Realismus, Nächstenliebe und Gottvertrauen

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Italienischer Priester mit Mundschutz und Handschuhen während der Karfreitagsliturgie

Italienischer Priester mit Mundschutz und Handschuhen während der Karfreitagsliturgie

I. Corona-Zeiten stellen die religiöse Frage. Denn Religion, so der amerikanische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947), ist das, was der Einzelne aus seinem Solitärsein macht. Solitärsein meint „Einsamkeit“, aber mehr noch die Einsicht in das Einzig-Sein, in das Auf-sich-gestellt-Sein, das Mit-sich-zuletzt-Alleinsein jedes Menschen. Diese Frage stellt sich immer, in Quarantäne und Zeiten des „physical distancing“ aber ganz bestimmt.

Die Einsicht in die unüberwindbare Trennung von allem anderen, was ist, mit dem man aber zugleich auf je spezifische Weise sich doch verbunden fühlt, diese Einsicht erschreckt und fasziniert. Vor allem aber fordert sie eine Strategie, ein Gesamtverhältnis aufzubauen zu allem, was ist. Religion tut genau dies. „Religion ist also Solitärsein; und wer niemals solitär ist, der ist niemals religiös.“

In seinem Solitärsein fragt der Mensch: Welchen Wert besitzt meine Existenz? Er kann, so Whitehead, diesen Wert aber nicht finden, bis er seinen individuellen Anspruch auf Werthaftigkeit mit jenem der Welt verschmolzen hat. Anders gesagt: „Religion ist Welt-Loyalität.“ Welches Angebot hat da das Christentum nach seiner Selbstverständlichkeit zu bieten? II. Das Zentrum des christlichen Glaubens ist Jesus Christus. Das Zentrum des Wirkens Jesu aber, das, was ihn ausmacht, ist seine Botschaft von Gott. Das Spezifische dieser Gottes-Botschaft aber ist ihr unbedingter Realismus und die Erkenntnis, dass die Liebe die Basis menschlicher Existenz ist. Denn der Mensch kann in seiner Verwundbarkeit und ja, auch in seiner Sündhaftigkeit ohne die Liebe, das Verzeihen, die Gnade anderer nicht leben. Und wenn man Christ ist, kann man glauben, dass man auch nicht ohne die Liebe Gottes leben muss.

Christlicher Realismus bedeutet, dass die Wirklichkeit nur erfahren wird, wenn man sich tatsächlich auf die Welt einlässt, so wie sie ist. Da steht die Münze von Gut und Böse auf der Kante und kippt mal dahin, mal hierhin, und man weiß nie, wohin: bei sich nicht, bei anderen nicht und gesellschaftlich auch nicht. Die Bibel speichert von ihrer ersten bis zu ihrer letzten Seite das Wissen um himmlische Höhen wie teuflische Abgründe menschlicher Geschichte. Sie gibt sich weder der Illusion hin, der Mensch sei gut und die Natur ein lieblicher Garten Eden, der Mensch ist irreversibel aus dem Paradies vertrieben. Noch verflucht die Bibel den Menschen als unrettbar böse Kreatur, schließlich glaubt sie an ihn als ursprünglich gutes Geschöpf Gottes, das sich danach sehnt, genau das wieder zu werden.

Daher stehen in der Botschaft Jesu die Armen vor den Reichen, die Ohnmächtigen vor den Mächtigen, die Kleinen vor den Großen. In dieser Botschaft geht die Person vor der Institution, und gilt der Primat der Liebe im Verhältnis von Gott und Mensch und im Verhältnis der Menschen untereinander. Das zentrale Kriterium, um diesen Gott in den vielen Phänomenen der Welt zu entdecken, ist, glaubt man Jesus, die Fähigkeit zu solidarischem Mitleiden: individuell in der Barmherzigkeit, gesellschaftlich im Einsatz für Gerechtigkeit. Denn Jesus identifiziert Gottes- und Nächstenliebe radikal. In den Worten des 1. Johannesbriefs: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner“ (1 Joh 4,19).

Jesus versucht eines ständig klarzumachen: Noch die Besten, noch die Frömmsten können sich vor Gott nicht rühmen, sie brauchen seine Liebe, seine Gnade, seine Erlösung. Das ist das Harte an Jesu Botschaft. Jesus macht aber auch klar, dass noch die größten Sünder diese Erlösung, also Gottes Gnade bekommen werden, wenn sie tun, was Gott so sehr will: den Nächsten lieben. Wir sind frei und sollen es sein und doch in unserer Verletzlichkeit so unendlich angewiesen auf die Liebe anderer. Das ist immer so: Aktuell können wir es nur etwas schlechter verdrängen. III. Natürlich bleiben die Kirchen weit, bisweilen dramatisch weit hinter ihrer Botschaft zurück. Auch das war immer so, sie können es nur nicht mehr so leicht verbergen. Schließlich verlieren die christlichen Kirchen schon seit längerem alle ihre Pastoralmacht. Man verlor zuerst das Interpretationsmonopol über den Kosmos, dann jenes über die Gesellschaft und schließlich jenes über die Körper der Gläubigen. Die fürsorgliche Kombination von Wachen und Bewachen, von Kontrolle und Schutz aller und jedes Einzelnen, das kann der Staat, wie er gerade überraschend machtvoll beweist, mittlerweile viel besser. Was ist der Beichtstuhl gegen Chinas Sozialüberwachungssystem oder die kommenden Corona-Apps? Ein hilfloser, technologisch veralteter, also verlassener Ort.

Der religiöse Code ist auf Open Source gestellt, und religiöse Praktiken und Akteure sind im globalen Kapitalismus der Gegenwart ganz unvermeidbar längst selbst zu globalen Marken geworden. Aber das ändert nichts an den christlichen Essentials: unbedingter Realismus und die Erkenntnis, auf die Liebe anderer angewiesen zu sein und nicht auf die Liebe Gottes verzichten zu müssen.

Die Kirchen sind durch Corona ins Großexperiment „Was sind wir ohne Gottesdienst, ohne priesterliche Pastoralmacht und ohne reale Gemeinschaft?“ gestoßen worden. Was bleibt da? Was hat das Christentum jetzt noch zu bieten? Menschen, die bislang schon ohne all das ganz gut auskamen, wie jene, denen es noch viel bedeutet, sie beide stehen vor dieser Frage.

Man kann auf die Suche nach den christlichen Essentials gehen. Etwa in die leeren, aber Gott sei Dank offenen Kirchenräume. Sie sind gerade von angenehmer Ruhe und vorbildlichem Schweigen. Sie haben das, was das Christentum ausmacht, ganz unaufgeregt gespeichert, diskret und respektvoll.

Oder man kümmert sich um jene, die einen gerade jetzt brauchen. Auch darin findet man das Wesentliche des Christentums. Oder man kann beides tun und spüren, wie es sich gegenseitig stärkt.

Natürlich hat niemand die christlichen Ressourcen einfach zur Verfügung. Aber niemand, wirklich niemand ist von ihnen ausgeschlossen. Und sie bieten die Chance, zu bekommen, was am meisten hilft in der aktuellen Krise, aber auch in der Krise, die das Leben zuletzt immer ist: Gottvertrauen.

Foto: dpa

ZUR PERSON

Rainer Bucher, geboren 1956, ist Professor für Pastoraltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Graz. Er gilt als wichtiger Vordenker für die heute noch möglichen Formen christlicher Praxis in der säkularen Gesellschaft. (jf)

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