Abo

So nah, so fern, so verwandt

Lesezeit 7 Minuten
Die Türme der Kathedrale von Brünn

Die Türme der Kathedrale von Brünn

Abends in Brünn sind wir mit dem Schriftsteller Jaroslav Rudis verabredet. Er ist wie kein anderer Repräsentant der tschechischen Literaturszene als Brückenbauer zwischen seinem Land und Deutschland geeignet. Seit Jahren lebt er in Kreuzberg. Hier hat er den Roman geschrieben, von dem er glaubt, dass er den tschechischen Berlin-Hype befördert hat: „Der Himmel unter Berlin“, zuerst erschienen im Jahr 2002. Der Held ist vor seinem Leben aus Prag geflohen und macht Straßenmusik in der U-Bahn.

Dieser Tage ist Rudis’ Roman „Winterbergs letzte Reise“ herausgekommen. Es ist der erste, den er auf Deutsch geschrieben hat. Winterbergs Reise führt durch ein verschwundenes Mitteleuropa, als Reiseführer dient ein Baedeker aus dem Jahr 1913. Es ist eine Reise in eine Zeit, einen Kulturraum, in dem viele Tschechen ganz selbstverständlich sowohl Deutsch als auch Tschechisch sprachen oder die Sprachen nebeneinander existierten. Rudis nennt Max Brod, Franz Kafka. Es ist diese Zeit, an die er mit seiner Zweisprachigkeit anknüpfen möchte.

Wasserleichen in der Kneipe

In der Kneipe, in die er uns führt, überlegt jemand, Wein zu bestellen. Jaroslav Rudis winkt ab. Wenn es um Bier geht, ist er ganz Tscheche. Dazu bestellt er für uns Utopenci, Wasserleichen. Es sind Brühwürste, die zusammen mit Gewürzen in Essigsud eingelegt werden, ein Kneipenessen. Es ist der Imbiss, den die beiden Helden in „Winterbergs letzte Reise“ öfter zu sich nehmen. „Wir gingen auf ein Bier und eine Wasserleiche“, heißt es. Auf der Speisekarte stehen sie nicht. Man muss wissen, dass es sie gibt.

Brückenbauer wie Rudis braucht es. Denn um das Wissen über das Nachbarland ist es in Deutschland nicht gut bestellt. Tomas Kubicek macht dazu manchmal einen Test. Er fragt dann, welche zeitgenössischen tschechischen Autoren sein Gegenüber denn kenne, welche Neuerscheinungen. Die Antwort ist niederschmetternd: Die Befragten sind ratlos. Höchstens Namen aus der Vergangenheit fallen ihnen ein: der des 1997 verstorbenen Bohumil Hrabal, der von Milan Kundera, der seit 1975 in Frankreich zu Hause ist, der von Pavel Kohout, der 91 wird und meist in Wien lebt.

Vor 30, 40 Jahren sei das anders gewesen, sagt Kubicek, und gefragt nach dem Grund, kommt er auf die Zeit nach der Niederschlagung des Prager Frühlings zu sprechen, in der zahlreiche Autoren ins Exil gezwungen wurden, auch in die Bundesrepublik. „Dadurch war die tschechische Literatur Teil der deutschen, der europäischen Literatur.“Das ist lange her. Seit Jahrzehnten erscheint höchstens eine Handvoll tschechischer Bücher in deutscher Sprache pro Jahr. Erstaunlich angesichts der engen Nachbarschaft, der geteilten Geschichte. „Wir haben vergessen, wie wichtig Nachbarschaft ist“, sagt Kubicek.

An diesem Morgen steht Tomas Kubicek im Vortragssaal der Mährischen Landesbibliothek in Brünn. Sie ist die zweitgrößte Bibliothek des Landes, Kubicek ihr Direktor. Sein Publikum: eine Gruppe deutscher Journalisten. Sie sind nach Brünn eingeladen worden, weil Tschechien Ehrengast bei der Leipziger Buchmesse ist. Und diesen Auftritt in Deutschland hat Kubicek mit den Mitarbeitern seiner Bibliothek vorbereitet. Tomas Kubicek spricht von Lipski, Lipska, Lipsko, wie Leipzig je nach grammatikalischem Fall auf Tschechisch heißt. Durch den Auftritt in Leipzig soll die aktuelle tschechische Literatur im Nachbarland wieder bekannter werden. Es ist ein Versuch.

Zwei Tage später in Prag ist es der Kulturminister, der vor den deutschen Journalisten für die tschechische Literatur wirbt. Freimütig bekennt er, die Initiative für den Messeauftritt sei aus Leipzig gekommen. Der Auftritt dort ist eingebettet in das Tschechische Kulturjahr, das bereits im Herbst in Deutschland begonnen hat. Ein Jahr lang finden in diesem Rahmen Lesungen, Konzerte, Ausstellungen statt.

Seit 2017 gibt es zudem CzechLit, ein Zentrum, dessen Aufgabe es ist, tschechische Literatur im Ausland bekanntzumachen.

Diesmal werden in Leipzig 70 Neuerscheinungen präsentiert, 60 Autoren werden zur Messe kommen. Die meisten Namen hat man in Deutschland noch nie gehört, auch wenn die Schriftsteller in Tschechien Bestseller veröffentlicht haben.

Eine von diesen unbekannt-bekannten Autorinnen ist Katerina Tuckova, 38, geboren in Brünn. Sie führt uns tags darauf durch ihre Stadt – und das auf ungewöhnlichen Wegen. Es ist eine abgerissene Gegend, in die sie uns bringt, die Bronx von Brünn, wie sie sagt. Ceijl heißt das Viertel, das kommt vom Deutschen Zeil. Viele Roma leben heute hier, wo einst die Textilfabriken standen, die die Stadt, die zweitgrößte Tschechiens, reich machten. Das Geld für die außerordentlich schöne und außerordentlich teure Villa Tugendhat, ein Funktionalismus-Kleinod, erbaut Ende der 20er-Jahre nach den Plänen von Mies van der Rohe, wurde hier verdient.

Es waren Deutsche aus der Gegend um Aachen, die sich in Brünn schon im 13. Jahrhundert niederließen. Später kamen Fabrikantensöhne, Zweit- oder Drittgeborene, darunter zahlreiche Juden. Sie erbten nichts, aber das Wissen hatten sie, und in Brünn bauten sie jenseits der Stadtgrenze in den Sümpfen Produktionsstätten. Die Gebäude repräsentieren diese Geschichte. Hier stehen Fabriken, Fabrikantenvillen, billige Arbeiterwohnungen. Die Synagoge wurde einen Tag, bevor Hitler nach Brünn kam, niedergebrannt. Der Textilindustrie machte nicht die Verstaatlichung, sondern endgültig erst der Fall des Eisernen Vorhangs den Garaus.

Wie vielerorts in Böhmen und Mähren sind in Brünn tschechische und deutsche, auch deutsch-jüdische Geschichte miteinander verwoben. Und die geteilte Geschichte ist eine Geschichte des Verlusts. Bis 1918 waren die Hälfte der Einwohner Deutsche. „Im Theater wurde an sechs Tagen auf Deutsch und an einem Tag auf Tschechisch gespielt“, erzählt Katerina Tuckova. Als dann die umliegenden Dörfer eingemeindet wurden, waren die Tschechen in der Mehrzahl, was auch am Theater zu Änderungen führte. Als 1939 die Wehrmacht einmarschierte und das „Protektorat Böhmen und Mähren“ errichtet wurde, gab es ab sofort nur noch Vorstellungen auf Deutsch. Im Jahr 1945 versuchten die Tschechen, alles Deutsche zu tilgen im Stadtbild, in der Bewohnerschaft. Es ist dies die Zeit, um die es in Katerina Tuckovas Buch geht: „Gerta. Das deutsche Mädchen“.

Tuckova bleibt vor einer Inschrift an einem Haus stehen, die sich nur mit Mühe entziffern lässt. Mährische Glas- und Spiegelindustrie, steht da. Als Studentin hat Tuckova in der Nähe gewohnt und ist täglich hier vorbeigekommen. Sie hat dann angefangen, sich mit der Geschichte des Viertels zu beschäftigen, stieß auf die Spuren einer 21-Jährigen, die in ihrem Haus lebte und vertrieben wurde. Nach ihr hat sie Gerta geformt, ihre Protagonistin. Der Todesmarsch von Brünn, die gewalttätige Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung in den letzten Maitagen des Jahres 1945, war lange ein Thema, das in Tschechien keiner anrührte. Bis heute ist es strittig, wie viele der 20 000 Menschen – vor allem Alte, Frauen und Kinder – starben. An Krankheiten, aber auch durch Gewalt. Es gab auch Vergewaltigungen.

Ihre Großeltern, die sie als Erste fragte, weigerten sich, über diese Zeit Auskunft zu geben. Katerina Tuckova ließ sich davon nicht abhalten. Und dann wurde ihr Buch, das 2009 erschien, zum Bestseller. Die Zeit war offenbar reif. Nur die Politik brauchte noch ein paar Jahre. Erst 2015, 70 Jahre nach den Ereignissen, entschuldigte sich die Stadt Brünn zum ersten Mal für diese unmenschliche Vertreibungsaktion.

Nun gibt es „Gerta“ auch in deutscher Übersetzung. Es ist ein Buch, das geeignet ist, das Desinteresse in Deutschland an der Literatur aus dem Nachbarland zu überwinden, gerade weil es in diesem Buch um die geteilte Geschichte geht.

Katerina Tuckovas Bücher erscheinen im Brünner Host Verlag, der in einer ehemaligen Textilfabrik residiert.

Ein wenig bitter

Miroslav Balastik ist 47, ein smart wirkender Mann mit einem Dreitagebart, er ist der Host-Direktor. Er kann sich an die Zeit, in der die tschechische Literatur in Deutschland erfolgreich war, kaum erinnern. „Zur Zeit der samtenen Revolution war Tschechien interessant. Und nun, da wir politisch Teil Europas sind, sind wir es nicht mehr.“ Das klingt ein wenig bitter. Damals regierte mit Vaclav Havel ein Dichter das Land, heute herrschen in der Tschechischen Republik Populismus und Abschottung. Außerhalb der Literaturszene möchte man mit Europa nichts zu tun haben. Dass die Tschechen stolz auf ihre Zugehörigkeit zur Europäischen Union waren, ist lange her, auch wenn das Land davon profitiert.

Was bedeutet der deutsche Markt für den Verlag? „Er ist sehr wichtig, er ist grundlegend“, sagt der Host-Direktor Miroslav Balastik. Die tschechische Literatur empfinde sich als Teil der europäischen Literatur, und Deutsch sei die nächste große Sprache. „Aber es ist schwer, einen Weg dorthin zu finden.“ Leipzig ist ein Anfang.

Miroslav Balastik, Host-Direktor

KStA abonnieren