dem Dichterphantom her, aber aus ganz anderen Gründen. Beide pirschen sich immer näher an ihn heran, und langsam wächst sich das zu einem veritablen Krimi aus, mit Leiche und Polizei und Sensation, und auch mit Schuld und Verstrickungen weit in die Vergangenheit hinein.

Aber im Grunde geht es Musso um das Schreiben – woher kommt Inspiration, wie verwandelt sich Wirklichkeit in Geschichten, und warum hören Schriftsteller wie Nathan Fawles in diesem Buch und Salinger, Philip Roth oder Milan Kundera im echten Leben plötzlich auf zu schreiben? Das sind heimlich verhandelte tiefgründige Fragen in einem ansonsten leicht daher kommenden Mittelmeerkrimi von Frankreichs erfolgreichstem Autor.

Guillaume Musso, „Ein Wort, um dich zu retten“, Pendo Verlag, 320 Seiten, 16,99 Euro. 

Hanns Zischler: „Der zerrissene Brief“

Hanns Zischler, Anfang 70, ist ein eleganter, gebildeter Mann, er hat ein Buch über Kafka geschrieben, aber Sie kennen ihn wohl eher als Schauspieler – aus Filmen etwa von Wim Wenders und Peter Handke.

Der Regisseur Jean-Luc Godard hat Zischler einen Gentleman Actor genannt, er spielt das, was er ist: elegante, gebildete Herren. Und nun hat dieser leise, sympathische Künstler seinen ersten Roman geschrieben: „Der zerrissene Brief“. Es ist ein Roman, der fast nur aus Dialogen besteht. Eine junge Frau – Elsa – und eine alte – Pauline – reden über die Liebe. Der jungen ist die Liebe gerade spektakulär zerbrochen, die alte hat sie gelebt mit einem viel älteren Mann, Max, der abenteuerlustig war und mit ihr die Welt bereiste, immer auf der Suche nach neuen Eindrücken, Menschen, Pflanzen, Tieren. Pauline hat dieses Leben in Briefen, Fotos, Reisetagebüchern aufbewahrt, und als jetzt die junge Elsa zu ihr kommt, ist es wie eine „Eisschmelze der Erinnerung“. „Es kommt so vieles zurück. Ich weiß gar nicht, wo anfangen. Als würde ich in ein großes Zimmer treten, aber von einer ganz anderen Seite.“

Es ist ein zartes, ein leises Buch über Liebe, Erinnerung, den Mut, sich in ein Leben hineinfallen zu lassen, und die Kraft, eine unglückliche Liebe zu überwinden. Die Verse von Chamisso fallen Pauline einmal ein: „Ich zieh mich in mein Inn’res still zurück, / Der Schleier fällt, / Da hab ich dich und mein vergang’nes Glück, / Du meine Welt.“ Ach ja, und ein böser zerrissener Brief kommt auch noch vor, ganz am Schluss. Und der Leser ist froh: Der Brief hat kein Unheil mehr anrichten können.

Hanns Zischler, „Der zerrissene Brief“, Galiani, 269 Seiten, 20 Euro

Lothar Schirmer: „Über meine Künstler”

In dieser Woche möchte Ihnen mal keinen Schmöker vorstellen, sondern Sie ein kleines, kostbares Buch entdecken lassen. Es ist ein Buch vor allem für die, die die Kunst lieben, die Photographie, das Ausgefallene, das Besondere.

Dazu gibt es in München den SchirmerMosel Verlag, der seit über 40 Jahren wunderbare Photo-, Kunst– und auch Literaturbände herausgibt, etwa die Memoiren von Coco Chanel, Frida Kahlo oder Isabella Rosselini, aber z.B. auch ein Buch über Rossellinis Hühner, die sie in der Nähe von New York züchtet. Peter Handkes Bücher sind bei Suhrkamp, seine feinen Zeichnungen aber bei SchirmerMosel. Fassbinders Filme sind hier mit tollen Fotos dokumentiert.

Und der Verleger Lothar Schirmer hat sich nun zu seinem 75. Geburtstag selbst ein kleines Buch geschenkt.  Auf dem Umschlagfoto er selbst, von Jim Rakete fotografiert: ein Mann, dem man Humor, Lebensart, Klugheit ansieht. Ein Genießer, ein witziger Mensch, der seinem Gegenüber (es ist Peter Lindbergh) gerade etwas Komisches erzählt. Wer Lothar Schirmer einmal getroffen hat, wird diesen durch und durch gebildeten, vergnügten, großzügigen Menschen nie mehr vergessen. Und wer sein Verlagsprogramm sieht, kann nur staunen: von Coco Chanel bis Frida Kahlo, von Beuys bis Fassbinder, von Annie Leibowitz, Wim Wenders, Candida Höfer bis zu den Pilzzeichnungen des Peter Handke- alles, was in der Kunst eine Ausnahme, etwas Besonderes, ein Fundstück ist: Schirmer hat es. Und er liebt „seine“ Künstler, seit er dreizehn ist, seit das Nachkriegskind in der damals unglaublich wachen Kunststadt Köln zum ersten Mal in Museen und Galerien war und anfing, selbst Kunst zu sammeln.

In Köln hat er auch studiert, in Köln wurde ihm 2017 der wichtigste Photographiepreis verliehen, Verleger des Jahres war er ohnehin schon. Sein Buch heißt „Über meine Künstler“, und das „meine“ ist nicht Hochmut, es ist Liebe. Jeder dieser 22 Texte zu Ausstellungen, Büchern, den Künstlern ist von Liebe, Witz und Wissen getragen. Wer sich für Kunst, Film, Photographie interessiert- der findet hier ein Füllhorn wunderbarster Gedanken und Erinnerungen. Künstler brauchen nicht nur Ausstellungen, Leser, Sammler. Sie brauchen solche Liebenden wie diesen Lothar Schirmer, den klugen Analysten mit dem poetischen Blick und dem Talent zur treuen Freundschaft. Das Buch ist eine Hommage an die Künstler, ein wichtiges Stück Kunst- und Kulturgeschichte und einfach: eine Freude.

Lothar Schirmer: „Über meine Künstler. Reden, Vorträger, Texte“, Schirmer Mosel, 248 Seiten,  70 Abbildungen, 19,80 Euro

Olivia Wenzel: „1000 Serpentinen Angst”

Olivia Wenzel ist eine Autorin, die zusammen mit einem Zwillingsbruder 1985 in Weimar geboren wurde, also noch in DDR-Zeiten. Damals war ihre Mutter sehr jung, eine Punkerin mit blauen Haaren, der Vater kam aus Angola, wo er schon eine Familie hatte, zu der er dann auch zurück ging. Die nicht systemkonforme Mutter landet im Gefängnis, die Zwillinge landen bei der Großmutter, die sie liebt, aber die sie „meine Schokokrümel“ nennt und ihnen aus dem Struwwelpeter die Geschichte vorliest, in der der gute Nikolaus die bösen Kinder in ein Tintenfass taucht und schwarz macht - schwarz als Strafe.

Die Großmutter liebt ihre „Schokokrümel“, denkt aber über den Rassismus in solchen Ausdrücken nicht nach. Mit 19 Jahren nimmt sich der Bruder das Leben, und die Ich-Erzählerin, die eindeutig Olivia Wenzel ist, schlägt sich allein durch in einer Welt, die sie – wie freundlich auch immer – fragt: na, wohl zu viel Kakao getrunken? Wohl zu nah am Toaster gesessen? Hallo, Kaffeebohne! Und ähnliche Dämlichkeiten, die eindeutig rassistisch sind. Und sie wird wachsam und empfindlich - Glatzen am Baggersee, da geht sie lieber nicht baden. Nur weiße Männer abends in der U-Bahn- da steigt sie lieber nicht ein. Wir haben über das alles, über solche „1000 Serpentinen Angst“ noch nicht nachgedacht, aber das bringt uns Olivia Wenzel in ihrem sehr flott geschriebenen Roman nun bei.

Sie erzählt nicht einfach so vor sich hin – sie ist eine Performerin, steht auf Bühnen, hat Stücke geschrieben, macht Musik. Ihr Buch ist ein bisschen wie ein Rap- zu größten Teilen besteht es aus einer Art Interview mit sich selbst. Einer Eigenbefragung. Sie fragt sich ab: wo bist du gerade? In New York. Wie geht es dir da? Gut, keiner redet mich blöd an. Wir wissen, wie sehr die Gewalt gegen Schwarze gerade in den USA immer noch zum Alltag gehört - der Tod von George Floyd hat es gerade wieder gezeigt und Proteste in der ganzen Welt entzündet.

Aber trotzdem gehören Menschen mit verschiedenen Hautfarben in einer Stadt wie New York selbstverständlich zum Straßenbild, und zum ersten Mal kann sie auf der Straße einfach so eine Banane essen, ohne dass jemand sie angrinst und einen Affen nachmacht, uga-uga-uga. Über so etwas habe ich noch nie nachgedacht, noch nie nachdenken müssen. Aber dazu bringt mich, bringt uns Leser diese Autorin mit ihrem schonungslosen, direkten und frechen Buch.

Zum Schluss ein Zitat: „Als kleines Kind habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als eine Creme, eine wundersame Salbe, die ich vor dem Zubettgehen auftragen und die mich über Nacht weiß machen würde. Mich als Erwachsene an diesen Wunsch zu erinnern erfüllt mich mit Scham und Traurigkeit.“

Eine kluge junge Frau gibt uns in einem zornig-verzweifelten, trotzigen Roman Einblick in ein Leben, das sich mitten unter uns abspielt und vom wir viel zu wenig wissen.

Olivia Wenzel, „1000 Serpentinen Angst“, S. Fischer Verlag, 350 Seiten, 21 Euro 

Liz Moore: „Long Bright River”

Wir sehen es gerade jeden Tag im Fernsehen: Amerika brennt. Und wie es in den Problemvierteln der großen Städte zugeht, das kann man auch in diesem grandiosen Roman von Liz Moore lesen. Er erzählt die Geschichte zweier Schwestern, die bei ihrer lieblosen Großmutter aufwachsen.

Die Mutter starb jung an Drogen, der Vater machte sich aus dem Staub. Kacey, die Jüngere, versackt auch im Drogenmilieu, Mickey, die ältere, wird Streifenpolizistin, nicht ganz ohne Hintergedanken: so kann sie in den runtergekommenen Randbezirken von Philadelphia doch wenigstens von ferne immer noch ein Auge auf ihre Schwester haben. Dabei versucht sie, sich selbst mit ihrem kleinen Sohn ein Leben aufzubauen, das diesen Namen verdient. Eines Tages wird eine Frauenleiche gefunden, und dann noch eine, ein Serienmörder ist unterwegs, um immer ist Mickeys erster Gedanke: Kacey!

Das Gute ist nicht klein zu kriegen

Und nun wird aus dem bewegenden Familienroman ein spannender Krimi. Mit einer Leiche fängt es an, mit einem neugeborenen Kind und ein wenig Hoffnung endet er, dieser große Roman, aus dessen Lesesog man sich gar nicht mehr lösen kann. Und dann sehen wir die Bilder aus den USA und wissen: Mädchen wie Kacey und Mickey, die kaum Chancen haben, sind da mitten drin. Und unter den Polizisten, das weiß Mickey nur zu genau, gibt es wahrhaftig ein paar sehr bösartige Gestalten. Ich habe das Gefühl: das ist das richtige Buch zur richtigen Zeit. Es ist in all seiner realistischen Schilderung auch nicht etwa nur deprimierend: das Gute ist nämlich, genau wie das Böse, nicht klein zu kriegen. Und diese Balance ist es, die uns trotz allem hoffen lässt.

Liz Moore, Long Bright River (C.H.Beck) 411 Seiten  

Mariam Kühsel-Hussaini: „Tschudi“

In dieses Buch habe ich mich verliebt, weil es in einer so unerhört bildreichen Sprache erzählt ist, dass man nur staunen kann. Mariam Kühsel-Hussainis Großvater war in Afghanistan ein berühmter Kalligraph, er hat also „schön“ geschrieben, und „schön“ schreibt sie auch, aber nicht mit Zeichen, sondern mit Worten. Sie erzählt die Geschichte des Hugo von Tschudi, der um den Beginn des 20. Jahrhunderts die Berliner Nationalgalerie leitete und all die damals modernen Franzosen ankaufte – Renoir, Cézanne, Manet, Monet. Der Kaiser tobte: er wollte DEUTSCHE Bilder in DEUTSCHEN Museen, ach ja, Tschudi war um so vieles klüger und gebildeter als dieser arme Preuße, und er kämpfte behutsam und klug für die Kunst.

Ein unglücklicher Mann

Er wusste auch, dass der arme Kaiser ein unglücklicher Mann war, er ist diesem Tschudi nicht gewachsen und schäumt klein vor sich hin, und „weit unter der Uniform lagen Schmerzen in seiner Brust, die von keiner Krankheit rührten, sich einzig aus Traurigkeit nährten“. Tschudi, der gebildete, hochgewachsene, schöne Mann, litt unter der Wolfskrankheit: das Gesicht wurde ihm davon nach und nach so zerfressen, dass er eine Maske tragen musste. Aber er erträgt das, er ist stärker als der Kaiser in seiner Einsamkeit.

Hier kommt zusammen, was ein gutes Buch ausmacht: Eine spannende Geschichte, großartig erzählt. Da ist der Tiergarten „von Sommer durchblutet“ und bei Verliebten beginnen „die Augen, sich anzuknistern“ – das haben wir so noch nicht gelesen, und das macht glücklich!

Mariam Kühsel-Hussaini: „Tschudi“, Rowohlt, 318 Seiten, 24 Euro

Michael Kumpfmüller: „Ach Virginia”

Virginia Woolf war eine englische Schriftstellerin, die sich 1941 mit nur 58 Jahren das Leben nahm, sie war depressiv und hatte Angst, verrückt zu werden. Michael Kumpfmüller ist ein deutscher Romanautor, Jahrgang 1961, der in seinem Roman mit dem Seufzer-Titel „Ach, Virginia“ die letzten zehn Tage im Leben dieser Schriftstellerin beschreibt. Mich interessierte das Buch aus drei Gründen: 1. Ich mag beide Autoren, 2. Ich wollte wissen, wie sehr sich ein heutiger Mann in die damalige Autorin einfühlen kann und 3.: Das Buch wurde gleichzeitig so gelobt und so gnadenlos verrissen, dass ich mir ein eigenes Urteil bilden wollte, und genau darum bitte ich auch Sie, liebe Leser.

Hier wird erzählt, wie eng Verzweiflung, psychische Krankheit und auch Kreativität zusammenhängen, wie wenig der Erfolg einen Menschen stabilisiert, wie sehr Lebenskrisen Wahn und Wirklichkeit vermischen. Ich finde, das macht Kumpfmüller gut und einfühlsam.

Virginia Woolf behandelt ihren Mann Leonard, auch ein Schriftsteller, in diesen letzten zehn Tagen sehr schlecht, er erträgt es geduldig, er kennt ihren Schmerz. Ist sie Opfer? Ist sie Täter? Ihr Selbstmord jedenfalls war spektakulär: Der erste Versuch, sich im zu flachen Fluss zu ertränken, misslingt – sie kann schwimmen. Beim zweiten steckt sie sich Steine in die Taschen und geht unter, hinterlässt einen herzzerreißenden Liebesbrief an ihren Mann. Ach, Virginia... Diese Frau, die sich so sehr für die Eigenständigkeit der Frauen eingesetzt hat, scheitert an sich selbst, 1941– und oben über das idyllische Landhaus, in dem so viel Kummer ist, fliegen deutsche Bomber.

Michael Kumpfmüller, „Ach, Virginia“, Kiepenheuer & Witsch, 236 Seiten, 22 Euro.

Charlotte Wood: „Ein Wochenende”

Im Mai ist ein Roman erschienen, der uns beim Lesen glücklich macht: eine gute Geschichte wird gut erzählt. Die Autorin heißt Charlotte Wood, sie ist Australierin und schreibt über drei Freundinnen mit so viel Witz, Feingefühl und rücksichtloser Klarheit, dass man meint, man wäre die vierte im Bunde. Und es waren auch mal vier, aber Sylvie ist gestorben und sie hat testamentarisch ihre drei Freundinnen gebeten, das Strandhaus am Meer aufzulösen, in dem sie so oft zusammen Weihnachten gefeiert haben. Alles muss raus, jede soll sich nehmen, was sie möchte, das Haus wird verkauft.

Und so reisen die drei 70-jährigen Mädels nun an zu einem Weihnachtswochende: da ist Jude, die Elegante, die Kühle, die ihr Leben im Griff hat und sonst alles auch. Seit Jahrzehnten hat sie einen reichen, verheirateten Geliebten, und sie will dieses Wochenende rasch hinter sich bringen, um mit ihm Weihnachten zu feiern, wenn er den ersten Festtag bei seiner Familie abgesessen hat. Jude hasst den Hund, den Wendy anschleppt- Wendy, die etwas hippiemäßige Professorin mit einem Auto wie eine Müllkippe, Wendy, klug, aber zerzaust und verpeilt, und dann dieser uralte, lahme, blinde, stinkende Hund- ins Haus kommt der Jude natürlich nicht, obwohl es nicht ihr Haus ist und obwohl die verstorbene Sylvie diesen Hund Wendy zum Trost damals geschenkt hat, als Wendys Mann Lance starb. War da nicht mal was mit Lance und Sylvie….an manche Geheimnisse sollte man besser nicht rühren.

Die Dritte im Bunde ist Adele, einst gefeierte Schauspielerin, jetzt nur noch Schauspielerin ohne Rollen, immer noch schön, immer noch etwas zu aufgetakelt, gerade von ihrer aktuellen Geliebten verlassen, ach, und diese drei kennen sich seit Jahrzehnten. Sie kennen Geheimnisse, Lieben, ihr Scheitern, ihre Erfolge, ihre Freundschaft hat gehalten und hat doch Risse, und da schleichen sich Misstrauen, Intoleranz, Eifersucht, Besserwisserei und Entnervung ein. Auch Freundschaften haben mitunter ein Haltbarkeitsdatum.

Charlotte Wood erzählt nun mit Witz und einem bisschen Bosheit, wie diese drei Frauen das Weihnachtswochenende und das Ausräumen des Hauses miteinander bestreiten. Wird die Freundschaft zerbrechen, wird sie alles aushalten und sogar gefestigt werden?

Und es gibt noch eine heimliche Hauptperson, nämlich ein schneeweißes Designersofa, das Jude Sylvie einst für dieses Haus geschenkt hat. Da steht es nun, protzig mitten im sonstigen Chaos, weiß, strahlend, auffällig. Jude sieht es an und denkt, dass es „eine Schade ist, wie Sylvies billige, verwohnte Sachen von der Eleganz der Couch ablenkten“, Wendy findet diese Angebercouch hier „völlig fehl am Platz“ und denkt, dass Jude den anderen immer ihren Geschmack aufzwingen will. Der alte Hund darf nicht nur nicht ins Haus, er darf schon gar nicht in die Nähe dieser Couch, und dann kotzt er sogar darauf- ein Drama! Und Adele, ach, Adele ist nur mit sich beschäftigt und kriegt gar nichts so richtig mit. Kann das gut gehen?

Kann es nicht. Es kommt zu einem mächtigen Eklat, zu dem zwei sehr komische, ungebetene Gäste auch noch beitragen, und am Ende ein Gewitter, Regen, zu viel Wein, zu viele Tränen, Geständnisse, Enttäuschungen - und Freundschaften, die sehr auf die Probe gestellt werden. Halten sie das aus?

Werden Sie die vierte Freundin beim Lesen und entscheiden sie selbst. Ich hab mich mit diesen Frauen wohl gefühlt, und nie im Leben hätte ich mich auf die affige weiße Couch gesetzt.

Charlotte Wood: „Ein Wochenende“, deutsch von Brigitte Walitzek, Kein&Aber, 284 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

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