PorträtAus dem Leben eines Magiers

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Sigmar Polke (1914-2010) vor einem seiner unbetitelten Werke

Sigmar Polke (1914-2010) vor einem seiner unbetitelten Werke

An den höheren Wesen kommt man bei Sigmar Polke einfach nicht vorbei. Sie befahlen ihm nicht nur, die rechte obere Ecke eines seiner berühmtesten Bilder schwarz zu malen, sie scheinen auch Wache vor seinem ebenso schillernden wie schwer fassbarem Werk zu stehen. An Einflüsterern hat es Polke nie gemangelt. Er hat sie überall gefunden: in Kunstmagazinen und der Bäckerblume, in mittelalterlichen Handschriften, mystischen Überlieferungen und auf der Witzseite des Playboys. Und sie sich dann auf unnachahmliche Weise zu eigen gemacht.

Aber wie geht das alles zusammen: das ironische Frühwerk, in dem Polke die kleinbürgerliche deutsche Gemütlichkeit mit poppigen Rasterbildern aufs Korn nahm; die gemalten Kalauer und fotografischen Geisterbeschwörungen; die Alchemie der Farben, die ihm 1986 in Venedig den Großen Preis der Biennale eintrug; und schließlich, schon am Anfang seines langen Sterbens, das Glaubensbekenntnis der Kirchenfenster im Großmünster von Zürich. Knapp fünf Jahre nach Polkes Tod versucht das Kölner Museum Ludwig ab 14. März dessen riesiges Werk zu ordnen und zu verstehen. Auf absehbare Zeit gibt es keinen besseren Anlass, um mit Sigmar Polke einen der größten Kölner Maler überhaupt in seinen vielen Facetten wieder zu entdecken.

Ein Kriegskind

Sein erstes Kunstwerk schuf Sigmar Polke mit sechs Jahren. Er malte einen Bomber, aus dessen Bauch Hakenkreuze regnen. 1992 ließ Polke diese Zeichnung (oder das, was er dafür ausgab) für eine Ausstellung im Amsterdamer Stedelijk Museum auf Stofftücher drucken und als Werbebanner aufhängen. So deutlich hat sich Polke selten dazu bekannt, dass er ein Kriegskind war. Am 13. Februar 1941 wurde er im niederschlesischen Oels geboren, bei Kriegsende floh seine Familie nach Thüringen. 1953 ging sie nach Westberlin und fand noch im selben Jahr in Düsseldorf eine Heimat. Wenn Polke später über die kleinbürgerliche Verfassung des deutschen Wirtschaftswunders spottete, meinte er immer auch die Verdrängung von Krieg und Hitlerei. 1982 malte er seine Bilder „Entartete Kunst“ und „Paganini“. Auf ersterem zeigt Polke den Besucherandrang vor der gleichnamigen Münchner Nazi-Schau, auf letzterem, einer großformatigen Phantasmagorie um Musik, Tod und Teufel, versteckte er unten rechts ein Hakenkreuz.

Kapitalistischer Realismus

„Wir können uns nicht darauf verlassen, dass eines Tages gute Bilder gemalt werden, wir müssen die Sache selber in die Hand nehmen!“ Und das taten sie dann auch: Sigmar Polke, der die Losung ausgab, Gerhard Richter, Konrad Lueg und Manfred Kuttner. Eine Viererbande aus der Düsseldorfer Kunstakademie, die Anfang der 60er Jahre staunte, wie die Fluxus-Bewegung den klassischen Kunstbegriff zersetzte, und der Malerei trotzdem die Treue hielt.

Gerade zur rechten Zeit schwappten dann aus den USA die ersten Pop-Art-Bilder nach Deutschland über – sinnigerweise als Reproduktionen in Kunstzeitschriften. Richter und Polke begannen selbst, Fotografien zu verfremden oder abzumalen, wobei Polke das Raster der Zeitungsfotos malerisch so vergröberte, dass den abgebildeten Animiermädchen der Lippenstift grotesk verrutschte. Für diesen „Kapitalistischen Realismus“ verwandelte Polke banale Vorlagen in Kunst, um die in ihnen transportierten Glücksversprechen zu karikieren. Schon bald variierte er das Heile-Welt-Motiv, indem er seine Bilder auf Dekostoffe malte, wie man sie in jedem Haushalt finden konnte, und schließlich schloss er auch die moderne Malerei in seine ironischen Huldigungen ein: Für „Carl Andre in Delft“ (1968) kreuzte er etwa Minimalismus und kitschige Porzellanfliesen.

Polke machte sich über beinahe alles und jeden lustig. Man hätte es ihm übel nehmen können, wenn seine Bilder nicht oft so verblüffend schön gewesen wären. Polke spottete nicht nur, er feierte im Geheimen die Wiedergeburt der Malerei. Und bekannte sich listig zur deutschen Provinzialität: mit knackigen „Würstchen“ (1964) statt Andy Warhols Suppendosen.

Zwischen Rübenackern

Als kapitalistischer Realist trug Polke Anzug und Krawatte. Anfang der 70er Jahre tauschte er sie gegen Schlangenlederhosen und hennarot gefärbte Achselhaare ein. Er zog 1972 auf den Gaspelshof in Willich und hielt sechs Jahre lang zwischen Rübenackern in seiner eigenen Künstlerkommune Hof. Zum engeren Hofstaat gehörte Achim Duchow, zu den wechselnden Gästen Walter Dahn, Katharina Sieverding und Candida Höfer. Ständig lief Musik, die Türen standen offen, und wenn die Polke-Gang nicht in Ami-Schlitten durch die Gegend sauste, braute sie Drogen aus Fliegenpilzen und ähnlichen Stoffen zusammen.

So geht die Legende, der allerdings auch ein beträchtlicher Ausstoß an Kunst entgegensteht. In der 1973 in Münster erstmals gezeigten Werkgruppe „Original und Fälschung“ inszenieren sich Polke und Duchow als Hehler, die auf ihren Bildern Motive geraubter Rembrandt-, Correggio- oder Bruegel-Gemälde zitieren und ihre heiße Ware mit modernen Maltechniken kaschieren. 1976 zog Polke dann mit der Zürcher Ausstellung „Wir Kleinbürger!“ ein frühes Fazit seiner wilden Jahre, denn natürlich wusste er, dass man als Vertreter einer klassischen Kunst wie der Malerei nicht wirklich als Revolutionär durchging.

Geister überall

Auf Reisen und zu Hause hatte Polke die Kamera stets dabei, und auch aus seinem Werk ist die Fotografie nicht wegzudenken. In den 60er Jahren hielt er in seiner Düsseldorfer Wohnung spiritistische Sitzungen nach dem Vorbild Albert von Schrenck-Notzings ab, einem einstmals führenden Theoretiker der Geisterfotografie, und sah gebannt dabei zu, wie sich die Bilder im Entwicklerbad aus dem Nichts materialisierten.

In Willich, wo alle Polaroids zur späteren Verwendung auf einen großen Berg geworfen wurden, verwandelte Polke die Dunkelkammer in ein Experimentallabor. Verfremdung ist das Prinzip seiner Fotoarbeiten, noch das banalste Motiv wird bei ihm mit Hilfe von Chemie und Technik unwirklich aufgeladen. In späteren Jahren diente Polke die Kamera dann auch als Schild; wer ihn abschießen wollte, wurde selbst fotografiert – oder mit einer Videokamera gefilmt. Dabei war sich Polke seiner einschüchternden Wirkung früh bewusst: Auf die fünf Schwänze von „Polkes Peitsche“ (1964/68) hatte er jeweils ein anderes Selbstporträt geklebt.

Der Alchemist

Polke hatte schon früh eine Neigung zu den Parawissenschaften, auch wenn er diese wie auf der „Telepathischen Sitzung II“ (1968) mit dem Sender William Blake und dem Empfänger Polke in Ironie verpackte. Seit den 80er Jahren bestimmten dann geheime Lehren seine Malerei. Polke erfand sich neu, experimentierte mit giftigen Stoffen und seltenen Farbpigmenten und las sich in die hermetischen Schriften über die Entstehung des Kosmos ein.

Polke, der Alchemist, das ist nicht nur ein lustiges Etikett, das ist eine aus profunder Kenntnis heraus geschaffene malerische Welt. In seinem Atelier war Polke ein kleiner Schöpfergott, der zwar nicht an den Stein der Weisen, aber doch an die „magischen“ Qualitäten der Materie glaubte. Auf der Documenta von 1982 zeigte er seine „Negativwerte“-Gemälde, die sich je nach Lichteinfall verfärben. Ähnliches gelang ihm 1986 auf der Biennale von Venedig: das preisgekrönte Wandgemälde „Athanor“ wechselt mit steigender oder sinkender Luftfeuchtigkeit den Farbton. Polke wollte die Herstellung der Farben von Grund auf verstehen und suchte mit Hilfe moderner Motive und Methoden nach dem Ursprung der Malerei. So umkreiste er die Erkenntnis, dass man der materiellen Welt ihre verborgenen Schönheiten entlocken muss. Und dass Kunst ein Experiment mit offenem Ausgang ist.

Verstecken spielen

Einmal hing die Nachricht einer berühmten New Yorker Galeristin an Polkes Kölner Ateliertür. „Lieber Sigmar“, stand da in Englisch, „war zufällig in der Gegend, wollte Hallo sagen.“ Ob sie besser vorher angerufen hätte? Das hätte auch nichts genutzt, denn Polke ging praktisch nie ans Telefon. Im Laufe der Jahre kamen deshalb immer wieder Sammler, Händler, Kuratoren und Museumsdirektoren „zufällig“ vorbei, um dann vor verschlossener Tür zu stehen.

Die Glücklicheren erwischten Polke immerhin, wie er heimlich durchs Fenster spähte, ob sie schon verschwunden waren. Polkes Unzugänglichkeit für Fremde wurde geradezu sprichwörtlich, erst recht, als ihm 1999 der mit 100000 Dollar dotierte israelische Wolf-Preis verliehen werden sollte und er der Verleihung ohne vorherige Absage einfach fernblieb.

Schlechter Einfluss

Mit seiner Rotzigkeit gab Sigmar Polke einer ganzen Künstlergeneration ein verführerisches schlechtes Beispiel ab. Alles schien plötzlich erlaubt, ob Kitsch, Kalauer oder Kritzelei. „Die großen Künstler haben ja oft den schlimmsten Einfluss“, sagt etwa Albert Oehlen, der bei Polke studierte. Auch Martin Kippenberger hängte sich begeistert an die Exkursionen an, etwa, wenn Polke seinen Schülern aufgab, in Berlin Betrunkene zu fotografieren, und dann selbst durch die Kneipen zog. Am Ende seines kurzen Lebens meinte Kippenberger, dass Polke ihn mit der Idee verdorben habe, das eigene Leben zum Teil der Kunst zu machen. Offenbar hatte Polke eine Ausstrahlung, der in der Kunstwelt nur wenige widerstehen konnten.

Polkes Sehnsucht

Es ist ein Rätsel: Der Mann, der sich über die Leere der Bilder lustig machte, versuchte ihnen später magische Tiefe zu verleihen. Gab es eine Umkehr in Polkes Werk, vielleicht sogar einen Widerruf? Diese Frage hat ihre Berechtigung, aber die Antwort liegt nicht darin, den frühen gegen den späten Polke auszuspielen oder umgekehrt. Stattdessen könnten wir in Sigmar Polke einen Maler (wieder-)entdecken, der die Selbstwidersprüche der Moderne auf faszinierende Weise in seinem Werk verband. Wie die Pop-Art-Künstler wusste er, dass Bilder in der Mediengesellschaft beliebig oft vervielfältigt und in Umlauf gebracht werden können. Aber als Maler wollte er nicht von der Idee lassen, dass sie einzigartig sind. Alchemistisch schillernde Werke muss man leibhaftig vor sich gesehen haben, denn Abbildungen geben nur einen Teil ihrer Wirkung preis; in dieser Hinsicht ähneln sie dem christlichen Verständnis von Ikonen. Wenn es so etwas wie die höheren Wesen der Malerei gibt, dann wirken sie in Sigmar Polkes Arbeiten. Am 10. Juni 2010 befahlen sie ihm: Aus dem Leben scheiden. Polke war 69 Jahre alt.

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