PhilosophieErnst Tugendhat hat den Weg zur Mystik gefunden

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Ernst Tugendhat feiert am Sonntag seinen 85. Geburtstag.

Ernst Tugendhat feiert am Sonntag seinen 85. Geburtstag.

Köln – Es ist still geworden um den wortgewaltigen Philosophen. Einmal sagte Ernst Tugendhat, er könne nur denken, wenn er an seiner Schreibmaschine sitzt. Doch geschrieben hat er schon lange nichts mehr an ihr. Keinen Aufsatz, kein Buch, keine Rede. Das Denken fiel ihm zuletzt immer schwerer. Beim letzten Besuch in Tübingen stand sie noch auf dem Tisch in der Ecke mit Blick auf den Holzmarkt.

Er spricht über Mystik, das Thema seines letzten Buches. „Ich würde mich wohlfühlen in einem Glauben“, sagt er im Gespräch und schenkt etwas Tee nach. „Das war immer etwas, das mich faszinierte, aber was ich selber in mir gar nicht verwirklichen kann.“ Die Stimme klingt leicht resigniert, als er sagt: „Ich habe gar nicht das Zeug dazu, ein Mystiker zu sein.“ Die Mystik ist der Schlusspunkt unter sein Leben für die Theorie. Damit schließt sich ein Kreis in seinem philosophischen Leben, das Tugendhat zu einem der bedeutendsten Philosophen in Deutschland werden ließ.

Der Weg zur Mystik

Am Anfang stand Freiburg. Damals, im Jahr 1949, habe er sich noch sehr unsicher gefühlt, sagt er. Als Philosoph habe er sich nicht ernst genommen, obwohl er immer ein hohes Bild von sich gehabt habe und seine Leistungen stets ungewöhnlich gut waren. Dem Leiden des hohen Selbstbildes versucht er mit lindernder Arznei beizukommen. Mit einer Mystik, „die uns lehrt, uns selbst etwas zurückzunehmen“.

Und diese Mystik ist ja auch mit etwas verbunden, was er bei seinem früheren Lehrer Martin Heidegger erfahren hat: dem Staunen vor dem Sein. Der Verwunderung, dass es so etwas wie diese Welt überhaupt gibt. Tugendhat hat seine Wendung zur Mystik in seinen beiden zuletzt veröffentlichten Büchern vorgetragen. „Egozentrizität und Mystik“ heißt das eine, „Anthropologie statt Metaphysik“ (beide erschienen im Beck-Verlag) das andere. Die Mystik habe ihn bereits seit seiner Jugendzeit beschäftigt, dann habe er sie allerdings außer Acht gelassen.

Flucht vor den Nazionalsozialisten

Tugendhat stammt aus einer wohlhabenden Familie. Er hat eine Schwester in Wien, ein Bruder hat sich bereits früh das Leben genommen. Im Jahr 1938 verließ er mit seiner Familie seine Heimatstadt Brünn, wo er bis dahin in der „Villa Tugendhat“, die heute zum Weltkulturerbe zählt, gelebt hatte. Die jüdische Familie siedelte wegen der nationalsozialistischen Bedrohung über die Schweiz nach Venezuela über. Tugendhat war ein brillanter Schüler und ein herausragender Student. Seine Mutter gab ihm „Sein und Zeit“ zu lesen. Das Werk hat er als Jugendlicher verschlungen. „Danach stand für mich fest, dass ich bei Heidegger studieren will“, erzählt er. Das Studium absolvierte er noch in Stanford, doch 1949 kehrte er nach Deutschland zurück und besuchte Heideggers Seminare, ohne von dessen Verstrickungen in der NS-Zeit zu wissen. Doch auf den wissensdurstigen Schüler wartet eine Enttäuschung: der Meister war zunächst gar nicht anzutreffen. „Ich hatte nicht viel Kontakt zu ihm, da er wegen seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus nicht arbeiten durfte.“ Die frühe Rückkehr nach Deutschland wegen Heidegger sollte ihn später reuen.

Besonders drei Bücher von Ernst Tugendhat haben die philosophische Landschaft nachhaltig geprägt. Seine auf Vorlesungen zurückgehenden Werke über Ethik, das Selbstbewusstsein und die Sprachphilosophie zählen zum philosophischen Kanon deutscher Geistesgeschichte. Seine „Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ wurde Pflichtlektüre einer ganzen Studentengeneration, es ebnete der sonst so verpönten analytischen Philosophie in Deutschland den Weg.

Politisches Engagement im Widerspruch

Tugendhat hat nicht nur philosophiert, sondern ebenso sehr politisiert, demonstriert, gestritten. In der Berliner Passionskirche hielt er eine emotionale Rede für Asylanten, die in den Libanon abgeschoben werden sollten. Er räsonierte gegen die Atombewaffnung, setzte sich für die Rechte von Palästinensern ein und kritisierte den israelischen Siedlungsbau. „Seit mir das Politische das Wichtige geworden war“, schrieb er in „Ethik und Politik“, „habe ich immer darunter gelitten, dass meine Art zu philosophieren so abstrakt war.“ Er sei sich unfähig vorgekommen, etwas Relevantes zu etwas Konkretem zu sagen. Erst langsam habe er angefangen zu verstehen, dass die Philosophie zu konkreten Problemen in der Welt fast gar nichts beitragen könne. Dabei habe ihn das Gefühl beschlichen, etwas Wesentliches verpasst zu haben. Tübingen hat er inzwischen verlassen, doch die Philosophie bleibt sein Leben. Am Sonntag wird Ernst Tugendhat 85 Jahre alt.

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