Beispielloser KriminalfallDas unsichtbare Leben der Petra P.

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1984 – Fahndung nach Petra P. in „Aktenzeichen XY“

1984 – Fahndung nach Petra P. in „Aktenzeichen XY“

Eine vielbefahrene vierspurige Straße in der Düsseldorfer City. Das fünfstöckige Mietshaus ist eines wie viele hier in der Friedrichstadt. Nach zweimaligem Klingeln ertönt der Türsummer. Petra P. hat sich nicht per Sprechanlage vergewissert, wer sie jetzt am späten Nachmittag aufsuchen möchte. Der Verkehrslärm hätte eine Verständigung ohnehin fast unmöglich gemacht.

Krächzend öffnet sich die Aufzugtür, dann wird der Wohnungsschlüssel zweimal herumgedreht und eine leicht untersetzte Frau steht im Türrahmen. Sie trägt das offenbar getönte Haar kürzer als auf den Fahndungsfotos von 1984. Ansonsten ist es fast ein Déjà-vu-Erlebnis: Nicht nur wegen der dunklen Hornbrille, die stark an das Modell der Darstellerin erinnert, die seinerzeit in einem dieser belanglosen Einspielfilmchen bei „Aktenzeichen XY ungelöst“ die verschollene Petra P. gemimt hatte. Die Ähnlichkeit mit ihrem TV-Double ist frappierend, nur dass die 1,60 Meter kleine Frau mehr als 31 Jahre später deutlich an Körperfülle zugelegt hat.

Medien in aller Welt berichteten

Aus dem Wohnzimmer dringen wohlige Wärme und Kerzenduft. Eine streng, abweisend und irgendwie auch verbittert wirkende Frau, deren Alter schwer zu taxieren ist, und die niemanden an ihrem so lange erfolgreich gehüteten Geheimnis teilhaben lassen will. Nicht mal die Sozialarbeiterin, die ihr die Stadt an die Seite stellen wollte, um wieder im richtigen Leben anzukommen. Das Gespräch ist erwartungsgemäß schnell beendet.

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Über ihren Fall, der einzigartig ist in der deutschen Kriminalgeschichte, möchte sie nicht reden. Noch nicht jedenfalls.

Mehr als drei Jahrzehnte lang war sie wie vom Erdboden verschluckt. Obwohl es natürlich keine Leiche gab, ging die Polizei davon aus, dass die damals 24-jährige Studentin einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.

31 Jahre lang gab es nach ihrem ebenso plötzlichen wie unerklärlichen Verschwinden nicht das geringste Lebenszeichen. Bis zum September vergangenen Jahres, als Medien in aller Welt berichteten, die Totgeglaubte sei wiederaufgetaucht, quicklebendig und wohlauf. „Cold Case gets hot“, meldeten die amerikanischen NBC News, ein kalter Fall wird wieder heiß. Ein ungeklärter Fall gerät wieder in den Fokus der Ermittler.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Schwindel damals aufflog.

Am 11. September 2015 rückt ein Team der Düsseldorfer Kripo zur „Tatortaufnahme“ aus. Eine Nachbarin hatte verdächtige Spuren an der Wohnungstür von Petra P. entdeckt und die Polizei verständigt. Die Beamten treffen eine ziemlich konsternierte 55-Jährige an, die kaum Interesse an der Aufklärung des Einbruchs zeigt. Ihr Verhalten macht die Polizisten misstrauisch. Als sie „Frau Schneider“ – unter diesem unverfänglichen Alias-Namen lebte sie elf Jahre lang in dem Mehrfamilienhaus – nach ihren Personalien fragen, fliegt der Schwindel auf. Sie kann nur ihren seit einer Ewigkeit abgelaufenen, auf ihren richtigen Namen ausgestellten Personalausweis zeigen.

Die Sensation ist perfekt. Hobby-Astrologen haben herausgefunden, dass sich die Gestirns-Konstellationen an diesem Tag und bei ihrem Verschwinden ähnelten.

Sie selbst hätte den Einbruch vermutlich ignoriert, um ihre wahre Identität nicht preisgeben zu müssen. Anfangs war von versuchter Brandstiftung die Rede gewesen. Über Einzelheiten schweigen die Ermittler sich aus. Nur so viel: „Es handelte sich um einen vollendeten Einbruch, das heißt mit abhandengekommener Tatbeute“, sagt Marcel Fiebig von der Düsseldorfer Polizei. Auf Betreiben des Vermieters gibt es inzwischen korrekte Namensschilder.

Rätselhaftes Leben im Untergrund

Wie die Frau es bewerkstelligt hat, so lange unerkannt im Untergrund zu leben, bleibt vorerst rätselhaft. Ihre Miete, ist zu hören, habe sie mit dem Hinweis bar bezahlt, sie habe kein Vertrauen zu Banken, desgleichen Arztrechnungen. Die Polizei schließt aus, dass sie straffällig geworden ist. Mit der Außenwelt war sie, seit es Prepaid-Karten gibt, per Handy verbunden. Offenbar nirgendwo und nirgendwann hat diese Frau Spuren hinterlassen. Dass sie nicht vorschriftsmäßig gemeldet war, zählt als Ordnungswidrigkeit, strafbar gemacht hätte sie sich nur, wenn sie ein Verbrechen aktiv vorgetäuscht hätte. Ob ihre vermutlich jahrelange Schwarzarbeit (sie soll als Putzfrau Geld verdient haben) womöglich als Steuerhinterziehung gewertet wird, ist offen.

Über den Grund ihres Verschwindens im Sommer 1984 gibt es bloß Mutmaßungen und Hypothesen. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ versucht, die Umstände ihres Abtauchens zu rekonstruieren. Damals studiert Petra P. an der Technischen Universität Braunschweig Informatik. Sie wohnt im Studentenheim am Rebenring, dem größten Wohnheim der Stadt.

Bei den Studenten ist der „Affenfelsen“ genannte Betonklotz wegen seiner Nähe zu wichtigen Instituten und vor allem zur Mensa beliebt. Zurzeit wird das Ungetüm, das den Charme der späten 70er Jahre versprüht, von Grund auf saniert. Früher war von der Seifenschale bis zum Toilettendeckel alles aus Plastik, jetzt werden in allen 668 Appartements Fliesen und Keramik eingebaut.

Vielleicht hatte Petra P. sich gerade wegen der Anonymität und Unübersichtlichkeit in der riesigen Trutzburg einquartiert. Als sie verschwindet, ist ihre handgeschriebene Diplomarbeit fast fertig. Sie will sie zu Hause im 25 Kilometer entfernten Wolfsburg während eines Italien-Urlaubs der Eltern abtippen. Die Arbeit befasst sich mit den Eigenheiten der Programmiersprache, einem Spezialgebiet von TU-Professor Klaus Alber. „Ein anspruchsvolles Thema“, sagt Alber heute. Er ist seit 18 Jahren emeritiert. An Petra P.s erinnert er sich „schemenhaft“, aber er kann sich keinen Reim darauf machen, warum sie die Arbeit nicht fertiggestellt und eingereicht hat.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über die zahlreichen Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten des Falls Petra P.

Ihre Spur verliert sich am 26. Juli 1984 in Wolfsburg. Ob Petra P. damals wie gewöhnlich an der Bushaltestelle Rasthof ausgestiegen ist, konnte nie geklärt werden. Die Station und das Wartehäuschen gibt es immer noch. Fest steht nur, dass Petra nicht bei ihren Eltern angekommen ist.

Vater Laszlo arbeitet zu dieser Zeit als promovierter Physiker in der Forschungsabteilung von VW. Die Familie wohnt mit Petras jüngerem Bruder Carsten im gutbürgerlichen Neubaugebiet Große Kley in Wolfsburg-Mörse, das vor allem bei leitenden Angestellten des Autokonzerns beliebt ist. Manche Flachdach-Bungalows sind inzwischen in die Jahre gekommen. Seit der überraschenden Entdeckung der Frau, „die ihr halbes Leben lang tot war“, wie der Postbote sagt, ist die Erinnerung an 1984 bei früheren Nachbarn wieder da. Inge Surborg vom Kirchenvorstand der evangelischen St.-Petri-Gemeinde erinnert sich genau an die Tätersuche im Fernsehen.

Die Polizei und mit ihr TV-Fahnder Eduard Zimmermann gingen von einem Zusammenhang aus zwischen der verschwundenen Studentin und dem Mord an der 14-jährigen Schülerin Kerstin W. im Jahr zuvor. In beiden Fällen spielte ein Waldstück in der Nähe der Haltestelle Rasthof eine Rolle. „Kerstin war in der Klasse meines Sohnes“, berichtet Inge Surborg. Viele in Mörse hielten es für sehr plausibel, dass auch Petra dem Mörder von Kerstin in die Hände gefallen sein könnte.

Zahllose Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten

Doch es gab zahllose Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten. Etwa dass Kerstins Mörder, der damals 19-jährige Tischlerlehrling Günter K., nach seiner Verurteilung zu acht Jahren Jugendstrafe im Gefängnis behauptet hatte, auch die Studentin getötet zu haben. Die Polizei hatte ihm dieses Geständnis, das er später widerrief, jedoch nie geglaubt. Klaus-Peter Wachholz war damals stellvertretender Kripochef in Wolfsburg. Wenn er sich die Videokassette von seinem Auftritt bei „XY“ anschaut, ist die ganze Geschichte wieder präsent. „Alles sprach für ein Verbrechen. Nichts deutete auf einen möglichen Suizid oder auf eine Entführung hin“, erzählt uns Wachholz, bis 2013 Landespolizeidirektor in Sachsen-Anhalt.

Wie war Petra P.s Verhältnis zu ihren Eltern? Man sei von einem „absolut intakten Umfeld“ ausgegangen, erinnert sich Wachholz. Bei ihrer Enttarnung vor vier Monaten hat Petra P. der Polizei berichtet, zu Hause habe es weder körperliche Gewalt noch sexuelle Übergriffe gegeben. Frühere Nachbarn in Mörse beschreiben die Familien-Atmosphäre als unterkühlt. Andererseits erzählt man sich bis heute, Vater Laszlo P. habe für die Suche nach seiner Tochter auf eigene Kosten einen Hubschrauber gechartert. Sie soll sich durch ihren dominanten Akademiker-Vater aber unter einem starken Leistungsdruck gefühlt haben.

Eine Erklärung für ihr Abtauchen könnten in der Tat ausgeprägte Versagensängste gewesen sein. Psychologen kennen das nicht so seltene Phänomen der „dissoziativen oder psychogenen Fugue“ (Flucht): Jemand bricht plötzlich und unerwartet aus seinem gewohnten Umfeld aus, scheinbar ohne Anlass. Oft stellt sich die spontan erscheinende Trennung im Nachhinein als geplant und gut vorbereitet dar. So war es offenbar auch bei Petra P. Das vermeintliche Mordopfer hatte sich längst heimlich eine Wohnung in Gelsenkirchen als Unterschlupf gesucht. Völlig unbehelligt, obwohl damals „halb Deutschland“ Zimmermanns Fernseh-Fahndung gesehen habe, wundert sich der erfahrene Kriminalist Wachholz: „Trotzdem blieb sie ein Phantom.“

Wie eine zweite Todesnachricht

Petra P.’s 80-jährige Mutter (der Vater lebt nicht mehr) und ihr Bruder (54) sind vor Jahren nach Gifhorn in der Südheide gezogen. Carsten P. reagiert, als wir ihn treffen wollen, nicht so brüsk wie seine Schwester. Er bittet jedoch um Verständnis, dass er nicht darüber sprechen will, wie er Petras zumindest anfängliche Weigerung verkraftet hat, Kontakt zu ihrer Rest-Familie aufzunehmen.

Für die Mutter sei Petras ablehnende Reaktion wie eine zweite Todesnachricht gewesen, hatte es bei der Braunschweiger Polizei geheißen. An einer behutsamen Familienzusammenführung mit offenkundig erstem Erfolg wirkt im Hintergrund Kriminalhauptkommissar Dirk Bosse mit. Er hatte mit dem Fall schon als junger Beamter zu tun und nie ganz die Hoffnung aufgeben, dass die Frau noch gefunden werden könne. Lebend.

Carsten P.s Ähnlichkeit mit seiner Schwester ist auch im spärlich beleuchteten Treppenhaus an diesem kalten Januarabend verblüffend. Noch am Tag ihres Verschwindens hatte Petra sich um ein Farbband für Carstens Computer bemüht. Als Geburtstagsgeschenk für den jüngeren Bruder. Jetzt brauche sie erst mal viel Zeit, sagt Carsten P. schließlich doch, und sie allein müsse bestimmen, „wie es mit uns weitergehen soll“.

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