TheaterspaziergangAn diesen Kölner Orten waren sie nachts noch nie

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Szene aus „Utopolis“ 

Köln – Anfangs sind wir nur zu fünft. Haben am Ende eines regnerischen Tages in einem Schirmgeschäft Unterschlupf gefunden, versammelt um eine kleine, dunkelblaue Box in Prisma-Form.  Noch schweigt sie. Der Geschäftsleiter spannt seine schönsten Exemplare für uns auf. Schirme, ein krisensicheres Geschäft. Ob Regen oder Sonne: Man muss sich vor dem Himmelreich schützen.

Dann spricht die Box, fragt höflich nach, ob sie uns duzen darf. Erzählt von Thomas Morus und seiner 500 Jahre alten Geschichte von der Insel Utopia. Ein idealer Ort, leider unerreichbar. Dennoch sollen wir fünf mit unserer sechseckigen  Begleiterin zu dieser unmöglichen Insel aufbrechen. Oder zumindest an Orte, „an denen diese Themen zu Gebäuden geworden sind“.   

Jeder mit seiner Box

Es geht los. Über den Neumarkt, nach mehrmaligem Drehen der in einem Notizheft eingeklebten Karte, zur Jesuitenkirche Sankt Peter. Wo sich schon andere Gruppen auf Feldbetten niedergelassen haben, jede mit ihrer eigenen, farblich gekennzeichneten Box.  

Auf 48 Stationen hat Rimini Protokoll seine Zuschauer verstreut, nur um sie in labyrinthischer Bewegung durch die Innenstadt wieder zusammenzuführen. „Utopolis“ ist die erste Arbeit des Theaterkollektivs für das Schauspiel seit es 2011 in „100 Prozent Köln“ die Stadtbewohner als lebende Statistik auf die Bühne gebracht hatte.

Die Stadt als Bühne

Jetzt machen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel  die ganze Stadt zur Bühne –  auch zu einer imaginären, die nach und nach in den Köpfen der buchstäblichen Theatergänger entsteht. Doch zuerst ein paar Gretchenfragen. Eine Stimme stellt Glaubenssätze auf, bei Zustimmung soll jeder lautstark sein Gotteslob – das katholische Gebet- und Gesangbuch – zuschlagen. Die temporäre Gemeinde ist unschlüssig, was das Leben nach dem Tod betrifft, umso sicherer, dass Sport dieses verlängert. So wird das nichts mit der Transzendenz.

Die höhere Macht, die stattdessen vor unseren geschlossenen Augen beschworen wird, ist die der Daten, der Superintelligenz des Überwachungskapitalismus.   Das soll Utopie sein? Wir ziehen weiter, rheinwärts die Agrippastraße hinunter,  eine kleine Prozession.  „Wofür würdest Du auf die Straße gehen?“, fragt die Box. Na ja, offensichtlich fürs Theater. Der Weg endet in der Handwerkskammer, wo wir entlang der Glasfront auf das Maritim schauen wie auf ein großes Sehnsuchtsschiff. 

Dachdecker mit Drohnen

Die Utopisten des Handwerks beschwören Dachdecker mit Drohnentechnologie. Wir  sollen unsere Sitznachbarn fragen, was deren Großeltern waren.  Architekt, Maler, Bäuerin. Was wohl unsere Enkel arbeiten werden? Hoffentlich wieder etwas mit den Händen, sagt die Frau gegenüber. Niemand träumt davon, vor dem Bildschirm zu sitzen. Warum tun wir es dann?

Vielleicht weil erfüllte Utopien nirgendwo zu finden sind. Weil jeder Versuch, dem Nicht-Ort ein Haus zu bauen, in einer Zwischennutzung  endet.

Mitten auf dem Weg fordert die Box innezuhalten und sich umzuschauen: Wie wäre es, wenn alles so bliebe? Kann man sich leicht vorstellen, wir stehen vorm verwaisten Schauspielhaus.  Verlassen wirkt auch die unterirdische Stahlkathedrale der Haltestelle Heumarkt, ein U-Bahnhof im Format einer Bond-Bösewicht-Höhle. Die ÖPNV-Pilgerstätte  ist eine Grabkammer. Auf dem Weg zur nächsten Station klafft  Kölns größte Wunde, dort wo 2009 der Bau der Nord-Süd-Trasse das Gedächtnis der Stadt verschluckte.

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Die Stimme des Architekten  lenkt die Aufmerksamkeit auf ein schwarzes Rohr, dass die gewölbte Decke quert: „Hier fließt die Scheiße der Stadt.“

Die Stationen werden zunehmend megalomanisch, die Kolonne der Utopisten wächst an. Über einen Hintereingang geht es in den vertäfelten Saal der Kreissparkasse Köln, eher Geldmuseum als Bankfiliale. Oder ist „Utopolis“ nur ein ausgeklügelter Vorwand für eine „Ocean’s Eleven“-mäßige Tresorplünderung? In Thomas Morus’ „Utopia“ gibt es kein Geld, Besitz wird gemeinschaftlich geteilt.

Das Leben seiner Zeitgenossen, sprechen die Boxen,  habe Morus mit fünf Adjektiven charakterisiert: einsam, arm, böse, brutal, kurz. Wie würden wir unser Leben beschreiben? Wir tauschen Zettel aus. Die Liste des Nachbarn beginnt mit dem gleichen Wort: gestresst.

Im Widerschein des Doms

Zum Abschluss, wenn sich alle Utopisten im Widerschein des Doms auf dem Dach eines Parkhauses treffen – wie eine Ufo-Sekte, die die unmittelbare Ankunft außerirdischer Erlöser erwartet – werden  noch mehr Zettel gewechselt. Auf ihnen sind die utopischen Vorstellungen gedruckt, die wir im Verlauf des Abends per SMS verschickt hatten. Sie sind mäßig originell. Abgesehen von dem Scherzbold, der glaubt: „Wir wären glücklicher, wenn wir öfters in der Nase bohren würden.“

Vielleicht sind die Utopien gar nicht so interessant wie die Prozesse, die zu ihnen führen. Vielleicht war der Weg, den wir gemeinsam –  irrend, lachend, neugierig aufeinander – gegangen sind, die Utopie.

Auf dem Papier klingt das fast wie eine Binse, man muss es erlebt haben. Es lohnt sich.

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