MusikKomponist Mauricio Kagel gestorben

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Mauricio Kagel (Bild: Knieps)

Mauricio Kagel (Bild: Knieps)

FRANKFURT/KÖLN - Als Sohn jüdisch-russisch-ukrainisch-deutscher Immigranten an Heiligabend 1931 in Buenos Aires geboren, blieb er sein Leben lang fremd und daheim zugleich in verschiedenen Ländern, Kulturen, Sprachen, Stilen und Sparten. Jetzt ist der komponierende Autodidakt und neugierige Wilderer in musikalischen, musikverwandten und musikfernen Regionen nach langer Krankheit gestorben. Mit Mauricio Kagel verliert Köln nach Karlheinz Stockhausen einen weiteren weltweit klingenden Namen, einen der Gründerväter und bekanntesten Komponisten der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg.

Durch Klavier-, Cello-, Klarinetten-, Gesangs- und Dirigierunterricht entwickelte sich Kagel früh zum versierten Orchester- und Bühnenpraktiker. Schon während des Studiums von Literatur, Philosophie und Ethnologie in seiner argentinischen Geburtsstadt drehte er erste Filme, leitete Chöre, arbeitete als Kritiker sowie als Korrepetitor am Teatro Colón unter Erich Kleiber.

Dank eines DAAD-Stipendiums kam er 1957 nach Köln, um hier im Studio für elektronische Musik des WDR zu arbeiten. Seitdem ist er der Domstadt treu geblieben, seit 1980 mit deutscher Staatsbürgerschaft. Die dichte Folge, in der er während der letzten Jahre Werk auf Werk schuf, ließ erahnen, wie der Schwerkranke bereits gegen die Zeit anschrieb. Nicht umsonst arbeitete er bis zuletzt in Gedanken an das Siechtum Heinrich Heines an einem Stück mit dem Titel „In der Matratzengruft“, das im April in München hätte uraufgeführt werden sollen.

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Unermüdlicher Arbeitseifer in Köln

In Köln hat Kagel während 50 Jahren mit unermüdlichem Arbeitseifer ein ebenso umfangreiches wie vielseitiges Oeuvre geschaffen. Unter seinen mehr als 200 Werken befinden sich über 30 für die Bühne, 20 Filme und zahlreiche Hörspiele. Hinzu kommen mehrere Schriftenbände und viele selbst gebaute Instrumente. 2006 waren davon einige in Basel zu sehen im Rahmen einer Ausstellung der Paul Sacher-Stiftung, die seinen künstlerischen Nachlass verwahrt: Rollratsche, Flipperkasten, Prallkugeldosenbrett, mit Saugnäpfen bestücktes Nudelholz, Klangwürfel, Klappersandalen, Flüstertüten, Spiralfeder- und Schüttelkästen. Kagels kindlich-anarchische Lust am Spiel, Erfinden und Ausprobieren kannte keine Grenzen. Mit zahllosen ungewöhnlichen Gerätschaften entfaltete er in „Acustica“ eine ganze Welt aus vielstimmigem Schwingen, Schallen, Tönen, Tröten.

Kagel war ein Querdenker. Während die Kölner Komponistenkollegen Stockhausen und Gottfried Michael Koenig in den 50er Jahren mittels des elektronischen Zauberkastens an einer völlig neuen „Sternenmusik“ und einer präzisen Ausgestaltung sämtlicher Klangeigenschaften arbeiteten, unterlief Kagel die seriellen Determinationsbestrebungen durch karikierende Übererfüllung. Indem er sämtliche Eigenschaften seines Stücks „Anagrama“ aus den Worten, Silben und Buchstaben eines kurzen lateinischen Satzes ableitete, führte er die Willkür des seriellen Verfahrens, den Sprachverlust ad absurdum.

Und während andere krampfhaft auf die Reinheit ihres Metiers achteten, erweiterte Kagel den künstlerischen Darstellungs- und Wahrnehmungshorizont um außermusikalische Aspekte. Dabei richtete er seinen ethnologischen Blick mit Vorliebe auf die eigentümlichen Rituale der abendländischen Musik, um deren jahrhundertelang eingespielte Abläufe des Musizierens, Dirigierens, Applaudierens aus veränderter Perspektive neu zu betrachten, zu bestimmen und gegebenenfalls über Bord zu werfen.

Die Auffassung von Musik als sicht- und hörbare Kunst führte ihn zum „instrumentalen Theater“. Statt Musik einfach singen oder spielen zu lassen, komponierte er seit der Bremer Uraufführung von „Sur scéne“ 1962 vor allem Hör- und Schaustücke, in denen er die Rahmenbedingungen der Produktion und Rezeption von Musik zum Thema machte: Bühne, Raum, Licht, Requisiten, Film- und Studiotechnik sowie die Funktionalisierungen in Gesellschaft und Medien.

Musikstück ohne Musik

Auch ganz Handgreifliches machte er zum Thema, etwa die Bau- und Spielweisen von Instrumenten oder den Alltag von Musikern mit Üben, Proben, Konzertieren, Fehlleistungen und körperlichen Gebrechen. In „Phonophonie“ zeigte er den fortschreitenden stimmlichen Verfall eines Opernsängers. Im „Solo für einen Dirigenten“ ließ er Musik allein durch sichtbare Körperhaltung, Bewegung, Gestik, Mimik assoziieren. In „Pas de cinq“ notierte er exakte Schrittfolgen von fünf Spielern, die mit Stöcken über ein Podest aus unterschiedlich klingenden Materialien spazieren. Statt außermusikalische Handlungen darzustellen, brachte er die Musik selbst auf die Bühne.

Mit der Freiheit des Narren hielt Kagel dem bürgerlichen Musikleben den Spiegel vor und deckte verdrängte Wahrheiten auf. Durch liebevolle Demontage altehrwürdiger Gattungen provozierte er sein Publikum und brachte zugleich die Avantgarde gegen sich auf, die in seinen Eulenspiegeleien und Hanswurstiaden den Versuch witterte, tonalen Hörerwartungen wieder entgegen zu kommen. Mit Humor und seinem hybriden Kompromissansatz einer „seriellen Tonalität“ schien er Unvereinbares versöhnen und augenzwinkernd signalisieren zu wollen, dass auch der noch so radikal sich gebende Traditions- und Tabubruch der neuen Musik nicht gar so ernst zu nehmen sei.

Ab 1980 setzte sich Kagel verstärkt mit den Größen des klassisch-romantischen Repertoires auseinander, mit Bach, Händel, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, nach wie vor aber auch mit Film-, Militär, Zirkus- und Unterhaltungsmusik. Seine späteren Arbeiten weisen kaum mehr Szenisches auf und lassen im Vergleich zu früheren bisweilen Biss, Witz und kritische Distanz gegenüber traditionellen Formen und Gattungen vermissen. Fast schien es, als strebe er nach seinen polemischen frühen Jahren nach überzeitlich klassischer Meisterschaft - was ihm Kritiker als Altersmilde oder Müdigkeit attestierten.

Von 1974 bis 1997 hatte Kagel eine Professur für Neues Musiktheater an der Kölner Musikhochschule inne. Unter seinen bekanntesten Schülern leben und arbeiten bis heute in Köln Maria de Alvera, Carola Bauckholt, Johannes S. Sistermanns und Manos Tsangaris. Obwohl selbst sein Humor an Grenzen stoßen konnte, ist nicht auszuschließen, dass Kagel, der zahlreiche Preise erhielt, jetzt noch gern ein neues Stück auf seine eigene Beisetzung und die nun allerorten auf ihn erscheinenden Nachrufe komponiert hätte. Immerhin hatte er sich noch 1981 zu Lebzeiten mit „Finale“ sein eigenes Requiem geschrieben.

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