Richard David Precht„Wir übertreiben die Bedeutung der Verschwörungstheorien maßlos“

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Der Philosph Richard David Precht.

  • In unserem Interview spricht der Publizist und Philosoph Richard David Precht über den Hang der Deutschen zu autoritärem Führungsstil in der Krise.
  • Zu den Virologen, die die neuen Stars der Medien sind, sagt er: „Ich finde interessant, dass Menschen, die dafür nicht ausgebildet wurden, über Nacht ins Rampenlicht gezerrt wurden.“
  • Was ihn beunruhigt? „Dass Menschen diesen Staat, der Leben und Überleben sichert, häufig mit autoritären Führungsfiguren in Verbindung bringen.“

Herr Precht, wir haben vor der Krise bereits einmal miteinander gesprochen, und damals gebrauchten Sie die Formulierung, dass Menschen Verbote lieben. Hat sich dies in der Krise bestätigt? Enorm. Das hat sich in einem Umfang bestätigt, den ich nicht ahnte, als ich diesen Satz damals sagte. Es ist doch zum Beispiel interessant, dass die Politiker, die am rigorosesten auf Corona reagieren, die mit Abstand höchsten Zustimmungswerte erreichen. Der allergrößte Teil der Menschen hat sich an die Regeln gehalten, die ihnen während des Lockdowns auferlegt wurden. Wir diskutieren zwar ausgiebig über diejenigen, die das nicht getan haben, aber die stellen nicht die Mehrheit dar. Was ist der Grund dafür – Angst?

Angst spielt sicher eine Rolle. Wenn die Menschen unsicher sind, wenn sie Angst haben und geschützt werden wollen, dann möchten sie sich in einem starken Ordnungsrahmen bewegen, dann möchten sie sich auf jemanden verlassen können, der Verantwortung übernimmt, auch in Form von Einschränkungen und Verboten.

Es gibt auch eine Kehrseite, die der Verschwörungstheorien.

Wobei man sagen muss, dass wir die Bedeutung dieser Verschwörungstheorien maßlos übertreiben. Es gibt diese Verschwörungstheoretiker, sie sind auch oft sehr lautstark, und in den entsprechenden Echokammern werden ihre Stimmen auch gut verbreitet – aber die Anzahl derjenigen, die Corona für eine Inszenierung von Bill Gates halten, ist eine verschwindende Minderheit. Die sich allerdings einer unglaublichen medialen Aufmerksamkeit erfreut.

Apropos Medien: Die neuen Stars sind Virologen. Wie finden Sie das?

Ich finde interessant, dass Menschen, die dafür nicht ausgebildet wurden, über Nacht ins Rampenlicht gezerrt wurden. Und ich muss sagen, dass es einige Virologen gibt, die das doch ganz fantastisch bewältigt haben.

Hat sich damit auch unser Blick auf Wissenschaft verändert?

Wenn das so wäre, wäre das schön. Nicht, dass ich mir wünsche, dass Wissenschaftler über die Politik bestimmen, aber ich fand gut, dass in der Corona-Krise die Wissenschaft sehr ernst genommen wurde. Denn leider sehe ich beim Klimawandel, dass die Wissenschaft dort beileibe nicht annähernd so ernst genommen wird.

Das ist es ja, was Sie umtreibt, dass der Klimawandel das viel größere Problem als Corona ist.

Genau. Wir haben ja die Hoffnung, dass die Corona-Krise irgendwann vorüber sein wird, dass wir einen Impfstoff finden, gleichgültig, ob dies ein, zwei oder drei Jahre braucht. Aber durch den Klimawandel setzen Faktoren ein, durch die der ökologische Kreislauf fundamental gestört wird – das ist irreparabel. Da gibt es keinen Impfstoff.

Im Zuge der Corona-Krise hat sich der Staat in eine Rolle begeben, die er zuvor nahezu vermied – die des starken, des sorgenden Staates. Wie beurteilen Sie das?

Grundsätzlich finde ich es richtig, dass der Staat in dieser Situation, in einer Notsituation, dazu übergegangen ist, sogar die Grundrechte einzuschränken. Denn es geht um Leben und Überleben im großen Stil. Das halte ich für grundsätzlich richtig, und wenn ich mir dies auch nicht im vollen Ausmaß mit Blick auf die Klimakatastrophe wünsche, so halte ich das doch für teilweise angebracht. Wir sollten die Klimakrise genauso ernst angehen und sagen, dass es so nicht weitergeht, einfach, weil es nicht mehr verantwortbar ist.

Zum Beispiel?

Der Kohlekompromiss, der ausgehandelt wurde und die Kraftwerke noch ziemlich lange weiterlaufen lässt, ist völlig unverantwortlich. Genauso, dass immer größere Pkw durch unsere Städte fahren dürfen. Oder dass man nicht versucht, den innerdeutschen Luftverkehr auf das alte Niveau zu bringen. Und wir dürfen auch keine weiteren Billigkreuzfahrten mehr anbieten. Also, wenn der Staat hier klare Kante zeigen würde, weil es um irreparable Schäden geht, dann würde mich das freuen.

Gibt es dabei auch Schattenseiten?

Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, dass Menschen diesen Staat, der Leben und Überleben sichert, häufig mit autoritären Führungsfiguren in Verbindung bringen. Dass, wer die größte Autorität ausstrahlt, die höchsten Beliebtheitswerte einheimst. Das ist eine zweischneidige Angelegenheit, denn ich hoffe nicht, dass dieser Politikertypus so reüssiert, wie das in vielen europäischen Ländern der Fall ist.

Es gibt aktuell massive Kritik an den Zuständen in der Fleischindustrie. Glauben Sie, dass dies Vegetarismus und Veganismus befördert?

Wenn Sie in Umfragen nach der Massentierhaltung fragen, dann sagen zumeist über 80 Prozent der Deutschen, dass sie diese sofort abschaffen würden. Gleichzeitig ist bekannt, wie sich viele freuen, wenn die Preise für Fleisch so niedrig sind. Nun könnte man sagen, dass das Leben eines Schweins nicht nur ein paar Euro wert sein darf. Man könnte Mindestpreise und strengere Haltungsregeln einführen, dann würde kein Volksaufstand ausbrechen – die Leute würden sich in kürzester Zeit an höhere Preise für Schweine- oder Rindfleisch gewöhnen.

Also?

Das Problem in der Branche besteht nicht darin, dass man die Massentierhaltung in Deutschland nicht beseitigen könnte. Das geht! Dann würde die Tönnies und Co allerdings nach Polen gehen! Oder nach Holland! Oder nach Dänemark! Und dann würden sie ihr Billigfleisch nach Deutschland importieren. Das ist möglich, weil wir eine Freihandelszone in Europa haben. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Selbst wenn deutschen Massentierhaltern die Ställe geschlossen werden, würde dieses Marktsegment von anderen einfach übernommen.

Gibt es einen Ausweg? So, wie Sie es beschreiben, wirkt die Situation verzweifelt.

Ich glaube, dass sie in der Tat verzweifelt ist. Man müsste in der EU den Umgang und Handel mit bestimmten Lebensmitteln wie Fleisch neu reglementieren. Hier müsste der Freihandel aus ethischen Gründen zurückgefahren werden. Ich sehe gar keine andere Möglichkeit. Man müsste Zölle auf Fleisch aus Massentierhaltung erheben, die so hoch sind, dass Bio-Fleisch günstiger ist. Aber ich kenne keine Partei in Deutschland, die ernsthaft darüber nachdenkt.

Kann die Krise vegetarische oder vegane Ernährung begünstigen?

Ach, das sieht vielleicht gerade ein bisschen so aus, aber mit der Zeit pendelt das sich wieder ein. Wir haben eine relativ konstante Zahl von Vegetariern und Veganern über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg – es gibt um die 800000 Veganer und um die acht Millionen Vegetarier – jeder Zehnte ist Vegetarier, jeder Hundertste Veganer.

Neues Buch

Richard David Precht (55) ist Philosoph und Publizist, dazu Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität in Lüneburg, außerdem Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit 2012 moderiert er die Sendung „Precht“ im ZDF.

Sein neues Buch „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ ist gerade im Goldmann Verlag (256 Seiten, 20 Euro) erschienen.    

Die Kultur ist stark betroffen von der Krise: Merkt man, was man an ihr hat, gerade jetzt, wo sie fehlt?

Wer ist man? Man kann ja auch „Let’s dance“ gucken. Aber sicher gibt es eine Klientel, der die Oper fehlt.

Und Fußball?

Fußball ist sicher die öffentliche Veranstaltung, die am schmerzlichsten vermisst wird. Es ist hochinteressant zu beobachten, dass Geisterspiele ungefähr so berauschend wie alkoholfreies Bier. Auch ich, der sich sehr für Fußball interessiert, habe keine Lust, Geisterspiele anzuschauen. Atmosphäreloser Fußball, Rasenschach. Aus einem Event wird ein Computerspiel.

Zu Ihrem neuen Buch, das sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt – stellen Sie darin Bezüge zu Corona her?

Es war nahezu fertig, als die Krise begann. Natürlich sind mir Bezüge aufgefallen, zum Beispiel haben wir in einer Kultur gelebt, die sich vor Computerviren viel mehr fürchtete als vor biologischen. Wir sind zwar von Technik umzingelt, sie nimmt uns immer mehr Arbeit ab und auch Denkarbeit. Darüber vergisst man häufig, dass man ein Tier ist, dass man in der Natur einbehalten ist. Dieses Wissen hat Corona ein ganzes Stück weit zurückgebracht.

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