Schauspiel KölnJörg Ratjen begeistert Zuschauer in Köln in zahlreichen Rollen

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Jörg Ratjen spielt seit 2013 am Schauspiel Köln.

Jörg Ratjen spielt seit 2013 am Schauspiel Köln.

Köln – Wann kommt einem schon mal so eine Figur über den Weg gerannt wie Peer Gynt? Jörg Ratjens Frage ist eine rhetorische. Die Antwort lautet wohl: so gut wie nie. Ein ewig Rastloser, so prall mit Leben, mit Sinnsuche und Selbsttäuschung angefüllt, dass häufig zwei bis drei Schauspieler die Rolle besetzen.

Wenn aber Stefan Bachmann am kommenden Freitag mit Ibsens dramatischem Gedicht die Spielzeit am Schauspiel Köln eröffnet, darf Ratjen den ganzen Gynt spielen – vom Bauernburschen bis zum Greis. Ein Geschenk sei das, sagt Ratjen, mit dem er nicht unbedingt gerechnet habe.

„Ich verliere mich gern in Geschichten“

Warum er es bekommen hat, können Kölner Theaterzuschauer leicht beantworten. Man muss sich nur anschauen, wie er etwa in „Adams Äpfel“ den verzweifelt optimistischen Pfarrer gibt, ihn zugleich als von schwersten Schicksalsschlägen Gebeutelten und als übergriffigen Bekehrer spielt, diese Hiobs-Figur immer an der Grenze zur Psychose balanciert.

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Bereits im fünften Jahr ist der gebürtige Bremer im Bachmann-Ensemble, hat vergangenes Jahr sogar seine Zelte in Wien abgebrochen, wo er als Dozent am Max-Reinhardt-Seminar lehrte. „Ich habe mich dabei ertappt, dass ich nicht mehr auf der Flucht bin.“

Jahrelang sei genau das der Fall gewesen, Ratjen spielte unter anderem in Dortmund, am Thalia Theater Hamburg, am Münchner Residenztheater und an der Burg, rastlos wie Peer Gynt. „Ich habe mich von frühester Kindheit an geflüchtet“, sagt er. Den Schauspielerberuf habe er fast unbewusst gewählt. „Wenn ich mich mit Rollen beschäftige, heißt das, dass ich mich nicht mit mir selber beschäftigen muss. Ich verliere mich gerne in Geschichten.“ Warum? „Weil da keiner rankommt.“

Die einfachen, netten Rollen seien nichts für ihn

Noch jetzt könne er sich, obwohl Jahrgang 1963, am leichtesten mit dem jungen Peer Gynt identifizieren: „Das Jungenhafte ist mir nah. Und beim jungen Peer fühle ich etwas, was ich gut kenne. Ich meine bei mir damit eine große Verlorenheit in der Jugend. Und bei Peer zum Beispiel bewirken es die schlechten Umstände. Der Vater hat alles vertrunken, seine Mutter missbraucht ihn auf eine Art als Vaterersatz, er selbst gilt unter den Dorfbewohnern als ganz arme Sau.“ Bleibt die Flucht in Geschichten.

Das „Großmaulartige“ von Ibsens Antihelden geht Ratjen allerdings völlig ab, und man kann sich kaum vorstellen, dass das in jüngeren Jahren sehr viel anders gewesen ist. Der strahlende Held, der nette Schwiegersohn – das war nie sein Ding. Das sei einfach nicht seine Ausstrahlung, und das Posieren liege ihm auch nicht. Zuletzt hat Jörg Ratjen in Köln den Hans Schnier in der Dramatisierung von „Ansichten eines Clowns“ gespielt. Das sei auch so einer, der sich um sich selbst dreht, während die Zeit an ihm vorbeirast. „Man möchte dem Schnier die ganze Zeit zurufen: Komm in die Puschen. Bring deine Intelligenz in irgendeine politische Initiative ein“, sagt Ratjen.

Durchweg gute Kritiken

Und trotzdem habe er durchaus Gemeinsamkeiten mit dem Böll’schen Beschwerdeführer bei sich entdeckt: „Ich kenne das, dieses Anklagen und nicht wieder aufhören. So eine seelische Buchhalterei. Aber solche großen Rollen sind immer eine Unterhaltung zwischen mir und der Figur. Es geht nicht darum, mich darzustellen, aber ich bediene mich meiner eigenen Lebensinhalte. Ich bezahle mit mir selbst.“

Die Premierenkritiken für den „Clown“ fielen so einhellig positiv aus, wie er das noch nie erlebt habe. Doch bei der zweiten Vorstellung sei das Publikum wie eine Mauer gewesen. Obwohl Ratjen in der Inszenierung als Schnier immer wieder um die Gunst und den Zuspruch der Zuschauer wirbt. Einer, den er direkt angesprochen hat, habe schlicht überhaupt nicht reagiert. „Du, der hat überhaupt nicht mit mir gespielt“, wandte sich Ratjen/Schnier anschließend an eine Kollegin. Was von außen betrachtet ein schöner Moment gewesen sein muss. „Aber ich“, sagt Ratjen, „war etwas fassungslos.“

Zum Stück

„Peer Gynt“ feiert am 22. September seine (ausverkaufte) Premiere im Depot 1 des Schauspiel Köln. Stefan Bachmann hat Ibsens dramatisches Gedicht übrigens rein männlich besetzt.

Weitere Termine: 23. September; 1., 7., 8., 17., 28. Oktober

Woraufhin ihm die Dramaturgin den gesamten positiven Pressespiegel schickte. Das müsste sein Selbstbewusstsein doch gestärkt haben? „Ach, nein, nicht wirklich.“ Freilich ist Ratjen ein viel zu intelligenter Schauspieler, als dass er seine Figuren verraten würde, nur um ein bisschen mehr Applaus einzuholen. Und doch, sagt er, seien die Rollen, die ihm wirklich viel bedeuten, solche wie der Maikäfer in „Peterchens Mondfahrt“ oder Riff-Raff in der „Rocky Horror Show“. „Wenn das dann so kleine Beatles-Konzerte werden, wo die Kinder einem zujubeln. Es gibt Rollen, die machen ein bisschen mehr Weite.“

Peer Gynt, diesem Nichtsnutz, Schürzenjäger und Sklavenhändler, mag man zwar als Person nicht applaudieren, doch eine Rolle mit mehr Weite kann man sich kaum vorstellen. „Jeder Mensch wird auf seine Lebensreise geschickt“, sagt Ratjen, „und dem Peer Gynt können wir stellvertretend für alle Menschen an einem Abend zugucken, wie er sich sucht, sich auslebt, wie er über die Ränder des Möglichen hinaus agiert.“

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