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Richard Siegal am Kölner SchauspielKlassisches Ballett - aber anders

Lesezeit 4 Minuten
Szene aus Xerrox Vol, 2.  

Szene aus Xerrox Vol, 2.  

Köln – Die einen lieben es und finden es wunderschön. Die anderen hassen es, seinen Drill, seine Geschlechterstereotypen, seinen Märchen-Kitsch: Das klassische Ballett. Eine polarisierende Kunstform also, und zwar nicht nur für die Zuschauerinnen und Zuschauer, sondern auch für die Tänzerinnen und Tänzer selbst.

So ist es gute Tradition im Tanz, dass sich die Sparte so kritisch wie kaum eine andere mit sich selbst beschäftigt, seiner Vergangenheit, seiner Kultur. Auch Richard Siegal hat es jetzt wieder einmal getan und macht in seinem neuen Stück aus Ballett Meta-Ballett.

Kaum geht es los, scheint die Temperatur im Saal gleich um ein paar Grad zu sinken. Ein kalter Sturmwind bläst auf der Bühne und bringt einen taubenblauen Vorhang zum Tanzen. Der glänzende Stoff begrenzt als Halbrund die Bühnenrückseite und verfolgt seine ganz eigene Choreografie. Er flattert, bäumt sich gewaltig hoch, züngelt und lodert oder fließt wie Wasser über den Bühnenboden - nur Peter Pabst, der Bühnenbildner von Pina Bausch, hat solche Stoff-Verwehungen schon mal ähnlich famos hingekriegt wie jetzt Richards Siegal mit seinem selbst entworfenen Setting.

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Der Vorhang droht also der Kompanie die Show zu stehlen, sie zu verschlucken. Die aber: steht. Egal welcher Sturm sie umtost, wie laut die Sounds gewittern, wie nervös das Licht flackert – sie halten ihre formvollendete Ballett-Pose. Diese Kunstform, scheinen sie zu demonstrieren, erschüttert nichts, sie überdauert den Sturm der Zeit.

„Xerrox Volume Two“ heißt das Stück, benannt nach einer Komposition von Alva Noto, dessen gewaltige Soundscapes mit apokalyptischer Wucht dröhnen und zischeln und die der eher konzeptuellen Choreografie eine überwältigende Dramatik geben.

Der Titel erinnert wohl nicht zufällig an die „Xerographie“, die Drucktechnik, die eben vor allem eines ermöglichte: unendliche Vervielfältigung. So demonstriert jetzt das fantastische Ballet of Difference die klassischen Codes, verfremdet sie aber auch. Die Füße schnalzen ein bisschen zu zackig in die Erste Position. Popping-und-Locking-Gelenke zerruckeln die geschmeidige Eleganz. Tänzerinnen und Tänzer verschwinden im Rückwärtsgang von der Bühne wie in einem falsch herum laufenden Film.

Denn absichtsvoll „rückwärtsgewandt“ ist auch so manches Bewegungs- und Bildzitat: Vieles erinnert an jene Ikonen der Tanz- und Kulturgeschichte, die besonders stark die Gendervorstellungen prägten: biblische Evas etwa oder muskelbepackte Spartakus-Gladiatoren.

Choreografie: Richard Siegal Bühne: Richard Siegal Licht & Video: Matthias Singer Kostüm: Flora Miranda Musik: Alva Noto (Carsten Nicolai) Dramaturgie: Tobias Staab   Weitere Vorstellungen am 28. und 29.05.2022 im Depot 1, Schauspiel Köln

„Dagegen bricht Richard Siegal die stereotypen Rollenverteilungen auf, wenn er die Pas-de-deux’ immer wieder von zwei Männern tanzen lässt. Dann lupfen testosteronstrotzende Ballerinos eben nicht Nymphen durch die Luft, sondern männliche Kollegen – auch die aber mit Spitzenschuhen an den Füßen.“ So selbstverständlich, so bereichernd kann identitätspolitischer Liberalismus sein.

Wer was tanzt, wie rassistisch, wie sexistisch der klassische Tanz ist – diese Fragen hat viele Choreografen in den letzten Jahren beschäftigt. Richard Siegal will jetzt auch noch wissen, ob auch die Form des Balletts von den Wertvorstellungen seiner Entstehungszeit, der kolonialistisch-patriarchalen Gesellschaft geprägt sein könnte. Kann eine Arabesque toxisch-reaktionär sein? Oder ist sie doch nur eine abstrakte Form?

Siegal beantwortet die Frage nicht, triggert aber die Frage, wenn die Tänzerinnen und Tänzer in einer Art „Stop-and-Go-Choreografie“ immer wieder im Tendu verharren, also mit einem nach vorn ausgestreckten Bein und spitz aufgesetzten Fuß. Eine Fundamentalpose des Balletts. Schon in seiner Vorform, dem höfischen Tanz, gibt es sie, schon König Ludwig XIV zeigt auf Abbildungen so sein bestrumpfhostes Bein. Und ja: Als Monarchenhaltung vorgeführt, scheint das Narzisstische des Systems wirklich bis heute in den Bewegungen eingefroren zu sein.

Ein Choreograf, der sich immer wieder neu erfindet

Richard Siegal ist ein Choreograf, der sich immer wieder neu erfindet, der Tanztheater ebenso ausprobiert wie Community Dance oder High-Tech-Performances. Aber am besten ist er doch immer, wenn er die Ideale der eigenen Zunft fleddert. Wie in „Xerrox Vol. 2“, das auch, wenn man nicht den ganzen intellektuellen Überbau bestaunen möchte, einfach ein absolut sehenswertes Stück ist. Grandios choreografiert und grandios gut getanzt vom Ballet of Difference.

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