Zentrum für politische SchönheitFlugblätter gegen Diktatoren
Keine Tiger, sondern Flugblätter. Die neueste Aktion des in Berlin angesiedelten Zentrums für Politische Schönheit findet in München statt. Das Zentrum hat bayerische Schulen mit „Arbeitsmaterialien und Aufgaben für den Unterricht“ versorgt.
Absender ist das Bayerische Staatsministerium für Bildung, Kultur und Demokratie. So etwas gibt es nicht. Ansonsten aber wirkt die Broschüre haptisch und optisch wie direkt von der Kultusbürokratie. Lesen darf man sie allerdings nicht, dann wird deutlich: Hier spricht nicht die Bayerische Staatsregierung, sondern ein etwas schüchterner Stimmenimitator.
Schüler suchen ein Regime aus
Vor 75 Jahren verteilten die Geschwister Scholl ihre Flugblätter gegen die Nazidiktatur. Die Bayerische Staatsregierung/Zentrum für politische Schönheit schreibt zur Erinnerung daran einen Wettbewerb unter bayerischen Schülern aus. Sie werden aufgefordert, sich ein Regime auszusuchen – zur Wahl stehen: China, Eritrea, Nordkorea, Russland, Saudi-Arabien, Simbabwe, Sudan, Syrien, Tschetschenien, Türkei und Usbekistan – und ein dort zu verteilendes Flugblatt zu entwerfen.
Politik soll schöner werden
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) ist ein Zusammenschluss von etwa 70 Aktionskünstlern, die wiederholt mit spektakulären künstlerisch-politischen Aktionen an die Öffentlichkeit getreten sind.
Der Philosoph und Künstler Philipp Ruch gilt als kreativer Kopf der Gruppe. Das Zentrum für politische Schönheit definiert sich selbst als Denkfabrik, die Menschenrechte mit Aktionskunst verbinden soll.
„Die Toten kommen“ hieß 2015 eine Aktion, mit der auf die Folgen der europäischen Flüchtlingspolitik hingewiesen werden sollte. Dafür wurden verstorbene Flüchtlinge exhumiert und nach Berlin überführt.
Am 29.6., so das Programm des fingierten Bayerischen Staatsministeriums, sollen dann in den Münchner Kammerspielen, die von einer hochkarätig besetzten Jury begutachteten Flugblätter prämiert werden.
Zur Zeit – Montag 14 Uhr – ist ein Bus der Bayerischen Staatsregierung/des Zentrums für Politische Schönheit – in München von Ministerium zu Ministerium unterwegs und macht Reklame für den Flugblatt-Wettbewerb. Nachdem er vom Schulhof der Sophie-Scholl-Schule vertrieben wurde. Auch vor den Ministerien wird er wohl nicht lange stehen können.
Wer – wie ich – die Aktion nicht in München beobachten kann, der wird sich trösten mit einem sehr hübschen Film, in dem das Ministerium/das Zentrum seine Aktion vorstellt. Er ist im Internet unter www.scholl2017.de zu sehen. Großartig ist darin die Darstellerin der Staatssektretärin (der Druckfehler ist wohl gewollt) Franziska Eisenreich. Ich bin sicher, sie wird von einer unserer Parteien demnächst engagiert werden.
Wir nehmen Büchner dazu
Aus dem Städtischen Sophie Scholl Gymnasium in München wurden die Aktivisten des Zentrums für Politische Schönheit verwiesen, weil es sich um eine politische Demonstration handele und nicht um Kunst. Nun ja. Das ist ein wenig wie mit dem Kopftuch.
Man kann es für ein Kopftuch ansehen oder als die Demonstration einer politischen Einstellung. Wenn ich mir meinen alten Deutschlehrer Neumann aus den frühen 60er-Jahren in die Gegenwart zoome, dann denke ich mir, er hätte so reagiert: Eine großartige Idee. Wir machen das mit den Flugblättern und wir nehmen die von Büchner dazu – „Friede den Hütten! Krieg den Palästen“ – und diskutieren darüber, wie Kunst und Politik zusammenhängen, wie sie auseinanderdriften und warum wir beides und manchmal auch ein Gemisch von beidem brauchen und warum manchmal die Vermischung von beidem – „Ästhetisierung der Politik“ – lebensgefährlich ist.
Obrigkeitsstaatliche Reaktionen
Eine solche Reaktion hätte der Aktion des Zentrums für Politische Schönheit den Stachel genommen, aber es hätte sie genutzt zu einer sicherlich sehr amüsanten – wie sagt man heute – „Unterrichtseinheit“. Amüsant wäre sie gewesen, weil es daneben eine Reihe sehr obrigkeitsstaatlicher Reaktionen gibt, die ernsthaft erörtern, ob man gegen das Zentrum nicht wegen „Amtsanmaßung“ oder Missbrauch von Amtsabzeichen vorgehen sollte.
Man stelle sich vor, die Aktion hätte im Theater stattgefunden. Man hätte kein Ministerium erfinden müssen, auch keine Staatssekretärin. Das Theater wäre die Klammer gewesen, die alles, was darin geschieht, als Fiktion kenntlich gemacht hätte. Desto genauer hätte man bei den Tatsachen bleiben können. Desto größer wäre das Gelächter über den Schuldirektor gewesen. Der aber wäre nicht real gewesen, sondern eine Kunstfigur.
Das Zentrum für Politische Schönheit hat das Theater verlassen. Es führt sein Stück mit wirklichen Helden auf. Jeder der Angesprochenen und auch wir, die Zuschauer, haben die Chance, uns zu blamieren oder uns mit einem fröhlichen Lachen aus der Affäre zu ziehen. Die Vorstellung allerdings, deutsche Schulen würden Schüler dazu ausbilden, weltweit als demokratische Kreuzritter aufzutreten, ist mir sehr unsympathisch. Das politische Engagement sollte das des Einzelnen und nicht die Aufgabe einer staatlichen Behörde sein.
Das Herz hat seine Gründe
Über all das und noch ein paar andere Fragen ließe sich ausgiebig und erregt streiten. Vielleicht geschieht das gerade in Münchner Schulen. Vielleicht bringt die Aktion des Zentrums für Politische Schönheit Schüler und andere Menschen in weiteren Städten und Dörfern in der Bundesrepublik auf neue Ideen.
Vielleicht ist diese Münchner Aktion ja erst ein Anfang. Am 7. und 8. Juli tagt in Hamburg das G20-Gipfeltreffen. Einige Präsidenten der vom Zentrum erwähnten Staaten werden dort sein: China, Russland, Saudi-Arabien und Türkei. Ein paar Flugblätter könnten so viel leichter ihre Adressaten finden. Blaise Pascal schrieb: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ Die Kunst, könnte man sagen, findet Wege, wo die Politik nur Barrikaden sieht.