Tanz-Stück von Richard SiegalErste rein digitale Premiere am Schauspiel Köln

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Szene aus „All For One And One For The Money“

Szene aus „All For One And One For The Money“

Köln – Wenn es um ein Ballett der Zukunft, ein Theater der Zukunft ging, dann war Richard Siegal immer schon ganz vorne mit dabei. Der Choreograf nicht nur als Bewegungserfinder, sondern als Formenforscher und Hightech-Experimentator – so sah sich Siegal von Anfang an. Es überrascht also nicht wirklich, dass er ziemlich gut gewappnet ist für die akute Ära des Corona-konformen Digital-Theaters und jetzt, im November trotz Teil-Lockdown die Tanzdarbenden mit einer Ballett-Uraufführung beglückt.

Oder eigentlich eher einem „Gaming-Social-Media-Chat-Ballett“. „All For One And One For The Money“ als interaktiver, superkomplexer, zeitgeistiger Livestream. Der Zuschauer hat die Wahl zwischen gleich drei Kanälen. Auf Stream eins gibt es überwiegend Tanz vom famosen Ballet of Difference. Auf zwei und drei sitzen die Schauspieler Alexander Angeletta und Yuri Englert vor Mikrofonen. Sie sind sowohl Influencer als auch Gamer, die ohne Unterlass in englischer Sprache monologisieren, während sie in diversen Computerspielen herumklicken.

Gruselige Games

So flimmert um sie herum die bunte animierte Welt der Games. Klassiker wie „Minecraft“ und „Pokémon“ sind dabei, oder das gruselige Schwarz-Weiß-Spiel „Limbo“ mit einem kleinen Jungen, der durch einen bedrohlichen Schattenwald huscht. Entsprechend ist Spieler Englert ziemlich besessen vom Tod. Er räsoniert über den Traum von der Unendlichkeit in einem virtuellen Universum – die größenwahnsinnigen Allmachtsfantasien des Silicon Valley.

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Angeletta preist derweil die Gaming Branche als schlechthin den Industriezweig der Zukunft. Und als Zuschauer wird man nun selbst zu eine Art Gamer, switcht immerzu zwischen den Streams hin und her, hat Entscheidungsnöte mit dem Wissen, von der gut einstündigen Performance allenfalls ein Drittel wahrnehmen zu können.

Ich entscheide mich die meiste Zeit für Stream eins, den Tanz. Dort zirkelt das Ballet of Difference seine exquisit-schnellen Bewegungen in ein Setting von sich ständig verändernden Architekturen: Spiegelkabinette, poppig-bunte Animationen, schwarz-weiße Projektionen von gigantischen QR- und Barcodes. Auch auf den teils nackten Körpern der Tänzer kleben die Balken der Strichcodes als wären sie käufliche Waren. Sie flirten mit den sie umrundenden Kameras, locken die Zuschauer in ihren Science-Fiction-Kosmos als wären sie künstliche Avatare, die sich anbieten, für uns jede Idealversion unseres kümmerlichen Ichs zu sein. Und – Ironie des Choreografen – die Tänzer imitieren manchmal täuschend echt die hölzernen Bewegungen von Avataren: Der Mensch als Kopie seiner Kopie.

So konfrontiert die Performance mit der schon ziemlich alten Frage nach der Ununterscheidbarkeit von real und virtuell. Es geht um Voyeurismus und Identitätsverwirrungen beim Schaffen eines Gaming-Alter-Egos. Um die Macht der Influencer und die Hybris von Big Data.

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Aber bei aller Kritik an unserer virtuellen Simultanwelt schöpft Richard Siegal auch ihre künstlerischen Potenziale voll aus: mit schicken Designs, dem Sphären-Sound von Komponist Lorenzo Bianchi Hoesch und den aufregenden Tänzern vom Ballet of Difference. Ein Livestream-Ballett als ästhetisches Überwältigungserlebnis. Typisch Siegal: smart, sexy, hipp.

Wo bleibt das Geld?

Bloß, wie war das mit dem titelgebenden „money“, dem angekündigten Thema Geld? Vom Cyber-Kapitalismus blieb – jedenfalls in meinem Drittel der Vorstellung – allenfalls das Thema „Gier“. So sieht man in einem faszinierenden Fress-Video eine zarte Asiatin unglaubliche Mengen an Essen in sich hineinstopfen. Und ich selbst werde auch zum Opfer meiner eigenen Gier nach noch mehr Kunst, als ich auf einen blinkenden Button „special streams“ klicke und einen Aufpreis zahle.

Das Geld ist weg, die extra Angebote entpuppen sich als Live-Bekenntnisse der Tänzer: So erzählt Mason Manning vom Tumor seiner Katze und seinen letzten Liebesabenteuern. Aber ich bin ja ohnehin schon überfordert von den vielen Optionen auf meinem Monitor. So wird das clevere Performance-Ereignis zum Selbsterfahrungstrip: Man beobachtet sich selbst, wie man in Momenten völlig weggebeamt ist, in anderen rastlos rumzappt und sich die Konzentration ständig zerstreut.

Es dauert wohl noch, bis aus trägen Tanz-Guckern souveräne Tanz-Gamer werden. Richard Siegal jedenfalls beweist sich hier wieder mal als visionärer Mentor, der auch das pandemiebedingt nur noch mürrisch wahrgenommene „Livestreaming“ zu einem Ereignis machen kann.

Termine am 4., 5. und 6.12. unter www.schauspiel.koeln.de

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