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Schausteller in der KriseOhne Hilfen stirbt ein über 1000 Jahre altes Kulturgut

Lesezeit 5 Minuten
Gestern Spaß, heute Virenschleuder: Besucher fahren Kettenkarussell auf dem Oktoberfest.

Gestern Spaß, heute Virenschleuder: Besucher fahren Kettenkarussell auf dem Oktoberfest.

  • Jährlich finden in Deutschland knapp 10.000 große und kleine Volksfeste statt. Im März sollte die Saison beginnen – doch dann kam die Corona-Krise.
  • Unsere Gastautorin Margit Ramus ist in einer Schausteller-Familie aufgewachsen. In diesem Beitrag beschreibt sie die Geschichte einer alten und stolzen Branche, der ohne finanzielle Hilfen das Aus droht.
  • Und das wäre auch für die Kommunen ein großes finanzielles Problem.

Mit den ersten Absagen der Frühjahrsvolksfeste erreichte die Corona-Epidemie, die mittlerweile die ganze Welt auf den Kopf gestellt hat, auch die etwa 5000 deutschen Schaustellerfamilien und -betriebe.

Unsere gesamte Branche stand im März ohne Einnahmen gerade am Beginn ihrer jährlichen Volksfestsaison. Die Reserven für die Fixkosten waren aufgebraucht, und die finanziellen Verpflichtungen auf die Saison ausgerichtet. So wurde vielen schnell klar, dass es zu existenzbedrohenden Entwicklungen kommen würde. Alle Schaustellerfirmen, überwiegend Familienbetriebe, sind eigenständig finanziert und stolz darauf, dass sie bisher noch nie öffentliche Subventionen in Anspruch genommen haben.

Über die ganze Bundesrepublik, in allen 16 Bundesländern geografisch verteilt, finden knapp 10.000 große und kleine Volksfeste statt. Fast jedes Bundesland hat mindestens ein großes Volksfest. Dazu kommt eine Vielzahl von Volksfesten mittlerer und kleiner Größe. Bis zu 50.000 Menschen finden während der Saison dort Arbeit. Die Volksfeste sind Deutschlands bedeutendstes Freizeitangebot und haben einen durchschnittlichen Jahresumsatz von etwa acht Milliarden Euro. Auch die Einnahmen für die Kommunen mit etwa 340 Millionen Euro sind nicht unerheblich.

Deshalb ist die Komplexität und Vielschichtigkeit der deutschen Volksfest-Kultur ohnegleichen.

Mit den Soforthilfen des Bundes in der Corona-Krise waren kleinere Betriebe zunächst der akuten Sorgen enthoben, für größere Schaustellerbetriebe waren die finanziellen Hilfen aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber alle gemeinsam glaubten und hofften, dass sicherlich im Mai, spätestens zum Düsseldorfer Schützenfest auf der Rheinwiese die Volksfeste wieder stattfinden würden.

Immer wieder hatte der Deutsche Schaustellerbund (DSB) davor gewarnt, auch die Herbstvolksfeste in vorauseilender Sorge frühzeitig abzusagen. Außerdem müsse für die Zeit nach dem 31. August neu verhandelt werden, denn nicht alle Schützenfeste, Kirmessen, Kirchweihen und so weiter sind Großveranstaltungen, weshalb sie auf keinen Fall in einem Rundumschlag alle abgesagt werden dürften. Die frühe Entscheidung, das Münchner Oktoberfest 2020 auszusetzen, traf die Schaustellerbranche umso härter. Damit scheint das endgültige Aus für die Volksfeste in der gesamten Saison 2020 programmiert zu sein.

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Volksfeste sind Orte der Freude und Entspannung. Sie fördern den kulturellen Austausch und die Integration, stärken das Heimatgefühl und pflegen das Brauchtum. Die Träger und Hauptakteure des Kulturguts Volksfest sind die Schausteller und Schaustellerinnen. Sie geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen seit vielen Generationen weiter. Für sie bedeutet das Familiengeschäft Tradition, Familienbewusstsein, Zusammengehörigkeit und Identifikation mit dem Beruf. Ihre Mobilität, ihre traditionellen Handwerkstechniken zur Herstellung von Waren oder zur Entwicklung und Überarbeitung von Geschäften wie auch ihre Werbetechniken – vom Handzettel bis zur Ansage vor Publikum – haben sie jahrhundertelang entwickelt, perfektioniert und tradiert.

Die Schausteller und Schaustellerinnen haben schon viele Kämpfe gefochten. Lang und mühsam war der Weg vom „fahrenden Volk“ zur modernen Schaustellerei der Gegenwart. Seit dem Mittelalter zogen die „Fahrenden Leute“ von Stadt zu Stadt anlässlich der dort stattfindenden Jahrmärkte. Die „Fahrenden“ hatten kein leichtes Leben.

Sie wurden nicht durch die bürgerlichen Gesetze geschützt und durften in der katholischen Kirche auch keine Sakramente empfangen. Sie lebten in Planwagen oder selbstgebauten einfachen Fuhrwerken, mit denen sie nach Einbruch der Dunkelheit nur außerhalb der Stadtmauern verweilen durften.

Unter den „Fahrenden“ waren auch Händler, Barbiere und Heiler. Zum Jahrmarkt gesellten sich ortsansässige Zuckerbäcker, Schlächter, Wirtsleute, Handwerker wie Schmiede, Schlosser oder Tischler. Fahrende Komödianten wie Gaukler, Musikanten und Artisten rundeten das bunte Bild des Jahrmarktes ab. Es ist überliefert, dass beim „Fahrenden Volk“ der Ursprung vieler Berufe liegt und technische Errungenschaften dem Volk meist auf Jahrmärkten vorgestellt worden sind. Außerdem brachten Jahrmärkte die neusten Nachrichten und förderten den Heiratsmarkt. Erst 1794 wurde die Gewerbefreiheit eingeführt und die Bedingungen für das „Fahrende Volk“ verbesserten sich.

Älteren Schaustellern und Schaustellerinnen wird noch die Zeit des Nationalsozialismus im Gedächtnis sein. Größere Volksfeste wurden direkt nach Beginn des Krieges 1939 abgesagt, andere noch kurze Zeit in minimierter Besetzung abgehalten. Kleinere Volksfeste fanden dagegen bis weit in die 1940er Jahre statt, obwohl der Krieg tagtäglich viel Leid über die Menschen brachte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten die meisten Schaustellerfamilien ihre Geschäfte zwi-schen den Trümmern auf, brachten den Menschen Licht und Freude zurück. Viele Schaustel-lerfrauen ließen sich damals – anfangs alleine und später zusammen mit ihren aus dem Krieg heimkehrenden Männern – nicht unterkriegen. Sie legten den Grundstock für eine neue Zeit im Schaustellergewerbe. Inzwischen sind Volksfeste als wesentliches Kulturgut von der Bundesregierung wie auch von der EU anerkannt und als schützenswert eingestuft. Die Schausteller haben als mittelständische Unternehmer ihren Platz in der Gesellschaft und finden Gehör bei der Politik. Volksfeste sind Garanten für das Kulturgut und gehören zur deutschen Kulturgeschichte.

Eigene Kraft reicht nicht aus

Viele von uns Schaustellerinnen und Schaustellern haben schon so manche existenzielle Krise gemeistert. So werden wir auch die Corona-Krise überstehen. Denn wir sind stark! Dieses Mal aber wird die eigene Kraft nicht ausreichen. Ausgefallene Volksfeste sind – im Gegensatz zu Umsätzen aus dem produzierenden Gewerbe – wirtschaftlich unersetzbar, ganz zu schweigen von der damit entgangenen Lebensfreude.

Ohne weiterreichende finanzielle Hilfen wird ein weit über 1000 Jahre altes Kulturgut sterben. Dies darf nicht geschehen!

www.kulturgut-volksfest.de

ZUR PERSON

Margit Ramus, geb. 1951, wuchs in einer Schausteller-Familie auf und gründete bereits Ende der 1960er Jahre mit ihrem Mann einen eigenen Betrieb. 1998 holte sie ihr Abitur nach und studierte an der Universität Bonn Kunstgeschichte. 2013 promovierte sie dort mit einer Arbeit über Bauformen und Dekorationen des Karussells. (jf)

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