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TalkZeit aus dem Fenster werfen

Lesezeit 3 Minuten
  • Kent Nagano zur "Ring"-Arbeit mit Concerto Köln

"Als wir mit den Workshops begannen, warfen wir die Zeit aus dem Fenster." Es war eine merkwürdige Formulierung, die dem Stardirigenten Kent Nagano da im Gespräch mit dem WDR-Redakteur Michael Schwalb über die Lippen kam. Zeit aus dem Fenster werfen - wie geht das? Üblicherweise, erläuterte Nagano, steht der Rhythmus der Orchesterarbeit unter einem Zeitdiktat: Bis zur Aufführung müssen Formation und Dirigent in ihren Proben ein bestimmtes Interpretationsniveau erreichen, sonst droht eine Pleite.

Das von der Kunststiftung NRW geförderte wissenschaftlich-künstlerische Projekt "Wagner-Lesarten" aber, das der aktuelle Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper gemeinsam mit dem Originalklang-Ensemble Concerto Köln ins Werk setzt, verbannt diesen Zeitdruck völlig: "Was heißt bei Wagner die Vortragsbezeichnung Martellato? Darüber haben wir 45 Minuten lang diskutiert." Klar, so etwas wäre in einem normalen Probenbetrieb nicht möglich.

Erste Aufführungen 2021

Aber die "Wagner-Lesarten" sind eben nicht normal: Erst 2021 soll es erste Aufführungen des "Ring" geben -, und zwar in einem Modus, den man gemeinhin als Originalklang bezeichnet. Was aber ist das im Fall der Bühnentetralogie, welche Gesangs- und Spieltechniken hatte Wagner im Auge? All dies wird in enger Zusammenarbeit mit der Musikwissenschaft derzeit erforscht und erarbeitet. Concerto Köln versucht es dann unter Naganos Leitung umzusetzen. "Es gibt da mehr Fragen als Antworten, uns verbindet die Gemeinsamkeit des Nichtwissens", räumt der in den Ehrenfelder Balloni-Hallen freimütig ein.

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"MBL-Talk" heißt die Veranstaltung, die während der Laufzeit des Projekts drei- bis viermal im Jahr mit unterschiedlichen Gästen stattfinden soll. MBL ist eine Berliner Akustikgerätefirma, mit der Concerto Köln seit langen Jahren und nun auch bei den "Wagner-Lesarten" zusammenarbeitet und deren Technik das Abspielen der Musikbeispiele während der Veranstaltungen ermöglicht.

Wagner kam jetzt beim ersten Talk mit Nagano gar nicht mal zum Zuge. Es erklang vielmehr, zumeist in Nagano-Interpretationen, Musik rund um und mit Bezug auf Wagner - von Mendelssohn, Beethoven, Messiaen und Bruckner. Das erschien auf Anhieb überraschend, vielleicht sogar abwegig, kennzeichnet aber die Dimensionen der "Wagner-Lesarten": Man erforscht das Umfeld, den Kontext, geht, wie Nagano sagt, "vor die Quellen".

Die Zusammenarbeit des japanischstämmigen US-Amerikaners mit Formationen der historischen Aufführungspraxis wird für manche Musikfreunde, die ihn woanders verorten, vielleicht gewöhnungsbedürftig sein. Indes betont dieser seine frühe, noch aus Studienzeiten herrührende Verbundenheit mit der Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock, mit Kontrapunkt und modaler Harmonik.

"Wie macht Concerto Köln das?", lautete dann beim Kennenlernen vor einigen Jahren seine interessierte Frage. Und siehe da: "Concerto Köln macht das sehr organisch und natürlich - besser jedenfalls als vergleichbare Ensembles in Kanada und den USA."

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