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Schall und Wahn

Lesezeit 4 Minuten
Räume wie Split-Screens im Kino – Szene aus Percevals Inszenierung

Räume wie Split-Screens im Kino – Szene aus Percevals Inszenierung

Vergiss die Vergangenheit, fordert James Tyrone (André Jung) seine Frau Mary (Astrid Meyerfeldt) auf. Aber die kann nicht vergessen. Niemand kann hier, in Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, irgendetwas vergeben oder vergessen. „Wie könnte ich das?“, antwortet Mary Tyrone ihrem Mann. „Die Vergangenheit ist doch die Gegenwart, nicht wahr? Und auch die Zukunft. Daran wollen wir uns alle vorbeimogeln, aber das lässt das Leben nicht zu.“

Und auch nicht die Regie: Luk Perceval hat die Tyrones — zum Ehepaar kommen die beiden erwachsenen Söhne Jamie (Seán McDonagh) und Edmund (Nikolay Sidorenko) — im Depot 1 des Schauspiel Köln in fünf kahle Zimmer gesperrt, hell erleuchtete weiße Räume, aufgereiht wie Split-Screens auf der Cinemascope-Leinwand. Oder wie Dioramen im Museum für dysfunktionale Familien (Bühne: Philip Bußmann). Türen gibt es keine, nur Auf- und Abgänge, ein Seitenfenster, eine Bodenluke. Die Familienmitglieder agieren in der Einzelhaft des eigenen Unglücks. Selbst wenn sie sich zusammen in einem Raum aufhalten, Vorwurf auf Gegenvorwurf häufen, stehen sie zumeist mit dem Angesicht frontal zum Publikum, wie ausgestellt.

Dazu kommt der eigentliche Kunstgriff der Inszenierung: Perceval lässt einen Großteil der detailversessenen O’Neill’schen Regieanweisungen von der russischen Schauspielerin Maria Shulga in den Mikroport sprechen, ja, sie flüstert fast, während sie auf einem Klavier zögerlich unerlöste Akkorde anschlägt. Shulga spielt die Saisonkraft im Sommerhaus, das Dienstmädchen Cathleen, die Einzige, die nicht in den Strudel der Schuld gerät, der die Tyrones zu verschlucken droht. Von ihr erfahren wir etwa, dass Marys nervöse Hände, einst schön, jetzt vom Rheuma verkrüppelt, nie stillstehen. Was Astrid Meyerfeldt folglich nicht mehr spielen muss, es ist ja gesagt und steht somit im Raum.

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Die Einflüsterungen befreien das Ensemble vom psychologischen Realismus der Vorlage und die endlose, anklagende, ausweichende Rede aus ihrem spezifischen Milieu, legen das ursprungslose Unglück der Familie Tyrone frei. Denn wo hat es angefangen? Mit Marys Alkoholiker-Vater? Mit James’ unstetem Leben als Schauspieler? Mit seiner Pfennigfuchserei, die ihn stets den billigsten Arzt konsultieren lässt, so auch den, der Mary ans Morphium gebracht hat? Und wer hat Schuld am Kindstod Eugenes? Der junge Jamie, der an den Masern erkrankt war und trotz ausdrücklichen Verbots das Zimmer seines kleinen Bruders betrat? Mary, die ihre Kinder bei der Großmutter zurückließ, um ihrem Mann auf Tournee zu folgen? James, der sie darum gebeten hat? Oder auf paradoxe Weise gar der nachgeborene Edmund, der die Trauer seiner Mutter lindern sollte, dessen Geburt diese jedoch erst an die Nadel gebrachte?

O’Neill hat hier bekanntlich den eigenen Familienroman unters Mikroskop gelegt, den Namen des toten Bruders mit seinem eigenen vertauscht. Mag sein, dass „Eines langen Tages“ eben deshalb nichts von seiner Wahrhaftigkeit eingebüßt hat. Das Stück zeigt in schmerzhafter Nähe die Geschichte einer ganz bestimmten Familie, aber jeder kennt diese Dynamiken. Letztlich ist „dysfunktionale Familie“ nur ein Synonym für „Familie“.

Man erkennt den aufgesetzt-aufgeräumten Ton, den James und Mary zu Anfang einschlagen. Sie ist erst vor kurzem aus der Entziehungskur zurückgekehrt, aber gleich rückfällig geworden. Der jüngste Sohn ist offensichtlich schwer krank, Mary tut es als Sommergrippe ab. Es wird Komödie gespielt. Noch klingen Jung und Meyerfeldt, als spielten sie in einer Boulevardkomödie, kurz darauf wird Jung trunken die Treppe hinauftorkeln, virtuos aber höchst theatralisch seine Stimme schleifen lassen: Er spielt einen alkoholkranken Schauspieler, der eine Bravourvorstellung als Betrunkener gibt. Die davon ablenken soll, dass man ihm seinen Alkoholpegel längst nicht mehr anmerkt. Und Meyerfeldt überdreht zusehends, immer spitzer werden die Lacher, immer flatterhafter die Bewegungen, irgendwann titscht sie Wand zu Wand wie ein hospitalistisches Tier im zu engen Käfig.

Dann gießt es aus Strömen, doch der Regen reinigt nichts, er bringt nur Nebel. Nach der Pause geht die Fahrt immer tiefer ins Herz der Finsternis, die Schauspieler dringen ins Dickicht menschlicher Verwerfungen vor, es gibt grandios-intime Szenen zwischen Edmund — der inzwischen von seiner Krebsdiagnose erfahren hat — und seiner halb betäubten Mutter und auch eine mitreißend-verstörende Aussprache zwischen ihm und seinem Vater. Die Vorwürfe brechen dabei aus Nikolay Sidorenko hervor wie Eruptionen aus einem lange schlafenden Vulkan. Der große Ausbruch bleibt indes seinem Bruder Jamie vorbehalten, der volltrunken eine Treppe hinunterstürzt, so wie zuvor sein Vater im Spiel eine hinaufgetorkelt war. Aber ihm ist es bitterer Ernst. Seán McDonagh sprechwürgt seine Selbstanklage am Rande der Verständlichkeit. Es ist ein Moment schauspielerischen Exzesses, aber ein wohlverdienter. Der Sarkasmus, mit dem Jamie seinen Verwundungen zuvor eine Form gab, ist nun weggespült, es bleiben Schall und Wahn.

Luk Perceval und sein großartiges Ensemble haben hier nicht nur einen etwas in Vergessenheit geratenen Klassiker entrümpelt, sie haben ihn in seinen Abgründen, seiner Wut und seinem wilden Humor zum Singen gebracht. Phänomenaler Abend.

STÜCKBRIEF

Regie: Luk Perceval Bühne: Philip Bußmann Kostüme: Katharina Beth Licht-Design: Mark van Denesse Mit: André Jung, Astrid Meyerfeldt, Seán McDonagh, Nikolay Sidorenko, Maria Shulga Termine: 12., 14., 15., 29.12., Depot 1, 190 Minuten, eine Pause

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