GastbeitragDie selbstbewusste Maria – eine andere Weihnachtsgeschichte

Lesezeit 4 Minuten
Ein viktorianisches (über 100 Jahre altes) Buntglasfenster in einer englischen Kirche, das eine Krippe darstellt.

Maria und Jesus in einem viktorianischen Buntglasfenster.

Die Weihnachtsgeschichte setzt ganz andere Akzente als diejenigen, die in der katholischen Kirche höchstlehramtliche Urteile über Frauen und Männer, Familie und Lebensform fällen.

Man hätte diese Geschichte auch ganz anders erzählen können. Marias Geschichte, die sich jederzeit, überall auf der Welt wiederholt. Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, wird schwanger – ungewollt, ungeplant und viel zu früh. Keiner weiß, von wem. Aber alle wissen, dass so etwas selten gut ausgeht. So eine Frau kann sich in der Gesellschaft der Anständigen nicht mehr blicken lassen. Nun soll sie selbst sehen, wo sie bleibt und wie sie sich und ihr Kind durchbringt.

Der Evangelist Lukas hat unsere Vorstellung von Weihnachten mit Hirten und Engeln, Maria und Josef und dem Kind in der Krippe am stärksten geprägt. Er erzählt die Geschichte so: Das Kind in Marias Bauch ist zwar ganz und gar ungeplant – aber es ist definitiv ein Wunschkind. Das Wunschkind aller Menschen aller Zeiten. Denn es wird für Gerechtigkeit sorgen. Mächtige entmachten. Ohnmächtige empowern. Marias Kind ist ein Gotteskind, Gottes Treue und Erbarmen in Person.

Genau genommen, erzählt Lukas das gar nicht selbst. Er lässt andere sprechen, die sonst wenig Gehör finden, obwohl sie viel zu sagen hätten. Zuerst den Engel: Er kündigt Maria ihre Schwangerschaft an und sagt, dass auf ihrem Kind große Erwartungen liegen. Dass sie aber keine Angst haben soll vor dem, was kommt.

Eine Zumutung, die Marias ganzes Leben auf den Kopf stellt

Außerdem redet noch Elisabeth, eine ältere Verwandte. Zu ihr flüchtet sich Maria nach der verwirrenden Begegnung mit dem Engel, nach dieser Zumutung, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Zu Elisabeth hat sie Vertrauen. Ihr Rat tut ihr gut.

Elisabeths Worte und der Gruß des Engels aus dem Lukas-Evangelium haben sich tief in die christliche Frömmigkeit eingeschrieben: „Ave Maria! – Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir“, sagt der Engel. „Du bist gebenedeit (also gesegnet) unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes (also dein Kind)“, sagt Elisabeth.

Die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzt es treffender. Da sagt der Engel: „Maria, freu dich!“ Und Elisabeth, die ihr die Schwangerschaft schon von weitem ansieht, öffnet ihr die Tür und sagt einfach: „Willkommen!“

Maria findet zu ihrer eigenen Deutung einer vertrackten Situation

Elisabeths Solidarität macht Maria stark. So findet sie zu ihrer eigenen Deutung dieser vertrackten Situation: „Magnifikat! – Meine Seele preist die Größe des Herrn! Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.“ Über Gott, der Erbarmen hat. Der Mächtige von ihren Thronen stürzt und Erniedrigte erhöht.

Ganz in diesem Sinne verkünden es später, als das Kind geboren ist und in der Krippe liegt, auch die Engel den Hirten auf dem Feld: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seiner Gnade.“

Weder Spießer noch Vertreter staatlicher Fürsorge haben etwas zu sagen

Außer den Engeln, Maria und Elisabeth redet in der Weihnachtsgeschichte des Lukas niemand. Keiner, der Maria verurteilt, nicht einmal Josef, ihr Verlobter. Niemand, der Spott und Häme über sie ausgießt. Weder die Spießer aus dem Dorf noch Vertreter staatlicher Fürsorge haben hier etwas zu sagen. Übrigens auch keiner, der aus Marias Geschichte Folgenschweres über die Frau an sich, über Schwangerschaft und Geburt, Ehe und Sexualität ableitet.

Die Weihnachtsgeschichte setzt ganz andere Akzente als diejenigen, die in der katholischen Kirche höchstlehramtliche Urteile über Frauen und Männer, Familie und Lebensform fällen. Da haben es unehelich geborene Kinder, geschiedene Paare und Patchworkfamilien immer noch schwer. Da verklären Kirchenmänner Maria zum Idealbild aller Frauen: asexuell und unpolitisch, bedürfnislos und voller Hingabe für andere, Jungfrau und Mutter zugleich.

In der katholischen Kirche dient Maria dazu, Ungerechtigkeit zu legitimieren

Ob Frauen in diesem männergemachten Marienbild selbst ein Vorbild sehen, zählt nicht. Auch vom Jubel der Frauen über Gott, der sie rettet, ist wenig zu hören. Da ist keine Rede davon, dass Gottes Gerechtigkeit natürlich auch für Frauen in der Kirche gilt. Dass der Sturz der Mächtigen natürlich auch die mächtigen Männer in der Kirche meint. Im Gegenteil. In der katholischen Kirche dient Maria dazu, geschlechtsspezifische Ungerechtigkeit zu legitimieren und weibliche Opferbereitschaft zu idealisieren.

Weihnachten ist die Geschichte von Hirten und Engeln, Maria und Josef und dem Kind in der Krippe. So wie wir sie von Lukas kennen. Weihnachten ist aber auch die Geschichte eines Mädchens, das gesellschaftlichen Regeln trotzt und selbstbewusst seinen Weg geht. So wie wir es bei Lukas lesen.

Gottes Reich auf Erden beginnt in menschlicher Verbundenheit und Respekt

Weihnachten ist auch die Geschichte einer jungen Frau, die - gestärkt durch weibliche Solidarität - noch in den Zumutungen des Lebens Großes erwartet. Die schließlich in Jubel ausbricht über Gott, der Gerechtigkeit will.

Und das Neugeborene, Marias Sohn? Jesus wurde groß und erfüllte manche Verheißung. Er durchkreuzte auch manche Erwartung, die auf ihm lag. Er stand dafür ein, dass Gott den Menschen zugewandt ist. Dass Gottes Reich auf Erden beginnt: in menschlicher Verbundenheit und gegenseitigem Respekt. Wo Menschen sich für Frieden und Gerechtigkeit engagieren. Wenn Mächtige entmachtet und Ohnmächtige gestärkt werden. Wenn Frauen und Männer jubeln können über Gott, ihren Retter. Genau das sagt sein Name. „Jesus“ bedeutet: Gott rettet.

Zum Jahreswechsel 2022/23 schreibt auf ksta.de der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel.

KStA abonnieren