Schauspieler Ulrich Tukur im Interview„Jeder darf ein Buch schreiben, auch ich”

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Ulrich Tukur

Ulrich Tukur

  • Als Kommissar Murot ist Ulrich Tukur am Sonntag im „Tatort” zu sehen. Wie lange will er die Rolle des Kommissars noch spielen?
  • Und wie kam es zu seinem Debütroman „Der Ursprung der Welt”?
  • Ein Gespräch über schreibende Schriftsteller und langweilige Dreharbeiten.

Herr Tukur, Sie haben mit „Der Ursprung der Welt“ gerade Ihren ersten Roman veröffentlicht. Wie kamen Sie auf die Idee, haben Sie wie ihr Protagonist ein altes Fotoalbum gefunden?

Sie haben es erraten! Ich habe 2008 einen Film in Frankreich gedreht, „Séraphine“, über den Galeristen und Schriftsteller Wilhelm Uhde, der seine malende Putzfrau zu einer berühmten Vertreterin der naiven Kunst machte. Nach Drehschluss hat mir der Requisiteur ein Fotoalbum aus den 1920er Jahren geschenkt. Darin waren dutzende Fotos eines eleganten, gut aussehenden jungen Mannes enthalten, ohne jede weitere Angabe. Und ich dachte mir, es müsste doch ganz reizvoll sein, die Geschichte eines Menschen zu schreiben, dessen äußere Erscheinung alles ist, was du von ihm weißt. Im Hintergrund eines der Bilder sah ich ein Haus, das ein bisschen der alten, verwunschenen Villa meiner Großmutter ähnelte, in der ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte. Und all die staubigen Kindheitserinnerungen kamen zurück. Schließlich fiel mir noch der Name Goullet ein, das war das Dichter-Pseudonym meines Patenonkels Paul Götz. So kam eines zum anderen, und die Geschichte nahm ihre Fahrt auf.

Und schon stand Ihr Protagonist vor Ihnen.

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Ja, und es wurde die Geschichte eines jungen Mannes, der an einem Bouquinisten-Stand in Paris ein altes Fotoalbum findet und sich zu seinem Schrecken darin selbst erkennt. Er fühlt sich nicht in dieser Welt und dockt auch nicht an seine Familie an. Auf der Rückseite einer der Fotografien entdeckt er eine Ortsangabe und begibt sich auf eine Reise in den Süden Frankreichs, um herauszufinden, wer er wohl einmal war. Aber die Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt endet unvermittelt in einem Albtraum.

Verspüren Sie auch diese Sehnsucht? Und diesen Abgrund?

Ich lebe gerne in anderen Zeiten und fantastischen Räumen. Aber ich weiß natürlich, dass die Welt vor 100 Jahren für die Menschen damals auch nur bedrängende Gegenwart war, und die goldenen 1920er Jahre für sie nicht so glänzten wie für uns heute. Aber vielleicht bestand ein anderer Wille zur Schönheit, zum Stil. Als Europa im Inferno des Zweiten Weltkriegs versank, im Herbst 1939, hatte die Herren- und die Damenmode das Maximum an Eleganz erreicht. Fabelhaft gekleidet ging es in den Untergang. Schönheit und Grauen existieren immer gleichzeitig nebeneinander.

Was floss noch aus Ihrem eigenen Leben in den Roman mit ein, beziehungsweise in Paul Goullet?

Wie Goullet fühle ich mich in der sogenannten Wirklichkeit nicht wohl und habe mir andere Räume geschaffen. Der malende Großvater ist mein Großvater, er lebte als Kunstmaler auf Sardinien, allerdings ohne politische Agenda. Mit seinen Gemälden bin ich aufgewachsen. Der klavierspielende Vater ist ein Onkel von mir, der Mathematikprofessor in Tübingen war. In weiten Teilen ist Goullet aber eine fiktive Gestalt.

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Sie haben zuvor bevor einen Band mit Erzählungen und eine Novelle veröffentlicht. Sie haben also einen langen Anlauf genommen…

… ja, ich habe mich vorsichtig an das Opus Magnum herangetastet, den Roman. Tatsächlich hat sich die ganze Geschichte aus sich selbst heraus entwickelt, ohne gesetzte Struktur. Mir war aber klar: Wenn ich einen fantastischen Roman schreibe, dann muss er realistisch erzählt werden, sonst wird der Leser diese Reise nicht mitmachen. Also brauchte ich viele stimmige und wahrhaftige Details. Ich musste recherchieren. Und stieß dabei auf die Gestalt des Serienmörders Marcel Petiot, einer der unheimlichsten Figuren der französischen Kriminalgeschichte. Er ist das Vorbild für Goullets Doppelgänger oder Vorläufer.

Und Sie sind zu den Schauplätzen der Handlung nach Südfrankreich gereist?

Ich bin nach Südfrankreich gereist, an die Côte Vermeille, wo ein Großteil der Handlung spielt. Ich bin mit meiner Frau über die Pyrenäen gewandert, auf der alten Fluchtroute, über die viele verzweifelte Menschen aus dem besetzten Frankreich in die Freiheit geflohen sind. Franz Werfel, Heinrich Mann, aber auch Walter Benjamin ...

… der einen kurzen Gastauftritt im Roman hat.

Ja, er kommt in der Geschichte als Professor vor, der Fluchthilfe in Anspruch nimmt und sich verzweifelt an seine Aktentasche klammert. Sie verschwand im Übrigen schon am nächsten Tag auf geheimnisvolle Weise, als er sich im spanischen Küstenstädtchen Portbou das Leben nahm.

Sie haben ja noch einen Hauptberuf, oder zwei, zählt man die Musik dazu. Wann haben Sie denn geschrieben?

Ich habe viel zwischen Tür und Angel geschrieben. Dreharbeiten sind oft sehr langweilig, müssen Sie wissen. Man wird fürs Warten bezahlt, den Rest macht man umsonst, sagen wir. Man scharrt mit den Füßen, raucht Zigaretten und trinkt Unmengen Kaffee. Sehr ungesund. Also fing ich an zu schreiben, nutzte die Betriebstemperatur und füllte die langen Pausen mit meinem literarischen Abenteuer. Immer wieder dachte ich, es hätte mich verrannt oder vor die Wand geschrieben, aber...

Aber es geht ja alles ganz wunderbar auf. Sie müssen doch einen Plan gehabt haben?

Einen Plan schon, aber keine Zettel an der Wand. Ich wollte die beiden Handlungsstränge, den von 2033 und den von 1943 am Ende zusammenführen, um die Geschichte zu einem explosiven Ende zu bringen. Ich wollte über den Widerstand gegen totalitäre Systeme der nahen Zukunft schreiben, die sich im Widerstand vergangener Zeiten spiegeln. Ich wollte etwas schreiben, das es vielleicht so noch nicht gegeben hat: Zwei Personen, 90 Jahre voneinander getrennt, die eigentlich zusammengehören und eins sind, treiben die Handlung voran, und ihrer beider Geschichte ist mittels Plot, Traum, Erinnerung und Vision miteinander verbunden. Das war etwas riskant, ich glaube aber, es funktioniert sehr gut und ist äußerst reizvoll. Wir befinden uns in Räumen ohne zeitliche Dimension.

Sie stellen sich ja bewusst in die Tradition der schwarzen Romantik: Es gibt Doppelgänger, ahnungsvolle Träume...

Ja, E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe sind die großen, unerreichten Vorbilder. In dieser Tradition würde ich mich gerne sehen wollen. Das war die Literatur, mit der ich als Kind in im dunklen Haus meiner Altvorderen groß wurde. Spukgeschichten, Heldensagen, Volksmärchen und Gedichte.

Ich habe beim Doppelgängermotiv auch an die „Tatort“-Folge gedacht, in der Sie als Schauspieler Ulrich Tukur ihrem fiktionalen Kommissar begegnen.

Ja, der war lustig. Ich bin mit dem Regisseur Bastian Günter und einer verrückten Idee zur Redaktion des HR gegangen. Wir wollten einen Film machen, in dem sich die Rolle vom Schauspieler trennt und ihrer eigenen Wege geht. Die haben sofort angebissen. Ich bin froh, einen solchen Sender gefunden zu haben.

Sie spielen den Kommissar Felix Murat also weiter?

Ich denke schon. Wir sollten so lange weitermachen, wie wir noch Haken schlagen können und dürfen und man uns nicht auf die Schliche kommt.

Sie erwähnten die drögen Drehpausen. Nun sind Sie ja nicht der einzige Schauspieler, der zurzeit ein Buch herausbringt. Spüren Sie da einen Rechtfertigungszwang?

Jeder darf ein Buch schreiben, auch Axel Milberg, Matthias Brandt und ich. Wir haben ein Anrecht darauf, beurteilt zu werden für das, was wir geschaffen haben und nicht dafür verurteilt zu werden, dass wir als Künstler einer anderen Sparte die unerhörte Frechheit besitzen, auf verbotenem Terrain zu wildern. Missgunst, Neid und Kleinkariertheit ziehen sich in unserem Land bis hinauf in die höchsten Etagen der Feuilletons.

Zur Person

Ulrich Tukur, geb. 1957, ist das Multitalent unter den deutschen Theater- und Filmschauspielern. Er gab 1982 sein Filmdebüt in Michael Verhoevens „Die weiße Rose“, gehörte zum Ensemble des Regisseurs Peter Zadek, er singt, schreibt Bücher und ist seit 2010 als Ermittler Felix Murot im hessischen „Tatort“ zu sehen.

Sein erster Roman „Der Ursprung der Welt“ (304 Seiten, 22 Euro) ist im S. Fischer Verlag erschienen. An diesem Sonntag (ARD, 20.15 Uhr) wird die neueste „Tatort“ Folge mit Tukur als LKA-Fahnder Murot ausgestrahlt. (ksta)

Wem vertrauen Sie im Schreibprozess?

Meiner Frau. Sie war mein Ratgeber und Sparringspartner. Als ich vor einigen Jahren „Ein fliehendes Pferd“ nach einer Novelle von Martin Walser mit Rainer Kaufmann drehte, kam der Autor eines Tages zum Drehort. Damals schrieb ich gerade an einem Erzählband über Venedig. Ich habe ihn gefragt: Wie schreiben Sie denn eigentlich, Herr Walser? Und er hat was ganz Tolles gesagt: „Schreiben ist wie Singen mit geschlossenem Mund. Ich habe beim Schreiben immer eine Melodie im Kopf, erst wenn die Melodie da ist, der Ton, kann ich schreiben.“ Ich vertraue beim Schreiben sehr auf den Ton, den ich in mir höre.

Kommen wir noch einmal zu den politischen Implikationen: Der Roman spielt 100 Jahre nach der „Machtergreifung“ der Nazis. Das Bild, dass Sie von Europa zeichnen ist ein denkbar düsteres.

Ja, und dieses Bild ist leider nicht aus der Luft gegriffen. Indem ich die Dinge so beschreibe, hoffe ich, dass sie anders eintreten.

Ein Bannzauber!

Genau. Aber bleiben wir realistisch. Jede Gesellschaft ist so fragil wie ein menschlicher Körper. Wir genießen seit 75 Jahren Frieden und Wohlstand und denken, das sei von Gott gegeben und wird immer so bleiben. Die Geschichte lehrt uns aber, wie schnell alles wieder verschwindet, auch eine Demokratie.

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