Abo

Urlaub ist kein MenschenrechtWarum wir diesen Sommer zu Hause bleiben sollten

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Schaufenster eines Reisebüros in Dortmund

  • „Und, wo fahrt Ihr diesen Sommer hin?" — Auf diese Frage hat derzeit kaum jemand eine gute Antwort parat.
  • Besser, wir ändern unsere Einstellung zum Reisen und entdecken, dass die Ferien vor der eigenen Haustür beginnen können.
  • Ein Essay.

Köln – Urlaub, lassen Sie uns ursprünglich werden, stammt vom mittelhochdeutschen „urloup“. Das bedeutet „Erlaubnis“, wie in „die Erlaubnis fortzugehen“. Die Erlaubnis allzu weit fortzugehen aber wird uns zur Zeit noch vorenthalten.  Selbst wenn sie nun, pünktlich zum Sommeranfang, erteilt werden wird, bleibt unklar, wohin man fortgehen soll. Fernreisen liegen in weiter Ferne, Lieblingsländer stehen auf der Kippe, Ziele im eigenen Land sind schnell ausgebucht. Glücklich, wer ein Wohnmobil hat. Wenn er einen Stellplatz findet. 

Daran, wenn es draußen heiß wird, wegzufahren — gerne dahin, wo es noch ein bisschen heißer ist — haben wir Deutschen uns so sehr gewöhnt, dass es uns irrigerweise als Menschenrecht erscheint. Das am häufigsten gebrauchte Adjektiv zum Nomen „Urlaub“ lautet „wohlverdient“. Zurückgelegte Flugmeilen,  kaum erschlossene Trauminseln, auch die Häufigkeit, mit der man zu  exotischen oder anderweitig begehrenswerten  Orten aufbricht, gelten hierzulande als Statussymbole. Die Frage „Und, wo fahrt ihr diesen Sommer hin?“, geht in Deutschland spätestens nach Ostern als Begrüßungsformel durch. Nun weiß zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten niemand mehr eine Antwort darauf. Vielleicht urlauben wir am Ende nur im eigenen Bundesland. Oder eben zu Hause. Was dummerweise das Gegenteil von Fortgehen ist. Andererseits: Sollten wir doch noch einen freien Strand finden, müssten wir diesen stundenweise im Voraus buchen. Mit Maske frühstücken. Und so weiter. Deprimierende Aussichten.

Was also tun, wenn man eigentlich nicht viel tun kann? Das Einzige, was bleibt: Wir müssen unsere Einstellung zum Urlaub ändern. Erkennen, dass das Feriengebiet gleich hinter der Haustür beginnt. Oder in den eigenen vier Wänden. Was selbstredend gar nicht so einfach ist, wie man bereits in den Osterferien sehen konnte, dem kleinen Testlauf für die große Strecke von Juni bis August. Wie viele Wände da neu gestrichen wurden, nur weil man Angst hatte auf die immer selben starren zu müssen! 

Alles zum Thema Bläck Fööss

Wer der Geschäftigkeit, dem „Gesumm“ des Arbeitsalltags entgehen will, rät der große französische Alltagsphilosoph Roland Barthes, der müsse lernen ruhig zu sitzen und nichts zu tun: „Das Gras wächst von selbst“. Apropos Gras, ein anderer Franzose, der Schriftsteller Alphonse Karr, hat einen 400 Seiten starken Briefroman über eine Reise durch den Garten verfasst und darin gegen seine reisenden Mitbürger gewettert. Ihre einzige Ausrede, „so weit fort zu gehen, um das zu sehen, was sie genauso gut vor ihrem Fenster sehen könnten, ist, dass man über Dinge, die für alle sichtbar sind, keine Lügen verbreiten könne“. Daheim bleiben heißt also, der Wahrheit ins Gesicht sehen. In Form der immer gleichen vier Wände, oder auch der schmutzigen Stadt und ihrer Hitzeausdünstungen außerhalb von ihnen. Die Kunst bestünde nun gerade darin, nicht nur die Langeweile oder die Hässlichkeit im Allzubekannten zu sehen, sondern dessen Möglichkeiten.

Vielleicht gerade solche, wie sie die Bläck Fööss einst für ganz unmöglich erklärten: „Stell d’r für, de Kreml stünd o’m Ebertplatz/ Stell d’r für, de Louvre stünd am Ring“. Man muss nicht gleich die sowieso zu wenigen leeren Flächen in Köln mit imaginären Palästen zubauen, aber man könnte die Kinder mit Kreide hinausschicken, auf das ihre Traumstadt den Asphalt bedecken möge. Derweil könnten die Erwachsenen überdenken, wie sich ihre Umgebung verändern müsste, um ihnen und ihren Kindern urlaubswürdiger zu erscheinen. In Köln geht das am leichtesten, indem man sich auf sein Fahrrad setzt und schaut, wie gut oder schlecht man durch den Verkehr geleitet wird.

Oder ist auch das schon zu ehrgeizig? Sollten wir, bevor wir uns den Räumen, Plätzen und dem Verkehr zwischen ihnen widmen, nicht erst einmal um eine neue Einstellung zur verstreichenden Zeit bemühen? Erinnern Sie sich noch an Ihren letzten Kurztrip? Vielleicht eine Städtereise, vollgestopft mit Programmpunkten. Wie schnell die Zeit dabei verging, wie lang sie jedoch im Nachhinein schien, weil man in wenigen Stunden so viel erlebt hatte. Unter Corona-Bedingungen verhält es sich nun genau andersherum: Die Stunden ziehen sich in endloser Gleichförmigkeit, und doch: Ist es zu fassen, dass der Mai schon fast vorbei ist?

Noch kann man einen Großteil der zähen Zeit mit Homeoffice-Arbeit füllen und den halbherzigen Versuchen, die Kinder davon zu überzeugen, dass sie wenigstens einen Teil der Hausaufgaben erledigen sollten, die ihnen ihre digital überforderten Lehrer zugemailt haben. Aber wie soll das bloß im Sommer werden, wenn einen die amorphen Ferientage in Aspik zu fixieren drohen? Werden wir dann die verlorene Zeit mit Strichen an der Wand markieren, bis die Tage wieder kürzer und kälter werden und wir uns wenigstens ins Bett flüchten können? Sollen wir die kostbare Sommerzeit einfach abschreiben? 

Schwitzen und die Zeit absitzen, nein, das kann es nicht sein. Das muss es auch nicht. Denken Sie an Tom Hanks, den ersten Prominenten, der an Covid-19 erkrankte. Denken Sie an Hanks im Film „Cast Away“. In der Robinsonade aus dem unschuldigen Jahr 2000 spielt Hanks den FedEx-Manager Chuck Noland, dessen Berufsleben aus exakten Zeitplänen und weltumspannenden Reisen besteht. Bis er als Passagier einer Frachtmaschine über dem Südpazifik abstürzt und sich als einziger Überlebender auf eine unbewohnte Insel retten kann. Plötzlich hat er alle Zeit der Welt, ist aber auf einem kleinen Flecken Erde isoliert. Er hat keine Aufgabe mehr und kein Leben jenseits des bloßen Überlebens. Wir sind auf ganz ähnliche Weise aus unserem gewohnten Leben abgestürzt. Gut, Hanks hatte immerhin den Sandstrand unter Palmen, von dem wir diesen Sommer nur träumen können. Und einen Volleyball namens Wilson.

Aber wir haben die Gewissheit, nicht ewig auf unseren Inseln sitzen bleiben zu müssen. Wir haben uns. Und selbst, wenn wir uns nicht allzu nahe kommen dürfen, bleibt doch immerhin die beruhigende Erkenntnis, dass wir alle mehr oder weniger den gleichen Sommer erleben werden. Besser im selben Boot sitzen als im selben Kreuzfahrtschiff. Die ausbleibende Erlaubnis, unbeschwert  in die Ferne zu schweifen, sie ist mit der Aufforderung verbunden, uns gemeinsam eine neue Art von Urlaub auszudenken. Pauschale Lösungen gibt es da nicht.

KStA abonnieren