Osman Okkan zu Türkei-Symposium in Köln„Erdogan leidet wie Putin an Realitätsverlust“

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Erdogan im Wahlkampf

Erdogan im Wahlkampf

Herr Okkan, vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurde der türkische Präsident Erdogan von vielen westlichen Staaten ignoriert. In den ersten Kriegswochen hat er sehr vielen Regierungschefs gesprochen – da er als fast einzige Verbindung zu Wladimir Putin gilt. Nützt der Krieg der Manifestierung von Erdogans Macht?

Erdogan versucht mit allen Mitteln, die aktuelle Situation auszunutzen. Angesichts  sinkender Umfragewerte in Folge der desaströsen Wirtschaftslage sieht er in der vermeintlichen Vermittler-Rolle eine Chance, die islamistisch-nationalistischen Wähler hinter sich zu scharen. Doch je länger der Krieg dauert, desto größer werden die Risiken für ihn; denn sowohl für die Bevölkerung in der Türkei als auch für die Weltöffentlichkeit wird immer klarer, dass er nicht der Friedensstifter ist, wie er sich zu profilieren versucht; sondern eher ein Opportunist, der Drohnen seines Schwiegersohnes an die Ukraine verkauft und auf Raketensysteme, Oligarchengeld und Massentourismus aus Russland schielt.

Fall Kashoggi an Saudi-Arabien abgegeben

Zeigt sich gerade wieder die Wandelbarkeit von Erdogan? Immerhin hat er vor einigen Monaten damit begonnen, neue Kontakte zu Armenien, Israel, Griechenland und anderen Staaten zu knüpfen – auch die Töne aus Deutschland hören sich wieder moderater an…

Auf gegenseitigem Vertrauen basierende Kontakte mit anderen Ländern wären ja etwas Begrüßenswertes. Aber die grenzenlose Wandelbarkeit Erdogans manifestiert sich beispielhaft an einer Kehrtwende, die in den letzten Tagen weitgehend unbemerkt blieb: die von ihm gegängelte türkische Justiz hat die Ermittlungen im Falle des ermordeten Journalisten Khashoggi ausgerechnet an Saudi-Arabien abgegeben. Obwohl Khashoggi nach den bisherigen offiziellen Angaben aus den USA und aus der Türkei im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul von einer 15-köpfigen Kommando aus Saudi-Arabien ermordet und zerstückelt wurde. Anschließend besuchte Erdogan den Kronprinzen, der als Drahtzieher des Mordkomplotts bezichtigt wird, um von ihm dringend benötigte Investitionen und Handelsvereinbarungen zu bekommen.

Osman_Okkan

Osman Okkan

Die türkische Justiz hat jüngst den Unternehmer und Menschenrechtler Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt. Hätten sie ohne Krieg in der Ukraine mit einem ähnlichen Urteil gerechnet?

Das Skandal-Urteil, das lebenslängliche Haft für Kavala und 18-jährige Gefängnisstrafen für sieben weitere Menschenrechtsaktivisten vorsieht, ist beispielhaft für die Verrohung des Justizapparates in der Türkei. Die westlichen Länder hatten in den letzten Jahren Erdogan als einen autoritären Präsidenten mit diktatorischen Tendenzen betrachtet. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges wird er aufgrund der geopolitischen Lage der Türkei und seiner Beziehungen zu beiden Konfliktparteien wieder hofiert; die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ist für den Westen kaum noch ein Thema. Erdogan versucht in dieser Situation jegliche oppositionelle Stimme zum Schweigen zu bringen. Und seine willfährigen Gehilfen vollstrecken mit absurdesten Urteilen seine Racheaktionen gegen international anerkannte Demokraten wie Kavala und seine Mitstreiter.

Internationales Yasar Kemal Symposium

Yasar Kemal, Romancier und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, war nicht nur der Ehrenvorsitzender des Kulturforums Türkei Deutschland in Köln, sondern auch der Partei der Grünen/Bündnis 90. Das Kulturforum widmet ihm an diesem Wochenende im WDR Funkhaus ein Symposium, das mit einer Ansprache von Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, eröffnet wird; Schirmherrin ist die Kulturstaatssekretärin Claudia Roth.

Zum Symposium werden mehr als 30 Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker und Weggefährten des 2015 verstorbenen Autors aus der Türkei und aus Europa erwartet, ebenso seine Witwe, Prof. Ayse Semiha Gökceli, die der Yasar-Kemal-Stiftung in Istanbul vorsteht. Eines der Hauptthemen des Symposiums ist die Wirkung von Kemals Werk auf die heutigen Generationen. Dazu referieren Asli Erdogan, die im Berliner Exil lebende Schriftstellerin und international erfolgreiche Autorin, die seinen Einsatz für Frieden und Gleichberechtigung konsequent fortführt, und Zeynep Oral, Literaturkritikerin und Kolumnistin.

Das Kulturforum weist darauf hin, dass der Reichtum von Kemals Werk das Erbe vieler Schichten von Kulturen und Zivilisationen widerspiegelt, die in Anatolien ihre Spuren hinterlassen haben; die Auseinandersetzung mit diesem Erbe könnte ein Schlüssel zur Versöhnung in der türkischen Gesellschaft sein. Ein weiteres Thema auf dem Symposium ist der Beitrag, den Literatur und Kunst für unser Gewissen und politisches Bewusstsein leisten können.

Im Rahmenprogramm findet am Freitagabend um 20 Uhr im Filmforum NRW die Dokumentation „Yasar Kemal – zwischen Poesie und Politik“ von Osman Okkan gezeigt; anschließend findet ein Gespräch zwischen den Schriftstellerinnen Asli Erdogan, Zeynep Oral und Zehra Ipsiroglu mit dem Filmemacher statt.

Am Samstag um 20 Uhr im Funkhaus Wallrafplatz beginnt das Konzert mit Liedern des bekannten Komponisten und Schriftstellers Zülfü Livaneli, das ebenfalls Yasar Kemal gewidmet ist: Restkarten können noch an der Abendkasse erworben werden.

6. und 7. Mai, WDR Funkhaus Wallrafplatz, Köln

Was könnte Deutschland tun, um mehr Druck auf die Türkei auszuüben?

Das mindeste wäre, die aktuelle Appeasement-Politik gegenüber einem Präsidenten sofort zu beenden, die jegliche Opposition im eigenen Lande mit brutalen Methoden zu ersticken versucht. Allein eine offene, ehrliche Sprache in den bilateralen Beziehungen wäre ein Zeichen, und es müssten konkrete Schritte zur Wahrung der Menschenrechte unternommen werden, bis zu diplomatischen und wirtschaftlichen Sanktionen. Mit fortgesetzter Zurückhaltung gegenüber den eklatanten Menschenrechtsverletzungen und der Gängelung der Justiz und Presse in der Türkei ermöglicht die Bundesregierung indirekt den Machterhalt Erdogans. Hinzu kommt die Duldung seines verlängerten Arms in Deutschland; die türkisch-sprachige Community muss ihre Informationen zunehmend aus den Erdogan-Medien beziehen, und die hiesigen Möglichkeiten, wie die türkischsprachigen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Medien, werden nach und nach abgeschafft. Der Aufbau einer Medien- und Informationsstruktur nach demokratischen Kriterien wäre ein effizienter Beitrag für eine objektive Meinungsbildung, zumindest in der hiesigen Community.

Kaum freie Presse, willkürliche Justizurteile und milliardenschwere Oligarchen gibt es in der Türkei wie in Russland. Sehen Sie weitere Parallelen?

Eine wesentliche Parallele scheint auch im zunehmenden Realitätsverlust der beiden Autokraten zu liegen: Putin sieht in der Ukraine einen Aggressor und deutet an, dass er sogar Nuklearwaffen einsetzen könnte, mit unvorstellbaren Folgen. Erdogan leidet offenbar unter einer Putsch-Paranoia, in dem er erklärte Gegner jeglicher Putschversuche mit Verbissenheit verfolgt und die aufkeimende Unzufriedenheit in der Bevölkerung schlicht ignoriert. Ein drohendes Verbot der prokurdischen HDP, die bereits im Parlament vertreten ist, kurz vor den Wahlen im nächsten Jahr, könnte zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen führen.

Asli Erdogan

Asli Erdogan

Sie veranstalten von Freitag bis Sonntag mit dem Kulturforum Türkei Deutschland ein Forum zu Ehren des türkischen Schriftstellers Yasar Kemal. Kemal war ein politischer Schriftsteller, der sich für die Aussöhnung von Kurden und Türken und den Schutz der Meere einsetzte. Wer verkörpert heute in der Türkei seine Haltung?

Yasar Kemal war durch seine Herkunft, als Sohn einer kurdischen Mutter und eines türkischen Vaters und durch sein öffentliches Eintreten für Freiheit und Demokratie zu einer Symbolfigur geworden. Solche charismatische Persönlichkeiten, die in der öffentlichen Wahrnehmung eine Art moralische Instanz darstellten, fehlen heutzutage. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in der Türkei, aber auch im Exil, die seine Haltung übernommen haben – und sich trotz allen Repressalien und Drohungen kompromisslos für Menschenrechte eintreten. Manche von ihnen sind in Europa leider kaum bekannt; Ahmet Altan, Oya Baydar, Can Dündar, Asli Erdogan, Elif Shafak und Ece Temelkuran sind einige von ihnen, die sich auch hier einen Namen gemacht haben.

Viele der kritischen Intellektuellen leben heute im deutschen Exil. Lässt sich von hier Widerstand organisieren?

Erdogan hat den gescheiterten Putschversuch 2016 als zum Anlass genommen, um den Druck auf die Oppositionellen ins Unermessliche zu steigern. Tausende von Menschen mussten vor drohenden Haftstrafen, Folter und willkürlicher Verfolgung ins Ausland fliehen, darunter viele Künstler, Wissenschaftler und Journalisten. Es geht nun darum, dass man die Öffentlichkeit über die wahre Situation in der Türkei möglichst umfassend informiert und so die zivilgesellschaftlichen Kräfte in der Türkei unterstützt. Das Bündnis von sechs Oppositionsparteien und der Zusammenschluss von weiteren oppositionellen Gruppen auf einer „Plattform für Demokratie“ sind wichtige Fortschritte.

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In aktuellen Umfragen liegen oppositionelle Parteien in der Türkei vor Erdogans AKP. Was muss geschehen, damit Erdogan bei den Wahlen in einem Jahr wirklich abgewählt wird?

Vieles deutet daraufhin, dass Erdogan alles versuchen wird, an der Macht zu bleiben – denn ihn und seine Familie, genauso wie den kleinen, omnipotenten „Oligarchen-Kreis“ um ihn erwarten nach Machtverlust eine Reihe von Gerichtsverfahren wegen Korruption und Verletzung von Menschenrechten. Seine Reaktionen bleiben unberechenbar, und wir können alle hoffen, dass er nicht zu derart provokativen Handlungen greift, die zu Massenunruhen und Gewalttaten führen.

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