Zum 100. GeburtstagWie Sophie Scholl gegen die Nazis kämpfte

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Sophie Scholl-Kultur

Sophie Scholl

Köln – „Der 18. Februar 1943 ist“, schreibt Maren Gottschalk, die Kölner Biografin der Sophie Scholl, „als der Tag in die Geschichte eingegangen, an dem Sophie und Hans Scholl im Hauptgebäude der Münchner Universität Flugblätter verteilt haben und verhaftet wurden.“ Viele solcher Daten in der Geschichte des Dritten Reiches gibt es nicht: Der 20. Juli 1944 wäre hier zu nennen und der 8. November 1939 – der Tag des gescheiterten Attentats von Georg Elser auf Hitler.

Die letztgenannten Daten verbinden sich mit Versuchen, den Nationalsozialismus durch die physische Ausschaltung seiner Führung zu beseitigen. Die Mitglieder der Weißen Rose – wie das Netzwerk aus rund 30 Personen (meist Studierenden der Münchner Uni) später genannt wurde – ging es um etwas anderes: durch Flugblattaktionen die Leser aufzurütteln und so am Kochen zu halten, was sich in den empörten studentischen Reaktionen auf eine Rede des Vize-Gauleiters Paul Giesler kurz zuvor bereits anzubahnen schien. Der hatte den Studentinnen angeraten, statt ihre Zeit an der Uni zu vertrödeln, dem „Führer lieber jedes Jahr ein Kind zu schenken“.

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So oder so hatte es das Flugblatt (es war bereits das sechste, das schwerpunktmäßig in München auftauchte) in sich, das die Geschwister von der Balustrade im zweiten Stock des Hauptgebäudes in den Lichthof warfen. Februar 1943, das war der Monat nach dem Untergang der sechsten Armee in Stalingrad, auf den sich das Blatt direkt bezog: „Kommilitoninnen! Kommilitonen! Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr, der Tag der Abrechnung ist gekommen.“

Leichtsinnig und unvorsichtig

Leider ging die Weiße Rose leichtsinnig und unvorsichtig zu Werke – selbst unter der Maßgabe, dass die Lichthof-Aktion geplant war. „Sie waren halt“, sagt Maren Gottschalk im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, „keine studierten Widerstandskämpfer. Und sie waren Anfang 20 und standen unter einem wahnsinnigen Druck.“ So fielen sie dem Hausmeister Jacob Schmid in die Finger, der die Szene beobachtet hatte. Er übergab sie dem Universitätssyndikus, der seinerseits die Gestapo herbeiholte.

Damit war das Schicksal der Scholls und etlicher Mitverschwörer besiegelt. Sophie stritt zunächst alles ab, aber das ließ sich unter dem Druck der Indizien nicht aufrechterhalten. Dann aber stand sie zu ihrem Tun, ohne um Gnade zu bitten. „Sie wusste wohl“, so Gottschalk, „dass es letztlich keinen Ausweg gab und wollte dem Regime nicht den Triumph gönnen, vor ihm eingeknickt zu sein.“ Bereits am 22. Februar verurteilte sie der Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des berüchtigten aus Berlin nach München geeilten Roland Freisler zum Tode. Das Urteil wurde am selben Tag vollstreckt.

Warum ausgerechnet Sophie Scholl?

Was hatte – diese Frage liegt nah – ausgerechnet Sophie Scholl, die an diesem Sonntag vor hundert Jahren in Forchtenberg nahe Heilbronn in eine liberale, bildungsbürgerlich-protestantische Familie hineingeboren wurde, auf ihren Weg geführt? Die Bestimmung, als Widerstandskämpferin in jungen Jahren auf dem Schafott zu enden, ist schließlich niemandem in die Wiege gelegt.

Ein oppositionelles Elternhaus, Erfahrungen in HJ und Arbeitsdienst, schließlich das Erlebnis des Vernichtungskrieges, den Sophie Scholl am eigenen Leib zwar nicht erlebte, der ihr aber durch die Berichte von Freund und Bruder nahegebracht wurde – es sind notwendige, aber keine hinreichenden Faktoren. Andere 20-jährige – sogar die meisten, die vergleichbare Erfahrungen machen mussten, fanden nicht den Weg in den bedingungslosen Widerstand, wurden vielmehr zum Teil fanatische Nationalsozialisten, bereit, selbst ihre Eltern zu denunzieren.

Die höchste Moral-Stufe

So wird man doch von einer unverfügbaren individuellen Charakterdisposition auszugehen haben. Der amerikanische Pädagoge und Psychologe Lawrence Kohlberg beschreibt in seiner Theorie der Moralentwicklung verschiedene Bewusstseinsstufen, die von der präkonventionellen über die konventionelle zur postkonventionellen Moral führen. Die letzte und höchste Stufe, die nicht viele Menschen erklimmen, gilt einem prinzipiengeleiteten, autonomen Moralbewusstsein, das keine andere Handlungsmaxime akzeptiert als diejenige, die die strenge Prüfung dieses Bewusstseins passiert. Sophie Scholl, die ihr Nahestehende als so lebenshungrig wie empathisch beschreiben, gleichzeitig intellektuell fordernd und unfähig zu vom (Über-)Lebenstrieb gesteuerten Kompromissen in moralischen Entscheidungsfragen, wird man bescheinigen dürfen, diese höchste Stufe erreicht zu haben. Indes gibt auch Kohlberg keine Antwort darauf, warum genau nun diese auf sie kommt, jener aber nicht.

Vergegenwärtigt man sich die jüngere NS-bezogene Gedenkkultur, so will es scheinen, dass die Weiße Rose und zumal Hans und Sophie Scholl darin präsenter sind als der militärische Widerstand des 20. Juli, geschweige denn die kommunistische Opposition etwa der Roten Kapelle. Wie viele Stauffenberg-Gymnasien und -Straßen gibt es – und wie viele Geschwister-Scholl-Schulen und -Plätze?

Präsenter als Stauffenberg

Maren Gottschalk teilt diese Einschätzung und nennt die Gründe: Inge Scholl, die Schwester, war schon 1952 mit ihrem Buch über die Weiße Rose auf dem Buchmarkt, also zu einer Zeit, da die Verschwörer des 20. Juli noch weithin als Verräter galten. Hingegen waren die Mitglieder der Weißen Rose im Nachkriegsdeutschland in hohem Maße anschlussfähig: Sie waren – das zeigen die Flugblätter eindeutig – christlich, humanistisch und europäisch orientiert. Dabei hatten sie – anders als etwa der Kreisauer Kreis – keine genauen politischen Zukunftskonzepte, aber eben auch keinerlei und sei es noch so leise kommunistische Sympathien. Die anfängliche Kanonisierung der Weißen Rose in der DDR habe, sagt Gottschalk, mit der Zeit nachgelassen: Aus tiefer Bürgerlichkeit stammend und trotzdem den „Faschismus“ bekämpfend – da stellte sich auf längere Sicht für die realsozialistische Ideologieproduktion eine schmerzhafte kognitive Dissonanz ein.

Vor allem aber ist da „die Aura jugendlicher Unschuld“ (Gottschalk), die sich auch heute noch mit Sophie Scholl und ihren Mitstreitern (die ungerechtfertigt im Schatten der Geschwister stehen) verbindet. Tatsächlich: Während Sophie Scholl generationsbedingt „nur“ im BDM war, tragen viele Verschwörer des 20. Juli den Makel, ihrerseits in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickt gewesen zu sein.

Bereit, für eine Idee zu sterben

Wer mit knapp über 20 für eine Idee zu sterben bereit ist, taugt zur Ikone. Die Wahrnehmung gerade Sophie Scholls ist dieser Gefahr und der unverbindlichen Platzierung der Gestalt im imaginären Heiligen-Himmel nicht entgangen. Übrigens nicht nur im imaginären: 60 Jahre nach ihrer Hinrichtung wurde Sophie Scholl in die Ruhmeshalle Walhalla bei Regensburg aufgenommen.

Als gefeierte Märtyrerin ist sie indes zu schlecht bedient – wie auch Maren Gottschalk auf der letzten Seite ihres Buches feststellt: „Wachsamkeit, Mut und das entschiedene Eintreten für Menschenwürde und Freiheitsrechte – das ist Sophie Scholls Erbe, das wir bewahren müssen. Wer sie bewundert oder verehrt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er bereit ist, seine Stimme gegen das Unrecht in unserer Gesellschaft zu erheben.“

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