Pianist Martin Kohlstedt„Für die Kunst war der Lockdown irre gut“

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Martin Kohlstedt

Martin Kohlstedt, 1988 im thüringischen Breitenworbis geboren, feiert an Klavier, Synthesizer und  Fender Rhoades weltweit Erfolge, ob in der Elbphilharmonie, auf dem Techno-Festival oder mitten im Wald. Seine Live-Improvisationen nennt er modulares Komponieren. Im November ist sein Lockdown-Album „Flur“ erschienen. Am 23.4. spielt er ab 21.30 Uhr im kostenlosen Stream der c/o pop. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ wird als Medienpartner viele Konzerte des Festivals auf www.ksta.de zeigen.

Martin Kohlstedt, Sie spielen am Freitag um 21.30 Uhr auf der c/o pop in der Kulturkirche, allerdings im Stream und ohne Live-Publikum ...

Martin Kohlstedt: Ja, nur für drei Kameramänner und einen Lichtmann.

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Seltsame Erfahrung, oder?

Das ist es. Aber wenn ich spiele, ist es egal. Weil ich dann im Tunnel bin. Da können 2000 Menschen sitzen oder keiner. Nur der Moment davor, in dem man sich nackt offenbart, vor so einer leeren Kirche, der ist anders.

Fangen wir ganz von vorne an: Wann haben Sie sich zum ersten Mal an ein Klavier gesetzt?

Da muss ich so elf oder zwölf gewesen sein. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, gab es diese schöne Stunde, bevor die Eltern nach Hause kamen. Ich nutzte die Zeit, um mit dem Zweifinger-Suchsystem unser verstimmtes Piano als Gesprächspartner zu nehmen. Manchmal habe ich eine halbe Stunde nur ein oder zwei Tasten gespielt. So bin ich zur Ruhe zu kommen. Ich war ein Zappelphilipp, ein Pausenclown.

Das Gehirn vergisst

Und als Sie spielten, ist für Sie eine Tür aufgegangen?

Ja, richtig. Viele arbeiten sich ja über Wiederholungen in so ein Flow-Erlebnis. Das gab es schon im Surrealismus, dass man sich in einen anderen Zustand versetzt, indem man etwa ganz viele Kreise übereinander zeichnet. Ich habe immer dieselben, aus einfachen Strukturen zusammengesetzten Themen gespielt. Das Gehirn vergisst, dass es sie spielt, gerät in eine Art Kreislauf.

Aber Sie hatten ja auch Unterricht, besuchten eine Musikschule, haben einen Klavieroberstufenabschluss.

Ja, aber dabei wird man ein wenig von der Musik betrogen. Du merkst, die Mädchen hören zu,  wenn du ein schönes Stück aus „Amelie“ spielst. Deine wachsenden  Fähigkeiten schreiben sich wie ein Filzstift über dieses ganz Filigrane, Musische. Ich habe mich erst nach dem 25. Lebensjahr, nach sieben Bandprojekten mit  Pop, Jazz oder Hip-Hop, gefragt, was aus dem Jungen geworden ist, der sich an dieses Instrument gesetzt hat.

Provozieren in Kirchen

Allein mit dem Klavier sind Sie heute nur noch selten. Sie spielen vor Menschen in Philharmonien und Clubs, auch am Meer oder  im Wald. Wie wichtig ist die Umgebung?

Das sind alles wichtige Einflussfaktoren. Zur Improvisation gehört auch, dass man um drei Uhr morgens nach einem DJ-Set spielt. Wenn ich in einer Kirche spiele, schleppen sich die Stücke langsam voran und wollen diesen Raum auffüllen. Da möchte ich die sakralen Wände auch mal richtig provozieren, etwa mit einem Synthesizer. Spiele ich auf einem Festival, sind da viele Gleichgesinnte, in der Elbphilharmonie muss ich dagegen die Hälfte des Publikums erstmal von der Sache überzeugen.

Sie sprechen bei Ihren Improvisationen von modularem Komponieren. Können Sie das erläutern?

Man könnte auch von Bausteinen sprechen. Jeder musikalische Baustein hat an der Seite offene Hubs, wie USB-Anschlüsse. Tempo, Tonart, diese ganzen Variablen, die mit einem Stück verbunden sind, sind veränderbar und aneinandersteckbar.

Es ist letztlich eine Art Sprache, die Sie da sprechen.

Ja, das ist die beste Metapher dafür. Nur, dass die Sprache zehntausend Jahre alt ist und die Musik noch viel, viel älter. Die kam zuerst. Man findet dort ein vielschichtigeres Vokabular, das erlaubt, nicht alles ausformulieren zu müssen. Ich bin ein 33-jähriger Klavierspieler, ich kann unmöglich vollständig wissende Kompositionen oder Argumente von mir geben. Ich will ausprobieren oder übertreiben können.

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Ihr aktuelles Album „Flur“ ist bei Ihnen zu Hause im Lockdown entstanden. Was war das für eine Situation?

Das klingt jetzt pervers, weil da draußen Menschen sterben, doch es war eine Inspiration. Ich konnte mich nicht mehr ablenken, saß da und musste mit meinen Innereien konform werden. Ich habe diese Stücke anders gespielt, habe sie nicht gedrückt, oder geschoben und auch nicht versucht, ihnen eine Kleidung überzustülpen. Als Musiker war ich panisch, voller Angst, aber für die Kunst war es irre gut, weil die an die Notwendigkeit geknüpft ist.

Wenn man „Flur“ hört, versteht man das sofort.

Ich glaube, jeder hat eine extreme Erfahrung durchgemacht in dieser Zeit. Ich musste nicht so lange an meiner harten Hülle bohren, das Introvertierte kam in Strömen aus mir heraus.

Raus aus der Routine

Sie wollen Routinen durchbrechen, ins Unbewusste gelangen, in eine Sprache vor der Sprache. Warum?

Ich war ein Waldkind. War ich mit meinem Hund im Wald unterwegs, war ich ein ganz anderer als in der Schule, in der Gesellschaft: Da war ich dieser  Pausenclown, diese Großfresse, dieser Leistungstyp. Wenn ich dann an einem Lagerfeuer mal versuchte, ein bisschen das Herz  aufzumachen, dauerte das bis drei Uhr früh und alle mussten betrunken sein. War ich dann endlich allein, ohne Beobachtung oder Lobzwänge, wurde das Klavier mein Gesprächspartner. Man konnte die Vorderwand ausbauen, mit dem Ohr ganz nah an die Saiten gehen. Deswegen mache ich heute noch beim Spielen so einen Buckel. Ich benutze das Klavier nicht als Werkzeug, sondern als Resonanzraum meines Inneren.

Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie das Klavier zu sich selbst führt?

Es gab einen Schlüsselmoment. Da war ich 17, und mein Freund Marco wollte mich zum ersten Mal mit dem Auto abholen. Auf dem Land das Tollste der Welt. Ich hatte die Jacke angezogen, die Haare hochgegelt, und mich dann noch einmal ans Klavier gesetzt. Dann brauchte seine Mutter dringend das Auto, und Marco schrieb mir eine Nachricht. Die habe ich aber erst viereinhalb Stunden später gelesen. Da fiel mir erst auf, in dieser Kluft schwitzend und mit Rückenschmerzen, dass ich hätte abgeholt werden müssen. Ich hatte zum ersten Mal wieder die Kontrolle losgelassen, so wie als Kind. Da war mir klar, dass es dort einen sicheren Raum gibt. Ohne außen.

Auf Augenhöhe

Das ist auch der Grund, warum Sie mit dem Rücken zum Publikum sitzen?

Ja, das ist ein Zeichen dafür, dass hier keine Unterhaltung stattfinden muss. Wir gehen alle in eine Richtung. Ich biete nichts dar, ich gehe mit mir ins Gericht.

Sie sind wie ein Zugführer, oder ein Flugzeugkapitän.

Nur, dass man den Kapitän hierarchisch noch heruntersetzen muss. Ich mag die Augenhöhe.

Wie vergeht heute die Zeit für Sie, wenn Sie spielen?

Gäbe es ein hundertprozentig freies Konzert, ginge das mit einem Fingerschnipsen vorbei. Wie ein Wurmloch. Der perfekte Rausch.

Das Gespräch führte Christian Bos

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