Neues Lady-Gaga-AlbumFür diesen Tanz hat sie schwer gekämpft

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Das Cover von „Chromatica“

Das Cover von „Chromatica“

Los Angeles – Noch in „Babylon“, den finalen Song ihres am Freitag veröffentlichten sechsten Albums „Chromatica“, erneuert Lady Gaga ihr großes Versprechen: Das wir bald alle wieder so herrlich sündig feiern können, als wäre Jesus nicht geboren. Wobei „party like it’s B.C.“ hier zweierlei bedeuten kann – „before Christ“ und „before Corona“.

Eigentlich sollte „Chromatica“ bereits am 10. April erscheinen, die Sängerin verschob den Termin aus den offensichtlichen Gründen, kuratierte stattdessen das Benefizkonzert „Together at Home“, dessen Spendeneinnahmen der Weltgesundheitsorganisation zu gute kamen. Aber jetzt ist das Album da und fordert derart nachhaltig zum gemeinsamen Durchtanzen auf, zum kollektiven Discoschwitzen in weißen Polyesteranzügen, dass man sich wundert, warum Gaga es nicht noch länger zurückgehalten hat.

Lustvolles Aufbäumen

Allein: bis wann? So wirkt „Chromatica“ wie ein Akt des lustvollen Aufbäumens gegen kontaktarme Zeiten. Dies hier sei ihr Dancefloor, bekräftigt Gaga in „Free Woman“, die Tanzfläche, für die sie gekämpft habe. Kein Wunder, dass sie die nun nicht mehr loslässt. Selbst auf ihrem Debüt „The Fame“ hatte sich die Sängerin eine speckglänzende Glamrock-Ballade („Brown Eyes“) gegönnt, zum dringend nötigen Luftholen im Schwarzlicht-Gewitter. Die knappe Dreiviertelstunde von „Chromatica“ dagegen haben Gaga und ihr Co-Produzent BloodPop (bürgerlich Michael Tucker) mit Hilfe von kurzen Streicher-Instrumentals in drei Akte aufgeteilt. Tatsächlich reichen diese Zwischenstücke aber bestenfalls für zwei Schluck Whiskey Sour, denn die wahre Dramaturgie des Albums ist denkbar simpel, man findet sie auch auf den „Non Stop Dancing“-Alben von James Last, nur mit mehr Polka.

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Die Songs auf „Chromatica“ schöpfen aus der jüngeren Geschichte der Tanzmusik, von hi NRG über französischen Filter-House bis zu (retro-)futuristischen Elektropop, jedenfalls immer schön im Viervierteltakt, dem sich auch prominente Gäste wie Ariana Grande und die südkoreanische Girlgroup Blackpink unterwerfen. Selbst „Sine from Above“, das Duett mit ihrem Mentor Elton John, ist keine Schwelgerei für zwei Pianos, sondern eine Autoscooter-kompatible Uptempo-Nummer, die auf den letzten Metern unvermittelt im Breakbeat-Chaos versinkt, als hätte ein mindertalentierter DJ versucht, eine 93er-Maxi des Drum-and-Bass-Produzenten Goldie darunter zu mischen.

Zwiespalt des Ruhms

Introspektion geht anders. Möchte man meinen. Doch ein Blick aufs Textblatt verrät, dass diese permanenten Endorphinausschüttungen inzwischen harte Arbeit für die 34-Jährige sind. Auch wenn der Zwiespalt des Ruhms von Anfang an zu Gagas großen Themen gehörte - was damals bestenfalls selbst erfüllende Prophezeiung und die Bereitschaft, ein Abendkleid aus frischem Fleisch zu tragen war, ist heute gelebtes Leben. Einer der euphorischsten Refrains auf „Chromatica“ lautet: „Mein größter Feind bin ich selbst“. Im grandiosen Auftakt „Alice“ fleht die Sängerin einen Unbekannten an: „Kannst Du mich hier lebend rausholen? Wo ist mein Körper? Ich stecke in meinem Kopf fest.“ Ja, das geht uns gerade ganz genauso. Weshalb Lady Gagas Rückkehr in den – vorläufig noch imaginären – Club so willkommen ist.

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