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Vom Knecht zum RevolutionärWie die DDR Luther zum 500. Geburtstag 1983 gratulierte

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Luther als feister Fürstenknecht

Luther als feister Fürstenknecht

„Wer immer noch glaubt, der Martin sei für unser Geschehen/philosophisch gesehen/nicht ganz legitim/der Genosse Erich steht hinter ihm.“ Der Reim des Ost-Berliner Kabaretts „Distel“ bringt auf den Punkt, was sich im Arbeiter- und Bauern-Staat 1983 mit Blick auf den Wittenberger Reformator ereignet hatte: Eine geschichtspolitische Wende, die die Kirche in Ost wie in West trotz sachter Vorzeichen ziemlich unvorbereitet traf. Luther, jahrzehntelang als „Fürstenknecht“ verunglimpft und ideologisch bekämpft, avancierte anlässlich seines 500. Geburtstages zur Lichtgestalt. Er wurde aufgenommen in die Ahnengalerie großer Deutscher, war plötzlich Aufklärer und positiver Mitgestalter der Weltgeschichte, gar „frühbürgerlicher Revolutionär“.

Für den Kirchenhistoriker Peter Maser löste Erich Honecker mit seinem Vorstoß eine Art Putsch aus, indem er Luther „einen der bedeutendsten Söhne des deutschen Volkes“ nannte. Der SED-Chef höchstselbst hatte den Vorsitz im staatlichen Luther-Komitee übernommen und erklärte den runden Geburtstag des Rehabilitierten zum nationalen Feiertag. Überall zwischen Rügen und Erzgebirge rieben sich Genossen und Kirchenleute die Augen. Der neue abgeklärte Blick auf Doktor Martinus führte dazu, dass Schulbücher auf den Müll geworfen wurden und die Sechstklässler sechs Jahre vor dem Ende der DDR ein kräftig retuschiertes Luther-Bild vorgesetzt bekamen. Generationen von Schülern hatten gelernt, der Bauernführer und Reformator Thomas Müntzer sei ein Held, Luther hingegen, wie einst schon von Friedrich Engels verkündet, ein „Verräter an den revolutionären Bauern“.

Das war praktisch seit Gründung des deutschen Zweitstaates 1949 die offizielle und unverrückbar erscheinende Linie der SED. Schließlich hatte Luther in seiner berühmten Schrift „Wider die mörderischen Rotten der Bauern“ klar Position bezogen und den Adel aufgefordert, dem Treiben der revoltierenden Bauern ein Ende zu setzen.

Abkehr von der feindlichen Haltung gegenüber Luther 

Noch 1970 hat es in einem „Handbuch zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung“ geheißen, es sei eine „Verdrängung und Enthistorisierung“, Luther als „alleinigen Schöpfer der Reformation“ hinzustellen. Die marxistische Geschichtswissenschaft könne demgegenüber die „Einheit von Reformation und Bauernkrieg nachweisen“. Die Ideologen beim Institut für Gesellschaftswissenschaften der SED ersannen, um Thomas Müntzer zum Staatshelden und Vorbild für den Klassenkampf zu verklären, für sein aufrührerisches Wirken den Kunstbegriff „Volksreformation“.

Obwohl sich in Historikerkreisen eine leichte Abkehr von der unversöhnlichen, ja feindlichen Haltung gegenüber Luther abzuzeichnen begann, war Honeckers neue Luther-Begeisterung ein Paukenschlag. Zwei Jahre vor dem zur Chefsache erklärten Luther-Jubiläum 1983 wurde in aller Eile mit der Formulierung von Thesen begonnen, mit denen der Umschwung begründet werden konnte: „Das Revolutionäre in Luthers Theologie bestand darin, dass den etablierten Autoritäten der feudalen Gesellschaft prinzipiell das Recht abgesprochen wird, in Sachen des Glaubens Entscheidungen über das Gewissen zu fällen.“

Über die Motive von Honeckers Sinneswandel ist viel spekuliert worden. Gewiss spielten auch handfeste Überlegungen eine Rolle. Das devisenhungrige SED-Regime hatte sich nach der verhältnismäßig aufwendigen Restaurierung der sogenannten Luther-Stätten, außer in Wittenberg auch in Erfurt, Eisleben und Eisenach, einen Ansturm ausländischer, vor allem skandinavischer und amerikanischer Touristen erwartet.

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