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Schauspiel KölnLohnt sich Frank Castorfs aufreibender Sechs-Stunden-Abend?

Lesezeit 5 Minuten
Lilith Stangenberg (l.) und Sophia Burtscher in der Opiumhölle

Lilith Stangenberg (l.) und Sophia Burtscher in der Opiumhölle

  • Der Regisseur Frank Castorf und sein fiebrig-aufgekratztes Ensemble stürzen die Zuschauer in einen Wortstrudel, der zuerst jeden Sinn zu zermalmen droht.
  • Das seltsame Stück sind tatsächlich gleich vier Stücke und der einzige Roman des Autors Carl Sternheim, zusammengefasst unter dem Titel „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“.
  • Selten wirkte das deutsche Streben nach Erhabenheit lächerlicher als in dieser Inszenierung.

Köln – „Seltsames Stück“ raunt der Premierenbesucher seiner Gattin im Depot 1 des Schauspiel Köln zu. „Verstehst Du was?“ Das seltsame Stück sind tatsächlich gleich vier Stücke, nämlich jene Lustspiele und satirischen Dramen – „Die Hose“, „Der Snob“, „1913“ und „Das Fossil“ – in denen der Autor Carl Sternheim Aufstieg und Fall der Familie Maske vom Deutschen Reich bis zur Weimarer Republik verfolgt hat, zusammengefasst unter dem Titel „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“.

Und Frank Castorf, dieses höchst vitale Fossil des exzessiven Regietheaters, wirft dazu noch Sternheims einzigen Roman, „Europa“, mit in die wilde Mixtur. Denn selbstredend reiht sich bei Castorf nicht einfach Stück an Stück. Vielmehr finden sie alle mehr oder weniger gleichzeitig statt, reiben sich als herausgeschlagene Textbrocken aneinander, bis sie Funken sprühen. Nebenbei hatte bereits Sternheim keinen Wert auf eine nachvollziehbare Chronologie gelegt: Der Sohn, der in „Die Hose“ gezeugt wird, ist im nur zwei Jahre darauf spielenden „Der Snob“ bereits Mitte 30. Sternheims „Maske“-Stücke sind weniger Familienchronik als Maskenspiele, die das deutsche Bürgertum demaskieren sollten.

Fiebrig-aufgekratzes Ensemble

Und so stürzen Castorf und sein fiebrig-aufgekratztes Ensemble die Zuschauer in einen Wortstrudel, der zuerst jeden Sinn zu zermalmen droht. Gleich der Anfang gerät zur Nagelprobe: Lilith Stangenberg – der letzte große Star, den die Berliner Volksbühne hervorgebracht hat – windet sich im verrutschenden roten Trikot auf einem Hocker, hinten links an der Bar des heruntergekommenen und dennoch spektakulären Ballsaals mit seinen erblindeten Spiegeln und dem abblätternden Putz, den Aleksandar Denic über die ganze Länge der Halle gebaut hat.

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Stangenberg ist, beziehungsweise spricht Europa, genannt Eura, die Tochter eines Kunsthändlers aus Amsterdam, die im Fin de Siècle den alten Kontinent durchkreuzt, auf der Suche nach der neuen Zeit, nach erotischen und sozialrevolutionären Aufbrüchen. Text und Figur scheinen Stangenberg gleichsam zu durchpulsen, eine Kamera überträgt ihren rhetorischen Erregungszustand im Close-up auf eine herabgelassene Leinwand: Sie ist eine Schamanin der Ideen.

Dazu erklingt vom Live-Piano (Marlies Debacker, die später auch noch ihren eigenen Monolog bekommt) und vom Band eine Art kosmischer Bar-Jazz, der den Stangenberg’schen Wortfluss immer wieder in reinen Sound zu verwandeln droht.

Schließlich gilt es weniger zu verstehen, als mit hochgerafften Hosen in diesen Fluss zu steigen, sich mitreißen zu lassen, und damit auch auf die Gewissheit zu verzichten, dass man Weg und Ziel bereits im Vorhinein kennt.

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Erst nach einer Dreiviertelstunde scheint das Drama im Sinne eines nachvollziehbaren Plots dann endlich loszugehen, die Schauspieler stürmen den Ballsaal, errichten eilig eine Miniszenerie mit Badewanne aus wackeligen Papierwänden, während ein roter Vorhang den Blick auf die Bühne versperrt.

Aber was geht hier eigentlich los? Sophia Burtscher und Sabine Waibel stoßen wie unter Qualen im Chor weitere Passagen aus (vermutlich) „Europa“ aus. Melanie Kretschmann verliert als Luise Maske pflichtschuldigst ihren grünen Slip, doch die sich anbahnende Farce (in diesem Fall „Die Hose“) wird sogleich von Bruno Cathomas unterbrochen, der als kaiserlicher General a. D. im Befehlston die Sternheim’schen „Satzschrappnellen“ (heißt es treffend im Programmheft) aus dessen spätem Stück „Das Fossil“ belfert – „Blutwallung auf! Du, Blitz rüber! – und dabei auch die geheimen Gedanken des Publikums paraphrasiert: „Niemand hat etwas verstanden. Castorf sauer!“

Es läuft prächtig

Dazu gibt es jedoch gar keinen Grund. Es läuft prächtig. Bald schon verfällt zuerst Nikolay Sidorenko als wildgewordener Spießbürger Theobald Maske, dann das gesamte Ensemble in den allergröblichst imitierten Ossi-Akzent, skandiert stramm „AfD, AfD!“, während auf der Leinwand Siegfrieds Kampf gegen den lustig animierten Drachen aus Fritz Langs „Nibelungen“-Stummfilm läuft. Selten wirkte das deutsche Streben nach Erhabenheit lächerlicher als bei Castorf.

Freilich erschöpft sich der Abend nicht in der Satire oder im bloß Grotesken: Wenn Peter Miklusz als kapitaler Emporkömmling Christian Maske mit seinen Eltern und seiner Geliebten abrechnet, um sie anschließend kalt abzuschieben, oder, später, in einem anderen Stück, Seán McDonagh als sein Sekretär dem Kapitalismus ab- und die völkische Nation beschwört, läuft es einem kalt den Rücken herunter.

Ihre höchsten Intensitäten aber erreicht die Inszenierung immer dort, wo sich die Akteure auf den vom Parkett nicht einsehbaren Balkon, hier Opiumhölle genannt, zurückziehen und ihre sich immer weiter hochschraubenden Dialoge in schmerzhaft nahen Filmbildern aus verzerrten Perspektiven übertragen werden: Burtscher im gefiederten Lido-Kostüm und Stangenberg mit angeschnallten Adlerschwingen, eine lesbische Amour fou, anstelle eines Liebesaktes die großen Zeitläufte der europäischen Geschichte analysierend.

„Europa war tot”

Oder Stangenberg und Sidorenko, ganz nackt, spielerisch verzweifelend, von Südseefluchten träumend und vom kommenden Krieg, vom zerstörerischen „Trieb reinen Lebens“.

„Europa war tot“ heißt es zum Ende dieses gewaltigen, nervenaufreibenden und ach so wunderbaren Sechstundenabends, „und der Weltraum sehr dunkel.“ Aber das Schauspiel Köln und sein Ensemble strahlten selten heller. Und Frank Castorf? Ist in seinem 68. Jahr in der Form seines Lebens.

Stückbrief

Regie: Frank Castorf

Bühne: Aleksandar Denic

Kostüm: Adriana Braga

Peretzki

Video: Andreas Deinert

Soundtrack: William Minke

Mit: Sophia Burtscher, Bruno Cathomas, Melanie Kretschmann, Seán McDonagh, Peter Miklusz, Nikolay Sidorenko,

Lilith Stangenberg, Sabine

Waibel, Marlies Debacker,

Guillermo Malfitani, Horst Sommerfeld

Termine: 24. Januar, 7., 9., 29. Februar, Depot 1, 5 Stunden 50 Minuten, eine Pause

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