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Star der Kölner Castorf-Inszenierung„Politische Correctness ist das Ende der Kunst”

Lesezeit 7 Minuten
Lilith Stangenberg

Lilith Stangenberg in Frank Castorfs Inszenierung „Aus dem bürgerlichen Heldenleben" am Schauspiel Köln 

  • In Frank Castorfs Inszenierung von „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ verkörpert die Schauspielerin Lilith Stangenberg, Star an der Berliner Volksbühne, einen ganzen Roman.
  • Das sei Leistungssport, sagt Stangenberg. Auf der Kölner Bühne sei sie wie im Rausch.
  • Ein Gespräch mit der Fachfrau für extreme Rollen.

Köln – Lilith Stangenberg, Sie sind zurzeit am Schauspiel Köln in Frank Castorfs „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ zu sehen. Wissen Sie noch, in wie vielen seiner Inszenierungen Sie mitgespielt haben?

Soll ich zählen? Die elfte ist es, plus die eine oder andere Übernahme, bei der ich für erkrankte Kollegen eingesprungen bin.

Hat sich ihre Zusammenarbeit seit dem Ende der gemeinsamen Zeit an der Volksbühne verändert?

Alles zum Thema Film und Fernsehen

Die Volksbühne war ein ganz besonderer Ort, an dem man unter eigenen Bedingungen arbeiten konnte. Castorfs Geist, wie so ein Heckenschütze der Kultur, hatte sich dort überall verbreitet. Aber die letzten drei Produktionen, die ich mit ihm gemacht habe – „Der haarige Affe“ am Hamburger Schauspielhaus, „Hunger“ in Salzburg und jetzt die Kölner Inszenierung – waren für mich sehr kraftvolle Arbeiten. Spielst du in einem festen Ensemble, wird dir oft eine feste Rolle zugeschrieben, wie in einer Familie. Wird man dagegen ins freie Wasser geworfen, führt einen das in der gemeinsamen Arbeit auch anders zusammen. Besonders in Köln habe ich gespürt, dass die eigenen Wege, die ich in den letzten zwei Jahren gehen musste, mein Bewusstsein verändert haben.

Haben Sie jemals daran gedacht, an ein anderes Haus zu wechseln?

Ich war seit meinem 20. Lebensjahr fest engagiert. Ich hatte eine Sehnsucht, frei zu sein, wollte Filme drehen. Aber als es dann wirklich vorbei war mit der Volksbühne, bin ich doch in ein Loch gefallen und habe mich sehr danach zurückgesehnt.

Was macht die Freiheit so schwer?

Die Flaute. Dass man mal drei Monate lang nichts zu tun hat. Aber gucken sie sich mal große Künstlerbiografien an: Luis Buñuel hat zehn Jahre lang keinen Film gedreht und musste in New York Teller waschen, obwohl er in Mexiko ein Star gewesen war. Heute eifern alle einer Karriere nach. Da kriegt man sofort Angst vor dem Nichtbeschäftigtsein. Will man den Weg in die Kunst wagen, gehört es aber dazu, so etwas auszuhalten. Das kann einen nur weiter radikalisieren.

Ginge es nur um die Miete, könnten Sie auch im Fernsehen spielen, aber da sieht man Sie selten.

Bis jetzt habe ich (klopft auf Holz) noch nie etwas des Geldes wegen gemacht. Ich verurteile niemanden, der das macht. Ich bin einfach verwöhnt darin, die Sachen hinzukriegen, die ich unbedingt machen will. Gerade habe ich in Los Angeles eine Neuinterpretation des Filmes „Der Nachtportier“ mit dem Künstler Paul McCarthy gedreht. Eine sehr verrückte Erfahrung, das war acht Wochen Sodom und Gomorrha. Aber für Mainstream-Kultur fängt mein Herz nicht an zu flimmern.

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Wenn Castorf anfragt, wollen Sie zuerst wissen, worum es geht, oder sagen Sie sofort zu?

Ich habe dieses Jahr furchtbar viel gearbeitet. Fast durchgängig gedreht, die „Lulu“ gemacht, ich hatte nicht eine Woche frei. Vom September bis Dezember habe ich in so einer riesigen Sky-Serie mitgespielt. Die Anfrage für Köln kam erst zwei Wochen vor Probenbeginn im November. Hätte mich da jemand anders gefragt, hätte ich gesagt, ich kann nicht mehr. Da habe ich gemerkt, wie groß meine Leidenschaft für diesen Regisseur ist. Ich habe sofort versucht, alles dafür möglich zu machen. Also Ihre Antwort: Wenn Castorf fragt, frage ich nicht was für eine Rolle oder was für ein Stück das ist. 

Castorf traut sich ran

In Köln spielen Sie aber eine ganz besondere Rolle, die der „Europa“, der Hauptfigur aus Carl Sternheims einzigen Roman.

Das ist doppeltes Glück, wenn einem die Figur auch so viel sagt. Castorf ist ein Schauspielerregisseur. Es gibt gar nicht so viele Regisseure, die wissen, wie man mit einem Schauspieler und dem Körper eines Schauspielers umgeht. Die sich da rantrauen.

Wie bereitet man sich auf so eine Wahnsinnsrolle vor?

Ich habe erst einmal die Stücke und den Roman gelesen. Diese Sternheim-Sätze sind wie Flipperkugeln. Du weißt manchmal beim zehnten Lesen noch nicht, was er will. Das zu lernen ist die völlige Überforderung. Ich hatte das Gefühl, in meinem Kopf toben nur noch Gedanken und Wörter, ich degeneriere zu Sprache. Viele gehen in Clubs, nehmen Drogen und drehen sich im Kreis. Aber dass man sich mit einem intellektuellen Text in eine Trance bringen kann, das ist eine irre Erfahrung. Außerdem fand ich es aufregend, wie sich hier ein Mann in die Seele einer jungen Frau schreibt. Die weibliche Sexualkraft ist bei Europa wie ein Lebensmotor. Trotzdem ist sie ein geistiges Geschöpf, du hörst einer Frau beim Denken zu. Sternheim führt hier schon Georges Bataille ein. Etwa mit der Todesszene, in der Europa noch im größten Kontrollverlust, dem Sterben, eine Ekstase erlebt, das ist von Bataille-hafter Größe und Schönheit.

Sternheim nimmt Castorf vorweg, könnte man auch sagen.

Ja, besonders in der Sehnsucht nach der größtmöglichen Intensität eines Moments, nach Verschwendung und Verausgabung. Die Europa ist für mich aber auch eine Vorkämpferin für weibliche Werte und Rechte. Da nimmt Sternheim vieles vorweg. Auch mit dem Faschisten in „1913“, der quasi eins zu eins in AfD-Zitaten spricht. Im Grunde geht es um einen Blick in die deutsche Seele und ihr Fundament im Egoismus. Und den Versuch zu verstehen, wie es von hier aus zum Ersten und später zum Zweiten Weltkrieg kommt. Die Europa ist dazu eine Gegenfigur, die Selbstzerstörung.

Leistungssport auf der Bühne

Schon für den Zuschauer sind diese fünf Bühnenstunden anstrengend. Wie hält man als Schauspieler so lange die innere Spannung?

Ich finde fünf Stunden überhaupt nicht lange, wenn man sich darin solchen existenziellen Fragen wie „Was ist die deutsche Seele?“ stellt. Ich finde 90 Minuten „Tatort“ viel anstrengender. Aber auf der Bühne ist das Leistungssport. Nach der Premiere war ich total erschöpft, aber währenddessen bist du wie im Rausch. Ein Rennpferd denkt ja auch nicht nach. Für mich ist das auch eine Belohnung: Solche schönen Szenen bekommst du in keinem Kinofilm zu spielen. Allein die Szenen in der Opiumhölle, die sind wie ein ganzer Bergmann-Film. Mit diesen vor einer Live-Kamera gespielten Szenen hat Castorf eine Freiheit kreiert, die über die des Kinos hinausgeht, da ist kein Cutter und kein Redakteur mehr dazwischen.

Trotzdem, sagen Sie, wollen Sie mehr Kino spielen.

Kino ist für die Ewigkeit, wenn ich im Theater eine tolle Premiere gespielt habe, interessiert das morgen keinen mehr. Beim Theater ist der Tod schon dabei, worin vielleicht auch eine Art Ewigkeit liegt. Man stiehlt dem Leben eine Sekunde Ewigkeit.

Nun gibt es im deutschen Kino heute wenig von Weltgeltung …

Es ist eine schwierige Zeit. Ein Fassbinderfilm hätte heute einen Bruchteil der Zuschauer von damals. Die Massenfilme sind doch nur noch ein Dicker, der furzt, und ein Krebskranker, der noch einmal das Meer sehen will. Trostlos. Was mich interessiert, ist das Loslassen vor der Kamera. Das konnte ich jetzt beim „Nachtportier“ bis ins Extremste ausprobieren. Da fand ich sehr schnell in eine Art Delirium oder Trance hinein, also einen Zustand, in dem man aufhört sich zu beobachten, zu reflektieren. Das Chaos führt einen manchmal viel näher an eine Wahrheit heran, als alles richtig zu machen. Sternheim sagt: Nur Chaos macht irdische Welt himmlisch.

Auch im Theater steigt der Normierungsdruck. Man will bloß keine Zuschauer verprellen.

Diese politische Correctness ist das Ende der Kunst. Ich glaube nicht, dass man damit weiterkommt. Wenn man versucht Autoren wie Sternheim oder Frank Wedekind in eine politische Correctness zu zerren oder so etwas Moderates daraus zu machen, dann kann man nur verlieren.

ZUR PERSON

Lilith Stangenberg, geboren 1988 in Berlin, wurde 2010 von „Theater heute“ zur „Besten Nachwuchsschauspielerin“ gekürt. In den letzten Jahren von Frank Castorfs Volksbühne wurde sie zu deren wichtigster Protagonistin. Sie gilt als Spezialistin für grenzgängerische Rollen. In Nicolette Krebitz’ Film „Wild“ spielte sie eine Frau, die sich in einen Wolf verliebt, im Tatort „Blut“ eine Vampirin. Am Schauspiel Köln ist sie derzeit in Castorfs Inszenierung von Carl Sternheims „Aus dem bürgerlichen Heldenleben“ zu sehen.

Nächste Termine: 24. Januar, 7., 9., 29. Februar, Depot 1 

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