Mentale TiefenbohrungDoktor über die Kalker Arbeiterklasse

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Günter Bell schrieb in seiner Dissertation über die Kalker Arbeiterklasse. (Bild: Kisters)

Günter Bell schrieb in seiner Dissertation über die Kalker Arbeiterklasse. (Bild: Kisters)

Kalk – „Kalk ist ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist“, sagte einer der Interviewpartner, die Günter Bell zum Thema „Klassenbewusstsein und Klassensolidarität in sozial-räumlichen Milieus“ im Rahmen seiner Doktorarbeit im Stadtteil Kalk befragte. Damit hatte der Kölner Stadtplaner und Sozialwissenschaftler auch schon den Titel für seine Untersuchung gefunden, die der Frage nachspürt, ob es heute überhaupt noch verschiedene gesellschaftliche Klassen gibt.

Vor allem: Ob mit der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse gleichzeitig unverwechselbare gemeinsame Erfahrungen, ein solidarisches Bewusstsein und die Bereitschaft, politisch zu handeln, verbunden sind. Auf Kalk bezogen bedeutet das: Wie nehmen sich die Kalker als Bewohner ihres Stadtteils wahr? Bell hatte also nichts Geringeres im Sinn als eine mentale Tiefenbohrung zum Viertel zu schreiben. Die Dissertation, die Bell an der Universität Dortmund in der Fakultät „Raumplanung“ vorlegte, ist nun auch als Buch erschienen.

Grund genug also für die Naturfreunde Kalk und die Geschichtswerkstatt Kalk einen Vortrag mit Günter Bell im Naturfreundehaus Kalk zu organisieren. Gleich vorweg: Als Klassengesellschaft sehen sich die Kalker nicht - obwohl die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinanderdriftet. Politische Aktionen würden damit unwahrscheinlicher, weil eben auch das gemeinsame Klassenbewusstsein schwinde. Vielmehr, so Günter Bell, „gibt es heute viel individuelle Empörung und viele Parallelwelten, die trotz ihrer Probleme nicht zu einer gemeinsamen öffentlichen Artikulation und Handlungsperspektive finden“.

Das wird zum einen durch die fehlende gemeinsame Sprache und den Rückzug auf verschiedene Ethnien erschwert. Zum anderen trägt das seit den 1970er Jahren von Fernsehen und Auto extrem individualisierte Freizeit- und Alltagsverhalten dazu bei,dass die Menschen nicht mehr regelmäßig an öffentlichen Orten zusammenkommen.

Anders als die meisten Soziologen hat Bell sich gegen einen statistischen Ansatz in seiner Untersuchung entschieden. Stattdessen hat er qualitative Interviews geführt, die „anders als Statistiken näher an die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Menschen herankommen“. Er hatdie Jahreshauptversammlungen verschiedener politischer Parteien besucht, ist beim Straßenfest in der Manteuffelstraße gewesen und hat ein Fußballspiel von Borussia Kalk miterlebt. Alles immer mit dem Ziel, aufmerksam darauf zu achten, wie die Menschen in diesem einst von Industriearbeit geprägten Stadtteil leben. Nicht alle Zuschauer waren allerdings immer seiner Meinung:Sozialromantik warf ihm etwa ein Zuhörer vor. „Heute gibt es eine Glorifizierung von schwerer, dreckiger Arbeit. Ihr Wegfall sollte kein Problem sein. Die Frage ist doch nur, was tritt an dessen Stelle, und das ist ziemlich prekär“, sagte eine Zuhörerin. „Ich kritisiere in meiner Untersuchung nicht, ich stelle keine Forderungen, ich analysiere nur“, erwiderte Bell.

Günter Bell, „Ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist“, VSA-Verlag, 16.80 Euro

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