Neues Buch der Autorin Suzanne CollinsWas vor den „Tributen von Panem“ geschah

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Suzanne Collins

Suzanne Collins

„Die Tribute von Panem“ hätte mich fast meine Magister-Prüfung in Englisch gekostet. Als ich den Lernstoff einige Tage vor der Prüfung nicht mehr sehen konnte, beschloss ich nämlich, mich ein bisschen mit diesem neuen Buch abzulenken, über das damals alle sprachen. Ich las Suzanne Collins’ „The Hunger Games“ auf Englisch und redete mir ein, dass ich so ja doch etwas für die Prüfung täte. Leider nahm mich die Dystopie um Katniss Everdeen so gefangen, dass ich kein bisschen mehr lernte.

Ich bestand die Prüfung trotzdem, verschlang auch Teil zwei und drei in ähnlicher Geschwindigkeit und wurde fortan nicht müde zu betonen, wie sehr mich diese Reihe in politischer Hinsicht beeinflusst hat. Umso größer war die Vorfreude, als die Ankündigung kam, dass es einen weiteren Teil geben würde. Nicht nur bei mir: Das Buch hat sich gleich nach Erscheinen auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste katapultiert, eine Verfilmung ist in Arbeit.

Um eines gleich vorwegzunehmen: Ich habe es nicht in gewohnter Panem-Geschwindigkeit gelesen. Was viel mit der Hauptfigur zu tun hat. „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ spielt gut 60 Jahre vor den anderen Büchern. Die Menschen leiden noch unter den Nachwirkungen des Krieges zwischen dem Kapitol und den Distrikten, der nun zehn Jahre her ist. Das Kapitol hat Distrikt 13 ausgelöscht, die Rebellen besiegt und festigt seine diktatorische Herrschaft unter anderem mit den Hungerspielen: Jedes Jahr entsenden die zwölf Distrikte je einen weiblichen und einen männlichen „Tribut“, die in einer Arena um Leben und Tod kämpfen müssen – ähnlich den römischen Gladiatorenkämpfen.

Perfekter Anti-Held

In diesem zehnten Jahr soll eine Gruppe von privilegierten Schülern aus dem Kapitol die bis dato recht unbeachteten Hungerspiele populärer machen: Je ein Schüler bekommt einen Tribut zugeordnet. Hier liegt das eigentlich Explosive dieser Geschichte – einer von diesen Mentoren ist Coriolanus Snow, der später als Präsident von Panem zu Katniss’ größtem Widersacher wird. Und somit zu meinem perfekten Anti-Helden.

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Jede Aktion, jede Reaktion, jeder Gedanke, jedes Gefühl von Snow wird beim Lesen kritisch hinterfragt: Wann blitzt Snows Skrupellosigkeit auf? Welches Ereignis macht ihn zum Bösewicht? Kann das Gefühl, das er gegenüber seinem Tribut Lucy Gray hegt, echte Liebe sein? Denn es ist nicht nur der Ehrgeiz, der den verarmten jungen Mann dazu antreibt, sein Mädchen aus Distrikt 12 beim Gewinnen der Hungerspiele zu unterstützen.

Im Laufe der Geschichte wird immer klarer: Snow hat sich wirklich in Lucy Gray verliebt, die starke und freiheitsliebende Romni und Sängerin. Weil Collins die personale Erzählperspektive wählt, nur Snows Gedanken und Gefühle präsentiert, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns auf ihn einzulassen. Das ist gar nicht so leicht – die Verbundenheit zu Katniss und den Rebellen ist groß, und all die kleinen Hinweise – das Lied vom Henkersbaum, die Spotttölpel, die Rosen – erinnern fortwährend daran. Trotzdem ist es hoch spannend mitzuerleben, wie Snow sich entwickelt, wie aus diesem perfektionistischen, fürsorglichen, loyalen, mittellosen Jugendlichen ein Mann wird, der als kaltherziger und hinterhältiger Diktator agiert.

Sie habe sich beim Schreiben von John Lockes Theorie des Menschen als „Tabula rasa“ und dem daraus folgenden Gedanken, dass alle Menschen Produkte ihrer Erfahrungen seien, beeinflussen lassen, sagte Collins in einem Interview. „Die autoritären Überzeugungen von Snow sind aus den Erfahrungen seiner Kindheit hervorgegangen, ebenso wie sein kompliziertes Verhältnis zu Spotttölpeln, Essen, den Hungerspielen, Distrikt 12, Distrikt 13 oder Frauen. Also spult man die Zeit zurück und pflanzt die entsprechende Saat.“

Und so hat Collins mit „Das Lied von Vogel und Schlange“ eine beeindruckende Charakterstudie Snows vorgelegt, aber zugleich auch wieder einen sehr politischen Roman. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der sich Snow und andere Bewohner des Kapitols über die Menschen aus den Distrikten erheben, wirkt wie eine Vorausschau auf die Proteste gegen Rassismus, die Nordamerika gerade erbeben lassen. Jenen Kontinent, der in Collins düsterer Zukunft einmal Panem heißen wird.

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