Regisseur Milo Rau„Ich habe wohl eine ziemlich überzeugende Art“

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Milo Rau (stehend) inszeniert das Letzte Abendmahl während der Dreharbeiten zu „Das neue Evangelium“.

Milo Rau (stehend) inszeniert das Letzte Abendmahl während der Dreharbeiten zu „Das neue Evangelium“.

  • Der Schweizer Regisseur Milo Rau ist bekannt für so provokante wie spektakuläre und engagierte Arbeiten.
  • Jetzt hat er im italienischen Matera mit Geflüchteten, Filmstars und Stadtbewohnern die Geschichte Jesu verfilmt.
  • Wie gefährlich die Dreharbeiten wurden und was er über seine Wahlheimat Köln denkt, erzählt Rau im Interview.

Köln – Milo Rau, Sie haben in der süditalienischen Stadt Matera das Leben Jesu verfilmt, wie vor Ihnen Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson. Wie kam es dazu?

Ich habe Ende 2017 eine Mail aus Matera bekommen, mit der Nachricht, dass sie Kulturhauptstadt 2019 werden. Die hatten ein paar Stücke von mir gesehen und wollten, dass ich ein Projekt in Matera mache. Das war eine ziemlich offene Anfrage, aber ich habe binnen 30 Sekunden geantwortet und gesagt: Hervorragend, wir machen einen Jesus-Film. Weil ich den Pasolini-Film immer mochte und ein Jahr vorher mit Maia Morgenstern, die in Gibsons „Die Passion Christi“ die Maria gespielt hatte, das Stück „Empire“ inszeniert hatte.

Dass Geflüchtete aus Afrika Jesus und seine Jünger spielen war anfangs nicht geplant?

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Zu Person und Film

Milo Rau, 1977 in Bern geboren, ist einer der wichtigsten Theatermacher unserer Zeit: 2015 versammelte er 60 Zeugen und Experten mitten im Bürgerkriegsgebiet zu einem „Kongo Tribunal“, 2016 ließ er die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux von Kindern nachspielen. Seit 2018 leitet er das Nationaltheater Gent.

Sein Film „Das neue Evangelium“ startet am 17. Dezember. Online-Kinoticket unter www.dasneueevangelium.de

Nein, ich wusste nur, dass ich eine Mischung aus Profis und Laien haben wollte. Ich rief also Enrique Irazoqui, den Jesus aus Pasolinis „Matthäus-Evangelium“, Maia Morgenstern und noch ein paar andere berühmte Jesusfilm-Darsteller an, und sie sagten sofort Ja. Aber als ich im Winter 2017 nach Matera kam, besuchte ich dort auch die wilden Flüchtlingslager und begriff, welche Ausmaße das hat und welche Systematik. Da war dann klar, dass Jesus, die Apostel und auch viele andere Statisten aus diesem Kontext kommen müssen. Ich wollte diesen Konflikt im Film abbilden. Da spielen also auf der einen Seite Filmstars mit, auf der anderen Laien: Polizisten, der Bürgermeister von Matera, Landarbeiter.

Die halten sich dort ohne Papiere auf und müssen deshalb für einen Hungerlohn auf den Feldern arbeiten.

So ist es. Die haben keine Möglichkeit, sich in einem normalen Arbeitskampf zu wehren, weil sie systematisch illegalisiert werden. Zurück in ihre Herkunftsländer können sie nicht, denn sie stecken tief in Schulden, weiter in den Norden auch nicht, denn in Italien sitzen sie wegen der Dubliner Verträge fest – moderne Sklaven. Es handelt sich um eine halbe Million Menschen allein in Italien, die Tag für Tag am Straßenrand stehen und auf Arbeit warten. Egal, wie schlecht bezahlt, egal, wie tödlich. Wer sich beklagt, kommt auf eine Liste. Diese brutale Mafiastruktur ist nicht reformierbar, auf ihr beruht die ganze europäische Billig-Landwirtschaft. Deshalb haben wir beschlossen, eine Parallel-Struktur zu schaffen, in der die Leute Papiere haben, richtige Arbeitsverträge und richtige Unterkünfte. Das ist ein Ziel des Films: faire, würdevolle Lebensbedingungen für alle.

Ihr Jesus, Yvan Sagnet, ist eigentlich ein Aktivist und kein Schauspieler. Wie kam es zu der Besetzung?

Mir war klar: Jesus muss Charisma haben – vor allem aber ein anerkannter Führer sein. Da gab es im Grund nur Yvan Sagnet, und ich bin wahnsinnig froh, dass er zugesagt hat. Der hat vor zwölf Jahren den ersten Streik von illegalen Landarbeitern organisiert, gegen die Mafia. Danach sind Antimafia-Gesetze verabschiedet worden, allerdings wurden die nie umgesetzt. Juristisch gesehen ist Schwarzarbeit in der EU gar nicht möglich, trotzdem arbeiten Hunderttausende auf diese Weise. Das zu verändern ist Yvan Sagnets Mission.

Hat er nicht gezögert, als Sie ihm vorgeschlagen haben, in einem Film mitzuspielen — und dann noch als Jesus?

Ich habe wohl eine ziemlich überzeugende Art. Vor allem aber biete ich den Leuten Rollen an, die für sie wirklich Sinn machen. Die Jesus-Rolle übersetzt Yvan Sagnets Engagement in eine Metapher. Gleichzeitig war für ihn klar, dass er nicht einfach nur Jesus darstellen kann, sondern dass diese Rolle ein dialektischer Teil seines Kampfes sein muss - dass der Film sein Engagement nicht verklären, sondern weiterführen muss. Das brachte uns auf die Idee mit der „Revolte der Würde“, wo wir an die 30 verschiedene NGOs und Netzwerke zusammengeschlossen haben: Sexarbeiter, die afrikanischen und italienischen Landarbeiter, das erste unabhängig geführte Flüchtlingslager, Biolandbauern undsoweiter.

Was wahrscheinlich gar nicht so einfach war?

Ja, das war eine äußerst schwierige, gefährliche Sache. Etwa afrikanische und italienische Landarbeiter zusammen zu bringen, das wurde bisher nie gemacht. All diese Gruppen werden von der Mafia gegeneinander ausgespielt. In der Illegalität kämpft jeder für sich selbst, es herrscht eine riesige Paranoia. Ich habe also Yvan gefragt, wie er denn diesen Streik damals gemacht hat. Er erzählte, dass er zwölf Unterführer aus zwölf Ländern hatte. Wie die zwölf Apostel, sagte ich mir, und dann haben wir uns auf die Suche gemacht. Und natürlich war uns sehr wichtig, dass auch Frauen mit dabei sind. Was tatsächlich extrem schwierig war, da es in den Lagern fast ausschließlich Männer gibt und die Mafia gerade die Frauen am meisten einschüchtert. Aber wir sind drangeblieben, und als erster Jesusfilm haben wir weibliche Apostelinnen. Eine ehemalige Sexarbeiterin sitzt als Maria Magdalena beim letzten Abendmahl sogar an Jesus“ Seite – eine symbolische Revolution!

Weil ich Muslim bin, mache ich mit

Sie selbst sind Atheist, viele der afrikanischen Darsteller sind Muslime. Wie selbstverständlich war da noch das Jesus-Evangelium?

Die Jesus-Geschichte ist ja auch im Koran präsent. Mohammed respektiert Jesus als Etappe zum letzten und wichtigsten Propheten – sich selbst. Wir haben lange Debatten geführt, die Darsteller haben sich zum Beispiel gefragt, was man in ihren muslimischen Ursprungsländern dazu sagen wird, dass sie christliche Rollen spielen. Dann hat der Darsteller des Apostel Andreas gesagt – ein sehr respektierter muslimischer Aktivist: Gerade weil er Muslim sei, mache er mit. Und er hat völlig recht: Der christliche Glaube wird im Neuen Evangelium übersetzt ins universal Menschliche.

Sie vermischen oft die Ebenen, zeigen in den Bibelszenen Passanten, die die Dreharbeiten mit ihren Handys aufnehmen, veranstalten das Casting in einer Kirche...

Das war mir wichtig. Das ist auch in allen meinen Stücken so. Im Grunde ist das mein erster Film, der auf dem Spiegelungsniveau meiner Theaterarbeit stattfindet. Ich versuche, auf eine Weise zu drehen, in der ich total frei bleibe und auf die jeweilige Situation reagieren kann. Wir nennen das „utopische Dokumentation“. Man schafft eine völlig irre, revolutionäre Situation – Flüchtlinge drehen mit Filmstars einen Bibelfilm – und was dann passiert, das weiß man vorher nicht. Ich versuche, die Wirklichkeit der Beteiligten und die Bibelfilmebene in ständiger Bewegung zu halten. Sogar ich selbst als Regisseur trete immer mal wieder auf, mal scheiternd, mal euphorisch. Und man fragt sich ständig: Ist das jetzt ein politischer, ein künstlerischer oder ein dokumentarischer Vorgang, den ich hier sehe? Züchtigt dieser Mann diesen Stuhl beim Casting tatsächlich? Oder spielt er das nur? Und wenn er das spielt: Warum ist uns, warum ist ihm dieser krasse Rassismus so verfügbar?

Sie sprechen von der Szene, in der ein Mann sich beim Casting als römischer Soldat, der den schwarzen Jesus foltert empfiehlt...

Genau. Wir sehen zuerst die Folterung des Stuhls, dann kommt die reale Folter von Jesus, die von der Bildmetaphorik wiederum an Sklaven-Auspeitschungen erinnert, also eine Metapher für Rassismus ist. Die ist wiederum so inszeniert, dass der Jesus-Darsteller von Pasolini und die heilige Maria von Gibson dabei zugucken. Das meine ich mit Spiegelungen.

Die Kirche unterstützt

Wie hat eigentlich die Kirche auf Ihr Vorhaben reagiert?

Am Anfang waren sie ein bisschen verstört. Wir haben aber dann eng mit dem Migrationsminister des Vatikans zusammengearbeitet, Papst Franziskus hat dieses Ministerium gegründet. Der Vatikan hat den Film am Ende sehr stark unterstützt, ihre Medien haben viel drüber berichtet, Vertreter waren bei den Events, etwa bei der „Auferstehung“ von Jesus, die wir in Rom gedreht haben. Das Schönste aber ist: Die italienische Kirche unterstützt die Häuser der Würde, in denen viele der Darsteller jetzt leben, finanziell. Übrigens sind auch die Landeskirchen in Deutschland begeistert von dem Film. Das ist natürlich extrem wichtig und auch ein fantastisches Zeichen für die Weltoffenheit dieser Institutionen. Einige Kirchenführer haben in Interviews das Fehlen einer jenseitigen Heilsbotschaft angemahnt, andere stört die sehr krasse Gesellschaftskritik, wieder andere, dass Maria Magdalena an Jesus“ Seite sitzt oder dass im Vergleich zu Pasolini weniger rührende Kinder-Szenen drin sind. Das ist verständlich. Aber jede Zeit hat ihren Jesusfilm, und wir wollten einen fürs heutige Europa machen.

Seit 2018 leiten Sie das NTGent, das größte flämische Theater. Da haben Sie auch mit einem christlichen Stoff begonnen, einem Stück zum Genter Altar.

Stimmt, jetzt, wo Sie es sagen... mich übermannt die Altersfrömmigkeit! Aber im Ernst: Der Genter Altar ist das erste realistische Kunstwerk der abendländischen Tradition. Wenn man sich zum Beispiel den Adam anguckt, hat der rote Hände und einen bleichen Körper, weil das Modell gerade vom Feld kam, sich im Atelier ausgezogen hat und verbrannte Hände von der Sonne hatte. Das kommt ganz nah an meine Ästhetik ran: Ich versuche, den Sinn der alten Texte, der antiken oder biblischen Stoffe, mit den Menschen von heute zu finden.

Was sind bis jetzt die positiven und negativen Erfahrungen Ihrer ersten Intendanz?

Ich bin auch in der dritten, wegen Corona sehr schwierigen Spielzeit begeistert, was für eine bewegliche, volksnahe Institution so ein Stadttheater ist. Ich versuche die Welt von heute abzubilden, anhand alter Mythen, als eine Art globales Volkstheater. Wir haben sehr radikal experimentiert, wie wir das Theater zum Publikum öffnen können, wie wir Stoffe neu und mit mehr Nachhaltigkeit entwickeln können. Jetzt haben wir Pläne, draußen zu spielen, alle griechischen Tragödien, jeweils morgens von sieben bis neun Uhr. Warum spielen wir immer nur drinnen? Warum immer nach der Arbeit, wenn wir eh alle fix und fertig sind? Warum nicht zuerst die Kunst und dann die Arbeit? Was mich am meisten begeistert hat: Wir haben nicht nur neues Publikum gefunden, sondern auch das alte mitgenommen. Das Jahr 2019 war das erfolgreichste Jahr, das das NTGent punkto Auslastung in seiner ganzen Geschichte hatte. Und das hat einfach damit zu tun, dass wir Stoffe ausgewählt haben, die die Leute interessiert haben. Dass wir Avantgarde und Tradition zusammengebracht haben – wie im „Neuen Evangelium“.

Köln hat eine unglaubliche Lage

Sie leben schon lange mit ihrer Familie in Köln, trotzdem sieht man ihre Produktionen eher im Rest der Welt.

Genau, ich lebe seit 2011 in Köln. Ich habe hier viele Hörspiele gemacht beim WDR, meine Filmproduktionsgesellschaft ist hier. Und es waren ja auch über die Jahre viele Gastspiele zu sehen, aber für eine Kölner Neuinszenierung war keine Zeit: Erst war ich im Kongo, dann habe ich Gent übernommen, ich war einfach ständig in Anspruch genommen. Aber ich finde, Köln ist eine Superstadt. Und dann liegt sie eben auch noch fantastisch, direkt bei Flandern, Frankreich und Holland, neben dem Ruhrpott, mitten in der größten urbanen Zone der Welt. Eine absolut unglaubliche Lage, kulturpolitisch gesehen.

Wenn Stefan Bachmann 2023 in Köln aufhört, waren Sie fünf Jahre in Gent. Könnten Sie sich vorstellen, Intendant am Schauspiel Köln zu werden?

Ich kann mir vieles vorstellen, bin aber sehr glücklich in Gent, wo ich diese wunderbare „Kunst-Maschine“ eines großen Stadttheaters kennen und schätzen gelernt habe. Die Mischung aus regionaler Verortung mit gleichzeitiger internationaler Ausrichtung haben wir in den letzten Jahren in Gent perfektioniert unter dem Label des „Stadttheaters der Zukunft“. Wir koproduzieren alle unsere Stücke international, mit dem Schauspiel Köln zum Beispiel haben wir bei Ersan Mondtag und Luk Perceval zusammengearbeitet – zwei Künstler, die Stefan und ich beide sehr schätzen. Meine euphorisierende Genter Erfahrung ist auf jeden Fall, dass das Modell Stadttheater ein sehr viel flexiblere und beweglichere Institution ist, als man denkt. Insofern habe ich da auch keine Auswanderungsgedanken. Aber natürlich liegt mir Köln besonders am Herzen. Ich wohne ja hier und meine Töchter gehen hier zur Schule.

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