MoMA-Chefkurator Martino Stierli„Architektur ist eine gesellschaftliche Kunst“

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Wang Shu, Lu Wenyu: Modell für die Fassade des Jinhua-Keramik-Pavillons, Jinhua, Zhejiang, 2006

Wang Shu, Lu Wenyu: Modell für die Fassade des Jinhua-Keramik-Pavillons, Jinhua, Zhejiang, 2006

Herr Stierli, Ihre Ausstellung „Reuse, Renew, Recycle“ im New Yorker Museum of Modern Art beschäftigt sich mit dem Bauboom in China und fragt nach dem Engagement für soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Welche Ansätze haben Sie angetroffen?

Unsere Ausstellung spiegelt einen Teil der zeitgenössischen architektonischen Produktion in China wider, der als bewusste Reaktion und Anwendung von diesem Gigantismus der letzen Jahrzehnte zu verstehen ist. Die großen Mega-Bauten wurden ja oft von internationalen Büros entworfen, jetzt haben wir eine Generation von Architekten im Alter zwischen 40 und 55 Jahren, die in China aufgewachsen sind und auch dort studiert haben. Die arbeiten an Themen, die wir ökologische und soziale Nachhaltigkeit genannt haben. Wir glauben, dass diese Architekten einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgen, der die Problematik in der chinesischen Kultur verankert. Der in der traditionellen Bauweise nach Wegen sucht, wie wir einen nachhaltigeren Umgang mit diesen beschränkten Ressourcen erreichen können. Ohne das Projekt einer modernen Architektur aufzugeben.

Welche Ideen gibt es da?

Etwa die Idee der Umnutzung: Es gibt einen gebauten Bestand, und statt den einfach niederzureißen, versucht man ihn umzunutzen. Das ist energietechnisch vernünftig, aber auch als Kulturtechnik interessant, weil man sich zum Beispiel auf die Geschichte der Industrialisierung von China bezieht, wenn man Industriebrachen umnutzt. Dann gibt es da einen Ansatz der Revitalisierung vom Aussterben bedrohter dörflicher Regionen. Dieser unglaubliche Bauboom und die ökonomische Neuerfindung Chinas seit den späten 80er Jahren hat zu einer massiven Landflucht und zum Anschwellen dieser Riesenstädte geführt. Jetzt gibt es Architekten, die daran interessiert sind, in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden Methoden zu entwickeln, die den Menschen in diesen Landstrichen ein Auskommen ermöglichen.

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Diese Architektur hat auch eine ganz spezifische, zurückhaltende Ästhetik.

Man kann nicht sagen, dass es einen einzigen Stil gäbe, aber es gibt eine geteilte Sensibilität. Die Wiederverwendung von bestehenden Baumaterialien produziert eine Ästhetik des Erinnerns. Indem sie diesem Verlust des Gedächtnisses, der in den letzten zwei, drei Jahrzehnten in China durch diese massive Zerstörung etwa von ganzen Stadtvierteln stattgefunden hat, ganz bewusst entgegensteuert. Das entsteht aus der Überzeugung, dass materielle Kultur eine Form der Erinnerungskultur sein kann. Da finde ich den Bezug zur Nachkriegsarchitektur in Deutschland sehr interessant.

Lassen sich diese Ansätze in unterschiedlichen Maßstäben umsetzen? Gibt es eine Größengrenze?

Diese Ansätze sind nicht beliebig skalierbar. Die Architektin Xu Tiantian spricht bei ihrem Songjang-County-Projekt von architektonischen Akupunkturen. Es sind alles kleine bis mittelgroße Projekte, eine Tofumanufaktur, eine Teefabrik, ein Museum, aber zusammengenommen haben sie den Anspruch einer großen regionalen Transformation.

Zur Person

Martino Stierli (*1974), ist Chefkurator der Architektur- und Designabteilung am Museum of Modern Art (MoMA), New York.

Auch in Köln gibt es aus der Nachkriegszeit viele Beispiele für Fort- und Überschreibungen. Sind diese Ansätze vergleichbar?

Es gibt viele Projekte in unserer Ausstellung, die das so angehen. Zum Beispiel das Jingdezhen Imperial Kiln Museum in der Keramik-Stadt Jingdezhen, da kommen diese Überschreibungen sehr stark zum Tragen. Das ist ein Museumsneubau inmitten des Stadtzentrums, auf den Ruinen der ehemaligen Brennöfen, wo diese Keramik hergestellt wurde. Dort wurden recycelte Ofenziegeln für einen Neubau wiederverwendet, der auf den Ruinen der Brennöfen entsteht. Zugleich nimmt die Bogenstruktur dieses Gebäudes formal Bezug auf diese Öfen. Das sind vergleichbare Ansätze, Architektur als eine Identifikations- und Identitätsträgerin zu verstehen. Vor diesem Hintergrund wird Architektur nicht als technokratische Lösung eines räumlichen Problems betrachtet, sondern als Beitrag zu einer kulturellen Diskussion, die für die Menschen ein kulturelles Selbstverständnis an diesem Ort hervorbringt. Denn Architektur ist eine soziale, eine gesellschaftliche Kunst.

Das Gespräch führten Adria Daraban, Merlin Bauer und Christian Bos

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