ThailandWarum wir mit den Kindern in der Höhle Mitleid haben – und mit anderen nicht

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Thailand Höhle Jungen

Die Jungen konnten sich in einen höher gelegenen Höhlenraum retten.

In einer Höhle im Norden Thailands haben 13 junge Menschen festgesessen und um ihr Leben gebangt. Die ganze Welt schaut zu und will nicht mehr wegschauen, bis hoffentlich auch der Letzte gerettet ist. Im Prinzip müsste das überraschend sein, denn kein Detail dieses Dramas wäre für sich faszinierend genug, um die Nachrichtensendungen, die Zeitungsausgaben und das Netzinteresse auf diesem Planeten so zu dominieren.

Nordthailand ist eine Region, auf die wir selten blicken. Eine Höhle ist eine Höhle. Und das Schicksal thailändischer Kinder, von denen immer noch unzählige in einem Kreislauf aus Gewalt, Drogen und Prostitution landen, beschäftigt uns eher wenig.

Interesse beschränkt sich auf den Tourismus

Ich kann das recht gut beurteilen, weil ich durch Heirat seit fast einem Vierteljahrhundert Teil einer thailändischen Familie bin, mit der Kultur einigermaßen vertraut, der Alltagssprache weitgehend mächtig. Das ausländische Interesse an dem südostasiatischen Vielvölkerstaat beschränkt sich weitgehend auf alle schönen und weniger schönen Aspekte rund um den Tourismus, auf die wundervollen Inseln, das fantastische Essen, die exotische Szenerie. Man kann in Thailand als Gast eine wunderbare Zeit haben. Wie die Leute leben, die dort immer leben, ist dem Gast eher gleichgültig.

Dennoch bewegt das Schicksal dieser zwölf Jugendlichen und ihres Betreuers viele Millionen Menschen. Zigtausende Kinder auf dieser Welt wären allerdings, um es ganz hart zu formulieren, froh, wenn sie die Chance hätten, mit ihnen tauschen zu können. Um sie kümmert sich niemand, auf ihr Elend ist keine Kamera gerichtet, über ihre Qualen berichten wenige Medien. Sie haben den Kampf um Leben und Tod im Angesicht von Krieg, Hunger, Krankheit, Macht- und Profitgier schon verloren. Aber wer will schon etwas wissen aus dem Südsudan, aus Somalia, dem Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und vor allem aus dem Jemen, wo Saudi-Arabien und Iran einen furchtbaren Stellvertreterkrieg um die Macht in der islamischen Welt austragen? Mit kräftiger Unterstützung westlicher Mächte wie den USA und Großbritannien übrigens.

Leid alleine genügt nicht

Das ist die große Schwäche des menschlichen Mitleids: Leid alleine genügt ihm nicht. Es muss auch einen praktischen Weg finden, seiner teilhaftig zu werden. Unsere Moral weiß schon seit langer Zeit, dass dies ungerecht und ein wenig zynisch ist. Die Religionen versuchen, dagegen anzukämpfen mit den Idealen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Aber im Alltag, wenn die Stunde der Besinnung vorüber ist, sind wir Wesen auf Fleisch und Blut mit den uns zur Verfügung stehenden Sinnen, die auf eine uns bewusst und unterbewusst bekannte Weise reagieren.

Sie tun das vor allem mit Hilfe von Bildern und Emotionen, die verstanden werden können, begreifbar sein müssen. Am allerbesten gelingt das in der Gruppe. Je mehr Menschen Mitleid empfinden, desto leichter ist es für jeden Einzelnen, dies auch zu tun, weil es tröstend ist, zu einer Gemeinschaft zu gehören, in der sich alle gegenseitig ihrer Güte versichern, obwohl sie Menschen sind.

Wir können gut sein

Davon profitieren die thailändischen Jungen, für die in diesen Stunden die Rettungsaktion erfolgreich angelaufen ist. Ohne das Interesse der Welt hätten sie vermutlich alle sterben müssen. Ohne das Know-how der ausländischen Spezialisten, die aus vielen Ländern an diesen entlegenen Punkt der Welt geflogen sind, wären alle Rettungspläne zum Scheitern verurteilt gewesen. Genau an diesem Punkt setzt die Logik an, die der Anteilnahme als globalem Massenphänomen seine moralische Rechtfertigung gibt.

Es ist ein Beispiel, das über den bloßen Kick eines Realität gewordenen Netflix-Dramas weit hinausgeht, wenn alle seine tiefere Botschaft begreifen: Menschen sind gemeinsam zu den unglaublichsten Leistungen fähig, wenn sie wollen. Sie sind bereit, Entbehrungen auf sich zu nehmen, um anderen Menschen zu helfen, ihnen das Leben zu retten. Sie können fremde Schmerzen und Ängste wie die eigenen empfinden; die Sorgen ihnen unbekannter Menschen teilen; auf ihre Weise einen Beitrag zum Guten zu leisten. Sie können dieses Gefängnis des Egoismus, das den meisten von uns der unbedingte Überlebenswille und die permanente Sorge um das eigene Wohlergehen errichtet hat, in wichtigen Momenten verlassen. Sie können gut sein. Wir können gut sein. Das ist die Botschaft.

Gemeinsames Schicksal muss interessieren

Viele Menschen, Leute wie ich, scheitern allerdings regelmäßig beim Versuch, diese Botschaft konsequent in ihr Alltagsleben hinüberzuretten, wenn eine Normalität weitergeht, in der sich die kalte Logik des fremden Leids fortsetzt, aus dem kein für die Seele leicht fassbares Gemeinschaftserlebnis gemacht werden kann. Dies ist Teil unserer Wahrnehmung der Welt. Aber das ist als Los und Entschuldigung schwer zu akzeptieren, denn es lässt sich kein größeres dramatisches Gemeinschaftserlebnis denken als der Versuch der Menschheit, gemeinsam auf dieser Erde zu überleben.

Wenn wir uns alle für unser gemeinsames Schicksal so zu interessieren lernen, wie wir es in diesen Tagen für das Schicksal der 13 jungen Thailänder tun, könnte es sogar irgendwie gelingen.

Frank Nägele, Redakteur im Sport-Ressort, schreibt in seiner Kolumne über alles, was (ihm) im Leben wirklich wichtig ist.

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