Laufen lernenBloß kein Stress für Krabbelkinder

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Kinder bestimmen selbst, wann sie auf eigenen Füßen stehen. (Bild: Jupiter)

Kinder bestimmen selbst, wann sie auf eigenen Füßen stehen. (Bild: Jupiter)

„Was denn, der Kleine läuft ja noch gar noch nicht?“ Diese Frage bekommen Eltern öfter zu hören, wenn der erste Geburtstag ihres Kindes bereits ein paar Monate zurück liegt. Und das nervt: Schließlich gehört schon eine gute Portion Selbstbewusstsein dazu, lächelnd zu beobachten, wie das eigene Kind das letzte in der Spielgruppe ist, das nach wie vor auf allen Vieren durch die Gegend krabbelt.

Stolz auf den eigenen Füßen die Wohnung erkunden - das kann bereits die Hälfte aller Kinder ungefähr dann, wenn der erste Geburtstag gefeiert wird. Im Alter von 15 Monaten, so Kinderarzt Jörg Schriever, Unfallbeauftragter des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJD) mit Sitz in Köln, beherrschen bereits 75 bis 80 Prozent diese hohe Kunst des Gleichgewichts. Aber viele lernen auch erst mit 16 oder 17 Lebensmonaten das Laufen. Und keine Sorge, auch das liegt noch im Rahmen dessen, was als normal gilt.

Nichts mit Intelligenz zu tun

Bewundert werden aber meist die Kinder, die früh auf die Beine kommen. Eines von hundert schafft das bereits gegen Ende seines neunten Lebensmonats. Mit Intelligenz hat das nicht unbedingt zu tun. „Diese Jungen und Mädchen haben Schwangerschaft und Geburt optimal überstanden und konnten sich danach ungebremst entwickeln“, so Schriever. Was aber nicht bedeutet, dass die geistige Entwicklung beim Laufenlernen gar keine Rolle spielt. Der Sportpädagoge und Geschäftsführer des Bonner Fördervereins für Psychomotorik, Rudolf Lensing-Conrady weiß: „Neugierde treibt an, auf eigenen Füßen stehen zu wollen.“

Die körperliche Entwicklung ist entscheidend: „Laufen ist einer der kompliziertesten Bewegungsabläufe des Menschen. Erst wenn Nervensystem, Knochen, Bänder, Muskeln und Gelenke bereit sind, den Körper zu tragen, wird das Kind die ersten Lauf-Versuche machen. Ganz so, als wüsste es, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist“, erklärt Rudolf Lensing-Conrady. Schließlich müssen etwa 60 Knochen bewegt werden und mehr als 60 Muskeln zusammenarbeiten.

Kinder lernen von alleine

Üben müssen Eltern mit dem Nachwuchs nicht: Jedes Kind lernt alle Bewegungsarten von ganz alleine. Das wusste auch schon Emmi Pikler, ungarische Kinderärztin (1902-1984) und Begründerin der Babykurse „Das erste Lebensjahr“. Anleitung durch Eltern sei unnötig, befand sie: Im Gegenteil, sie störe sogar. Neuere Untersuchungen bestätigen ihre Erkenntnisse von damals. Denn: Jeder Bewegungsablauf baut auf dem vorherigen auf. Erst wenn sich beispielsweise ein Kind sicher in den Stand hochziehen kann, wird es einen ersten Schritt ins Leben wagen.

Was brauchen Jungen und Mädchen also wirklich, um Laufen zu lernen? „Bewegungsfreiheit ohne Verletzungsgefahr und ein paar Spielzeuge als Anreiz, sich beschäftigen und fortbewegen zu wollen“, sagt Michaela Heck, Pressesprecherin beim Deutschen Grünen Kreuz (DGK) in Marburg. Ideal: „Eine Krabbeldecke mit Rasseln und Greiflingen.“ Natürlich dürfen Eltern auch ab und an mit ihren Kindern an der Hand hin- und herlaufen. „Alles, was Kindern Spaß macht, ist gut“, sagt Jörg Schriever vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Schädlich dagegen für die Entwicklung der Motorik: Zu viel Liegen in der Auto-Baby-Schale, in der Babywippe oder im Kinderwagen.

Eigene innere Uhr

Jedes Kind hat seine eigene innere Uhr, nach der es Laufen lernt. „Es gibt eine familiäre Komponente“, so Schriever. Wenn Vater und Mutter früh laufen konnten, sei es wahrscheinlich, dass das Kind in ihre Fußstapfen tritt. Das gleiche gilt für den umgekehrten Fall. Individuell ist auch die Art und Weise, wie Kinder schließlich auf die Füße kommen. Erst Robben, dann Krabbeln, schließlich Hochziehen in den Stand - und dann ab die Post: so macht's nicht jedes Kind. Manche lassen einzelne Bewegungsabläufe einfach aus. Michaela Heck: „Knapp ein Fünftel der Kinder überspringt einzelne Phasen.“ Und auch das sei völlig in Ordnung. Das Urteil der Expertin dazu: „Mit Achtung und Vertrauen in den Entwicklungsrhythmus der Kinder helfen Eltern ihren Kindern am meisten.“

Wer sich trotzdem ernsthaft Sorgen macht, weil sein Kind noch nicht läuft, der sollte sich zuerst an den Kinderarzt wenden. „In den meisten Fällen liegt aber keine besondere Störung vor“, so Schriever. Auch wer spät auf wackeligen Beinen steht, kann sich später sehr sicher durchs Leben bewegen.

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