Angeklagter im Wehrhahn-ProzessRalf S., Neonazi, Waffenfreak, ein typischer Verlierer

Lesezeit 7 Minuten
Ein Sprengstoffexperte in Splitterschutzkleidung überprüft verdächtige Mülltüten in der Nähe des Attentatsortes.

Ein Sprengstoffexperte in Splitterschutzkleidung überprüft verdächtige Mülltüten in der Nähe des Attentatsortes.

Düsseldorf – Der Attentäter hat alles minutiös geplant: Er wartet, bis die Gruppe osteuropäischer Sprachschüler die Fußgängerbrücke zur S-Bahn-Station in Düsseldorf-Wehrhahn erreicht hat. Als die zwölf Männer und Frauen in Höhe eines an einem Geländer befestigten blauen Plastikbeutels ankommen, lässt der Mann um 15.03 Uhr an jenem 27. Juli 2000 den Sprengsatz per Fernzünder hochgehen. Knapp 300 Gramm TNT verursachen ein Blutbad. Neun Menschen erleiden teils schwerste Verletzungen. Tatjana L., im fünften Monat schwanger, verliert durch umher fliegende Splitter ihr ungeborenes Kind.

Knapp 17 Jahre hat es gedauert, ehe die Düsseldorfer Ermittler den mutmaßlichen Täter fassen konnten. Es handelt sich um Ralf S., 51 Jahre, ein einschlägig bekannter Neonazi, der offenbar aus Fremdenhass ein blutiges Fanal setzen wollte.

Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück aus Düsseldorf hat den Rechtsradikalen jetzt angeklagt. Es geht um versuchten Mord und die Herbeiführung eines Sprengstoffanschlages. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ soll der Terrorverdächtige kurz nach dem Attentat Sven Skoda, eine berühmt, berüchtigte Nazi-Größe im Rheinland, um ein Alibi für die Tatzeit gebeten haben. Auch bezeichnete der Angeklagte in einem Telefonat „die Wehrhahnsache“ nach der Geburt seiner drei Kinder als vierten Glücksfall.

Mutmaßlicher Täter sprach im Gefängnis über Attentat

Seine Skrupellosigkeit zeigt auch folgende Begebenheit: Bei einer Diskussion über das Thema Abtreibung erläuterte Ralf S. einer Bekannten, dass derjenige kein Mörder sein könne, der ungeborenes Leben auslösche: „Deshalb ist das ja auch nur Abtreibung, was ich gemacht habe.“ So verhöhnte er nach Ansicht der Ankläger das Anschlagsopfer Tatjana L., das sein ungeborenes Kind verlor.

Bereits kurz nach dem Anschlag im Juli 2000 galt der Düsseldorfer Neo-Nazi als Verdächtiger Nummer 1. Durch das Schweigen wichtiger Zeugen aus seinem Umfeld aber kam er davon. So soll der Angeschuldigte seine damalige Lebensgefährtin und eine Bekannte massiv bedroht haben, falls sie auspacken.

Erst als der Ex-Bundeswehrsoldat wegen nicht bezahlter Rechnungen 2014 eine kurze Haftstrafe in der JVA Moers verbüßte, wurde die Fall-Akte erneut geöffnet. Im Streit mit einem Zellenkumpel über sein militärisches Können, offenbarte sich S. als der Attentäter, der „an einem Bahnhof“ mit „Sprengstoff die Kanaken weggesprengt“ hätte. Gemeint waren offenbar die Sprachschüler aus den ehemaligen GUS-Staaten. Überdies erwähnte Ralf S., dass er dabei eine Fernzündung benutzt habe. 

Umgehend nahmen die Strafverfolger die Ermittlungen wieder auf. Dieses Mal schaffte es die neu gebildete Sonderkommission „Furche“ auch, die Ex-Frauen und Freundinnen des Verdächtigen zum Reden zu bringen. Und so erfuhren sie, dass Ralf S. schon vor dem Attentat seine Absichten angekündigt haben soll. Man müsse „mal am Bahnhof was Richtiges machen“ und „diese Kanaken in die Luft sprengen“, soll er gesagt haben.

Das Wehrhahn-Attentat und seine Ermittlungen bieten alle Zutaten für einen Indizienprozess. Ralf S. bestreitet die Vorwürfe vehement. Die Ankläger indes sind überzeugt, den Täter gefunden zu haben. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erhielt nun Einblicke in Ermittlungsakten, die akribisch aufzeichnen, wie die Ermittler einem Mosaik gleich Steinchen für Steinchen aus alten und neuen Erkenntnissen zusammenfügten.

Die Schuld für seine Lebenspleite gibt er anderen – vor allem Migranten

Ralf S., ein Waffenfreak, ist der typische Verlierer. Bei der Bundeswehr muss der Ausbilder wegen seiner charakterlichen Schwächen den Dienst quittieren. Er sei ein „kaputter Typ“ gewesen, „mit einer verkorksten Existenz und dem ständigen Drang, sich zu profilieren“, gibt sein ehemaliger Vorgesetzter zu Protokoll. Vieles, was er danach anpackt, funktioniert nicht. Mal Detektiv, mal Survival-Coach, mal dies und das. Auch sein Militaria-Laden unweit der S-Bahn-Haltstelle Wehrhahn, in dem sich die rechte Szene mit Nazi-Musik und Kampfanzügen eindeckt, läuft nicht. Schulden häufen sich an.

Die Schuld für seine Lebenspleite gibt er anderen – vor allem Migranten. Bekannte schildern ihn in Vernehmungen als rassistischen Hetzer. Als eine Freundin ihn bei der Polizei später als „fremdenfeindlichen, grenzdebilen Psychopathen“, bezeichnet, wird sie von zwei Unbekannten überfallen. Die Männer bestellen ihr „Grüße vom durchgeknallten Psychopathen“. S. ist in der rheinischen Neonazi-Szene gut verdrahtet. Mit seinem Rottweiler patrouilliert er als selbst ernannter Sheriff durch sein Viertel im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Eine seiner drei Ehefrauen heiratet er just am 20. April, dem Geburtstag Adolf Hitlers. Seinen Hund hat er auf das Kommando „Asylant“ abgerichtet.

Um die Jahrtausendwende bedrängen ihn einige Gläubiger. Wegen Mietrückständen werden seine Wohnung und die Geschäftsräume gekündigt. Ralf S. gerät zudem mit Migranten einer gegenüberliegenden Sprachschule aneinander. Es handelt sich um russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge. . Zwei Wochen lang posieren zwei junge Neo-Nazis in Ledermänteln und Springerstiefeln mit ihren Kampfhunden vor dem Schuleingang. Offensichtlich wollen sie Lehrer und Sprachschüler einschüchtern. Mitunter soll auch Ralf S. dabei gewesen sein. Die Anklage legt nahe, dass der Ultrarechte die Zuwanderer mit Drohgebärden „aus seinem Revier vertreiben wollte“. Doch der gewünschte Effekt bleibt aus. Bei Ralf S. soll sich die Wut über sein Scheitern zu unbändigem Hass auf seine späteren Opfer gesteigert haben, meinen die Strafverfolger. Vermutlich war dies der Auslöser für das Attentat.

Ralf S. kennt sich gut mit Sprengstoffen aus

Trotz seiner Finanzprobleme mietet der Extremist eine konspirative Wohnung, in der er vermutlich den Sprengsatz fertigt. Bei seiner Einheit hatte der Zeitsoldat eine Sprengstoffausbildung absolviert. Auch wenn er behauptet, keine Ahnung vom Schweißen zu haben, legen neue Zeugenaussagen seiner Ex-Frauen das Gegenteil nahe. Überdies berichtet sein ehemaliger Zugführer den Ermittlern, dass „der Beschuldigte für die Anbringung von Sprengfallen hervorragend ausgebildet sei“. Er wisse, wie man „einen Sprengsatz verdeckt anbringt und wie bei der Detonation die größtmögliche Wirkung zu erzielen ist“.

Dazu passt auch der Umstand, dass die Kripo schon kurz nach dem Anschlag in der konspirativ angemieteten  Wohnung den Sicherungssplint einer Handgranate sowie ein Anleitungsschreiben für einen elektrischen Zünder findet. Auch bestätigt eine Bekannte des mutmaßlichen Bombenlegers, dass sie ihn zur Tatzeit an einer Bushaltestelle nahe dem Tatort gesehen habe.

Von dort aus soll der Angeklagte mit einer Funk-Fernsteuerung den Sprengkörper gezündet haben: Um die Splitterbildung zu steigern, hatte der Bombenbastler das Außenrohr des zehn Zentimeter hohen Eigenbaus mit Schlitzen und Furchen durchzogen. So wurde das Metallrohr brüchiger, die Sprengwirkung für die Opfer verheerender. Der Sprengstoff TNT stammt vermutlich aus Handgranaten der Bundeswehr.

Verdächtiger verplappert sich in Verhör

Auch hier helfen neue belastende Aussagen seiner Ex-Partnerinnen weiter: So soll S. geprahlt haben, dass die Kripo kurz nach dem Anschlag bei der Durchsuchung in seinen Räumen keine Handgranaten gefunden habe, da er diese „in ekligem Schmodder versteckt gehalten und entsorgt habe“. Zu guter Letzt gelingt es den Ermittlern, sein Alibi zu zerpflücken. An jenem Julitag im Jahr 2000 sucht S. kurz vor 15 Uhr eine Bekannte in einem nahe gelegenen Tatoo-Studio auf. Er berichtet ihr von einer Kundin, die er gleich treffen werde. Um 15.07 Uhr ruft S. von seinem Telefon zu Hause einen KFZ-Dienst an und spricht ihm auf den Anrufbeantworter.

Sieben Minuten liegen dazwischen. Neue Recherchen der Mord-Kommission „Furche“ belegen: Dieses Zeitfenster reicht aus, um die Gruppe der Sprachschüler abzupassen, den Sprengsatz zu zünden und rechtzeitig wieder nach Hause zu laufen, um den Anruf zu tätigen.

Zudem hat der Tatverdächtige sich in einer Vernehmung kurz nach dem Attentat verplappert. Auf die Frage, wie der Hund auf die laute Detonation reagiert habe,  antwortet der Befragte: „Weiß ich nicht, der war doch zu Hause.“ Diese Aussage würde beweisen, dass  er sich zwischen 15 Uhr und 15.07 Uhr nicht in seiner Wohnung aufhielt.

Nach außen hin gibt sich Ralf S. stets als tougher Typ: Im Anschluss an das erste Verhör kurz nach dem Attentat erzählt er einer Freundin, dass die Polizisten ihm zwar nicht geglaubt hätten. Allerdings seien sie nicht in der Lage gewesen, ihn zu knacken. „Ich bin eine harte Nuss“, tönt der Rechtsextremist. Bald ein Jahr sitzt er nun in Untersuchungshaft. Mitunter jammert der mutmaßliche Terrorist darüber, dass er nun in einem Hochsicherheitstrakt einsitzt – mit Hardcore-Dschihadisten als Zellennachbarn. „Das sind doch alles Terroristen“, beschwert sich der Mann, der selbst ein ungeborenes Leben ausgelöscht haben soll.

KStA abonnieren