Neuer WelttagDie Nerds verlassen den Keller

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Der Microsoft-Gründer und möglicherweise berühmteste Nerd der Welt: Bill Gates. (Bild: dpa)

Der Microsoft-Gründer und möglicherweise berühmteste Nerd der Welt: Bill Gates. (Bild: dpa)

KÖLN - Seit drei Monaten gilt der 29. Juli als neuer Gedenktag. Der wurde aber nicht von den Vereinten Nationen ausgerufen, sondern von dem Hamburger Studenten Tim Könecke. Es handelt sich dabei um den Welt-Nerd-Tag. Den Nerds, die allgemein als Fachidioten, Langweiler und Sonderlinge gelten, soll ein eigener Tag gewidmet werden. Köneckes Vorschlag schlug Wellen, erfreut sich auf Facebook großer Beliebtheit und zieht das Interesse der Medien auf sich. Aber was ist überhaupt ein Nerd? Und warum braucht diese Spezies ihren eigenen Tag?

Das fragte ksta.de den Gründer. „Ich bin überrascht, dass ich der erste zu sein scheine, der den Nerds dieser Welt einen eigenen Tag widmen will. Schließlich gibt es für so ziemlich alles einen eigenen Tag! So wie der Tag des deutschen Butterbrotes oder der internationale Jogginghosen-Tag. Da muss doch auch irgendwo Platz für die Nerds dieser Welt sein,“ so Köneckes Antwort. Dabei war er ganz zufällig auf die Idee gekommen: Ende April saß der 21-Jährige in der Universität und erschuf spontan das Logo für den Welt-Nerd-Tag. Erst dann dachte er weiter, stellte sicher, dass es den Gedenktag noch nicht gab und ernannte kurzerhand auf Facebook den 29. Juli dieses Jahres zum ersten Welt-Nerd-Tag.

Dabei sieht Tim Könecke überhaupt nicht so aus, wie es das Klischeebild des Nerds vorschreibt: Er ist nicht etwa ein pickeliger, blasser junger Mann, der mit fettverschmierten Händen im Keller Programme schreibt und ausschließlich mit anderen Menschen in Kontakt kommt, die am selben Online-Rollenspiel beteiligt sind. Könecke studiert auch nicht Informatik, sondern Grafikdesign, er trägt modische Shorts und Sneaker, von einer Hornbrille fehlt jede Spur. Den Welt-Nerd-Tag wird er zwar mit Videospielen verbringen – schließlich ist Könecke Redakteur beim Videospielportal pixelburg.org –, aber nicht allein, sondern mit Freunden, Bier und guter Musik.

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Auch die Benutzer, die auf Facebook ihre Teilnahme angemeldet haben, könnten unterschiedlicher nicht sein: Junge Leute ebenso wie Mitt-Vierziger, Frauen und Männer, Studenten und Berufstätige. Jeder möchte den Tag auf seine Art verbringen. Comics lesen, feiern gehen, lernen, Musik machen, eine selbstgebaute Rakete gen Himmel schießen …

Nicht ganz zu Unrecht wunderte sich ein Benutzer auf dem Facebook-Profil des Welt-Nerd-Tages: „Ich frage mich, wie viele von den ganzen Zusagen wirklich Nerds sind.“ Könecke jedoch ist sich sicher: „Ich bin ein Nerd. Definitiv. Ich konnte mich früh begeistern für die Welt der Videospiele und Technik. Zwar habe ich keine Ahnung von Mathe, Physik oder Informatik, aber ich denke, das ist es auch nicht, was einen dafür definiert.“

Was aber ist es dann? Was macht eine Person zum Nerd? Muss sie dem Klischee vom Computerbegeisterten mit Hochwasserhosen entsprechen? Oder ist, seit die Popkultur den Stereotyp aufgegriffen und cool gemacht hat, jeder ein Nerd, der sich auch so fühlt?

„Eine eindeutige Formel gibt es nicht“, sagt Bathsheba Birman, Gründerin von „Nerds@Heart“, einer amerikanischen Dating-Agentur. Unter dem Grundsatz „Nerd is the new sexy“ organisiert sie als erste Agentur weltweit ausdrücklich Veranstaltungen für alleinstehende Nerds. „Wir überlassen die Definition des Begriffs unseren Teilnehmern, aber unser Grundsatz lautet: ,Wenn du dich als Nerd fühlst, bist du wahrscheinlich auch einer.‘“ Und es fühlen sich sehr unterschiedliche Leute so: Schriftsteller, Programmierer, Musikfans, Filmverrückte, Comicsammler, Genetiker, Physiker und „so ziemlich jeder, dessen Berufsbezeichnung auf ,-ologe‘ endet.“

Birmans Geschäftsmodell zahlt sich aus: Das Unternehmen aus Chicago hat in zwei weitere Städte expandiert, Veranstaltungen für homosexuelle und umweltbewusste Nerds eingeführt und zählt durchschnittlich 60 Singles pro Treffen. Birman spricht schon von weiteren Städten und einer Online-Dating-Website. „Nerds@Heart“ hat davon profitiert, und sicherlich auch daran mitgewirkt, dass Nerd sein längst nichts mehr ist, wofür man sich schämen muss.

Das beweist nicht nur der Erfolg eher kleinerer Unternehmen wie „Nerds@Heart“, sondern auch das Verhalten der ganz Großen: Hollywood, die Fabrik der Popkultur, bringt inzwischen nicht bloß Filme über Nerds heraus, sondern vor allen Dingen Filme, die nerdig sind. So zum Beispiel „Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt“. Der Hollywood-Riese Universal finanzierte einen Film, der auf einem außerhalb der Szene unbekannten Comicbuch basierte, welches selbst schon mit Insidern gespickt war. Der Humor des Films ist am Besten verständlich für diejenigen, die mit Nintendo, Videospielen und MTV groß geworden sind. Sein Look ist neu und aufregend, aber unbestreitbar Comic-artig. Zwar erbrachte der Film nicht den erhofften finanziellen Erfolg, aber er beweist etwas: Spätestens seit „The Social Network“ sind Nerds massentauglich geworden. Der Außenseiter, der bisher nur im Keller bei Mutti sitzen und schweigend den Bildschirm anstarren durfte, tritt ins Tageslicht. Aber nicht zur Belustigung anderer. Der Nerd wird selbst aktiv, er zeigt seinen Mitmenschen, was er kann.

Diese Entwicklung findet nicht nur in der Popkultur statt, sondern hat längst alle Bereiche der Gesellschaft erreicht. Wenn es einer anonymen Vereinigung von Hackern gelingt, die Websites der größten Kreditkartenunternehmen der Welt zum Absturz zu bringen, dann zeigt das: Die Nerds haben ihr Potenzial entdeckt und sind bereit, mitzuspielen. Bei dieser Entwicklung handelt es sich jedoch nicht um die viel proklamierte „Rache der Nerds“. Ganz im Gegenteil: Viele der von ihren Mitmenschen diffamierten Nerds organisieren sich, um mit ihren Fähigkeiten einen konstruktiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Neben der Piratenpartei ist das beste Beispiel dafür der Chaos Computer Club, kurz CCC. Die größte europäische Hackervereinigung sieht sich selbst als „Vermittler im Spannungsfeld technischer und sozialer Entwicklungen“ und beeinflusst inzwischen durch legitime Kampagnen, Aufklärungsarbeit und Bereitstellung von technischem Fachwissen weitreichende politische Entscheidungen. Es ist nicht zuletzt dem CCC zu verdanken, dass das Bundesverfassungsgericht im März 2009 den Einsatz von Wahlcomputern für verfassungswidrig erklärte. Ein großer Vorteil des CCC ist, dass er wegen seiner dezentralen Struktur und der ihm zugrunde liegenden Hacker-Ethik nur schwer zu bestechen ist. Seine Arbeit wird überwiegend von Freiwilligen geleistet, die keinem kommerziellen Interesse dienen.

ksta.tv: Der Welttag des Nerds in Köln

Dass berühmte Nerds wie Bill Gates und nicht zuletzt Mark Zuckerberg durch ihren finanziellen Erfolg dem Nerdtum eine gewisse Coolness verliehen haben, ist nicht abzustreiten. Dass die Klischee-Nerds selbst sich einen Platz in der Gesellschaft erkämpft haben aber ebenso wenig. Zusammen machen sie das neue Gesicht des Nerds aus. Zusammen verlangen sie nach einer neuen Definition des Begriffs. Die einstige Schulhof-Beleidigung, mit der Viele in ihrer Kindheit und Jugend zu kämpfen hatten, wird weder Tim Könecke noch einem Hacker im CCC gerecht.

Genau das möchte Könecke mit der Gründung des Welt-Nerd-Tages erreichen. „Ich möchte dass ,Nerd sein‘ salonfähig wird und dass die Vorurteile langsam Platz machen für eine neue Definition.“ Für ihn ist die Sache nämlich klar: „Wir tragen nicht alle Hornbrillen, hoch-zugeknöpfte Hemden und Hochwasserhosen. Auch verbringen wir nicht unseren Samstagabend vor dem Monitor. Es sind doch nicht solche Dinge, die eine Person definieren. Es ist die Leidenschaft, die man für manche Dinge besitzt.“

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