Abo

Rollig-Stones-Sänger wird 75Mick Jagger ist das berühmteste Phantom unserer Zeit

Lesezeit 6 Minuten
5F99F20019D018BD

Mick Jagger im Jahr 1982 in München 

Zuletzt wurde Mick Jagger außer auf einer Bühne in Warschau beim WM-Aus der Engländer im Moskauer Fußball-Stadion gesichtet. Anschließend unkten die Fans, nicht seine, sondern die der Three Lions, dass er mal wieder gewissenlos Schicksal gespielt hat: Kommt Jagger ins Stadion, verliert das Team. Bemerkenswert war seine Anwesenheit in Moskau aber noch aus einem anderen Grund. Normalerweise, und je älter er wird, erst recht, bleibt sein öffentliches Erscheinen auf Konzerte der Rolling Stones beschränkt. Darüber hinaus lebt er weitgehend unsichtbar und versteckt. Mick Jagger ist das berühmteste Phantom unserer Zeit.

Seine Existenz ist paradox. Jagger darf als der Erfinder des Konzepts Rockstar gelten, und seit er 1962 die Bühne des Musikbusiness im Londoner Marquee-Club betrat, erfüllt er bis heute diesen Entwurf wie kein zweiter mit Leben. Er ist der Inbegriff des Casanovas, des sexuell unersättlichen Eroberers, er gilt als Rebell und nicht erst seit „Sympathy for the Devil“ braven Zeitgenossen als Bürgerschreck und leibhaftiger Gottseibeiuns. Und doch sind all diese Leistungen eines hochbegabten Selbstdarstellers wie weggewischt, wenn er seinen berühmten Mund aufmacht und nichts weiter als Banalitäten herauskommen.

Er könne sich an nichts erinnern, sagt er gern, um sich über sein Leben in Schweigen zu hüllen. Wie sein Biograf Philip Norman schreibt: Jagger hat alles erreicht, doch es zählt für ihn nicht. Bei aller Extrovertiertheit liebt er sein Privatleben und die Diskretion über alles. Oder um es mit dem Stones-Schlagzeuger Charlie Watts zu sagen: „Mick interessiert nicht, was gestern geschah. Er lebt ausschließlich fürs Morgen.“

Alles zum Thema Musik

Michael Philip Jagger wurde am  26. Juli 1943 in Dartford in der Grafschaft Kent geboren. Hier zeigt sich England von seiner idyllischen Seite, mit den Kreidefelsen, die aus dem Kanal aufragen, Wiesen, Hopfenfeldern und Obstbäumen. Die Beatles stammten zwar aus der Arbeiter- und Hafenstadt Liverpool auf der rauen anderen Seite der Insel, machten aber die weitaus melodiösere Musik – Jagger, der Frontmann der härtesten Rock’n’Roll-Band der Welt, wuchs im Garten Englands auf.

Kein Hinweis auf die spätere Skandalnudel

Auch sein Elternhaus gab keinen Hinweis darauf, das hier eine spätere Skandalnudel heranreifte. Vater Basil Fanshaw Jagger, den alle nur Joe nennen, war Sportlehrer, Mutter Eva Büroangestellte und dann Schönheitsberaterin. Sohn Michael war ein guter Schüler, später ging er als Student an die London School of Economics and Political Science, auch dies Ausdruck der durch und durch bürgerlichen Identität eines strebsamen Jungen.

In Jaggers Studentenzeit aber fällt jene Begegnung, die als eine Urszene, als mythischer Zufall, in Wahrheit also als Schicksalsstunde in die Annalen der englischen Popkultur eingegangen ist. Mick Jagger und Keith Richards hatten sich bereits einmal im Alter von sieben Jahren länger miteinander unterhalten, damals ging es um Cowboys und Gitarren. Nun warteten sie elf Jahre später 1961 in Dartford gemeinsam auf den Zug nach London, wo Richards Kunst studierte.

Mick hatte Schallplatten von Muddy Waters und Chuck Berry dabei, die Keith für wert befand, einen Diebstahl zu begehen. Stattdessen fachsimpelten die beiden über Bluesmusik: Die Geburtsstunde der neben Lennon und McCartney zweiten wichtigsten Kollaboration der Rock’n’Roll-Historie – der Glimmer Twins. Und letztlich war es auch die Geburtsstunde der Rolling Stones.

Werk eines begnadeten Rollenspielers

Vermutlich lässt sich alles, was ab dann geschah, vor allem als das Werk eines begnadeten Rollenspielers begreifen – eines Schauspielers, der Mick Jagger mit Auftritten in Filmen wie Nicolas Roegs „Performance“ ja auch ist. Denn dass der Siegeszug der Stones eine exzessive Skandalgeschichte darstellt, die von Drogenmissbrauch, Konflikten mit der Justiz, Sexsucht und Flegeleien handelt, das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite steht Mick Jagger, der Manager und Bürochef, der in den Räumen der 46a Maddox Street, nicht weit vom Piccadilly Circus, die Geschäfte regelt.

Als der Stones-Gitarrist Brian Jones 1969 tot auf dem Boden seines Swimmingpools lag und wenige Monate später ein Hell’s Angel einen Festivalbesucher in Altamont erstach, schien der Flirt der Band mit dem Teufel nur noch böse, schwarze Blüten zu treiben. Andererseits traute es sich Jagger zu, beim Gedächtniskonzert für Jones im Hyde Park aus „Adonais“ von Percy Bysshe Shelley zu lesen und die hysterisierten Menschenmassen wie ein Priester im Dienst der Poesie und der Trauer um Ruhe zu bitten.

Sechs Songs aus (fast) sechzig Jahren

Hier eine – streng subjektive – Hitparade mit epochalen Liedern der Rolling Stones, die Mick Jagger mit seiner charakteristischen Stimme interpretierte, manchmal prätentiös, oft handfest wie ein waschechter Bluessänger, der auch Gitarre und vor allem exzellent Mundharmonika spielt.

„Wild Horses“ – von der vielleicht besten Stones-Platte aller Zeiten, „Sticky Fingers“. Eine herzzerreißende Ballade mit einem todtraurigen Jagger, der seine „Graceless Lady“ voller Schmerz über gegenseitig zugefügte Schmerzen anschmachtet. Marianne Faithfull?

„Gimme Shelter“ – auf vielen Konzerten war dies der Augenblick, in dem Lisa Fischer aus dem Background-Chor an die Rampe kam und sich mit dem Stones-Chef ein Duett lieferte, das erotisch nur so loderte.

„Beast of Burden“ – von der letzten wirklich guten Stones-Platte, „Some Girls“ aus dem Jahr 1978. Jagger nölt soulig vor sich hin und will mal wieder nur das eine: „Make sweet love to me!“

„Jumpin’ Jack Flash“ – eines der besten Beispiele für das Rollenspiel, das Jagger eben auch Sänger beherrscht. Hier fantasiert sich der ehemalige Wirtschaftsstudent in eine Figur hinein, die im „Crossfire Hurricane“ geboren wurde.

„Tumbling Dice“ – die Entstehung des Songs in Villefranche-sur-Mer an der Côte d’Azur und Jaggers große Rolle dabei dokumentiert der Film „Stones in Exile“. Der Song ist rau wie das Meer und schaukelt doch ganz vorzüglich im Up-Tempo daher.

„(I Can’t Get No) Satisfaction“ – muss ja wohl sein. (F.O.)

Jagger, der Held des Untergrunds und der Jugendrevolte – Jagger, der Neureiche mit einer fast lächerlichen Verehrung für die Aristokratie, von Prinz Charles 2003 zum Ritter geschlagen. Sir Mick ist eben ein biopolares Wesen, ein einziges schillerndes Sowohl-als-Auch, ein wandelnder Widerspruch, der auch in Sachen sexueller Orientierung gerne offen ließ, ob er was mit David Bowie hatte oder nicht. Wenn er etwas wirklich liebt, dann sind es die Maskeraden, die Trugbilder und Chimären, hinter denen er sein Leben verbirgt.

Mick Jagger ein „Street Fighting Man“?

Mitunter wollte man ihn sogar in eine politische Führungsrolle drängen, aber ist er wirklich ein „Street Fighting Man“? Schwerlich, denn so großartig dieses Lied auch ist, es handelt sich wohl eher um einen schwachen Reflex auf die Anti-Vietnam-Demonstrationen am Grosvenor Square in London, die Jagger in seinem Songtext dann aber unter Verweis auf den König ins Überzeitliche, irgendwie Arthurianische zieht. Und außerdem: Was kann ein armer Kerl schon tun, außer in einer Rock’n’Roll-Band zu singen?

Vielleicht ist das die Essenz all dessen, was Jagger neben der Schauspielerei wirklich immer am liebsten war. Aller Kabbeleien mit Richards zum Trotz hat er die Rolling Stones bis auf den heutigen Tag über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg zu einem regelrechten Konzern ausgebaut. Manche bedauern die Gigantomanie, aber die Stadien sind ausverkauft. Nicht zuletzt der Sänger ist schließlich ein Denkmal. Das heute 75 Jahre alt wird.

KStA abonnieren