„Was wir tun, ist unbezahlbar“Krankenschwester schildert Pflege-Missstände

Lesezeit 3 Minuten
Neuer Inhalt

Talkshows und Zeitungen reißen sich derzeit um Nina Böhmer. Der Krankenschwester ist der Hype unangenehm, sie arbeitet lieber im Stillen. Aber ihr Anliegen kann man nun mal nicht laut genug vortragen.

„Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken.“ Nina Böhmer (28) hatte ihren Wutbrief im März aus Versehen bei Facebook öffentlich gestellt. Er sorgte für viel Aufsehen und war ein viraler Hit – prompt wurde die Krankenschwester zur Symbolfigur für das überforderte Pflegepersonal in Corona-Zeiten. Jetzt nutzt sie ihre Popularität und seziert in einem Buch die Missstände in der Pflege. Nach dem Lesen weiß man: Deutschlands Gesundheitswesen gehört, um im Bild zu bleiben, an den Tropf.

„Pflegekräfte sind die stillen Helden in Deutschland“, lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel (65, CDU) das Pflege-Personal in Corona-Zeiten. Doch Nina Böhmer will nicht mehr still sein. Sie legt den Finger in die Wunden. Ein Überblick.

Mangelnde Anerkennung

„Wir werden noch viel zu häufig bestenfalls als Handlanger der Ärzte gesehen, wir sind dazu da, das Essen zu servieren, die Medizin zu bringen und den Hintern der Patienten abzuwaschen.“ Dabei gehe in einer Intensivstation nichts ohne Pflegekräfte. In England sei das anders. „Dort ist das Ansehen einer Krankenschwester auf der Höhe eines Arztes.“

Alles zum Thema Angela Merkel

Das könnte Sie auch interessieren:

Schlechte Bezahlung

„Was wir tun, ist unbezahlbar. Wir helfen, Leben zu retten. Mir geht es um ein Umdenken in der Gesellschaft. Ist es okay, dass Mitarbeiter von BMW und Daimler, die Autos herstellen, mehr verdienen als Krankenschwestern und Pfleger, die sich um alte Menschen, Behinderte, frisch Operierte und andere Kranke kümmern?“

Zu wenig Personal

Allein zwischen 2002 und 2007 wurden aufgrund zu eng berechneter Fallpauschalen mehr als 30 000 Pflegestellen gestrichen. Nina Böhmer hat es selbst erlebt: Nachtschicht, allein mit 40 Patienten. Sie musste einen alten Mann eine halbe Stunde auf der Toilette sitzen lassen, weil am anderen Ende des Ganges ein übergewichtiger Mann aus dem Bett gefallen war und sie allein nicht in der Lage war, ihn wieder ins Bett zu legen. „Wenn man sich die ganze Nacht um Normal- und ein paar Übergewichtige kümmern muss, die gewendet werden müssen und es nicht allein auf Toilette schaffen, ist man nach der Nachtschicht platt“, sagt sie.

Sexismus

Da findet sie drastische Worte: „Mich kotzen die Anzüglichkeiten, die unsäglichen Worte und Sätze an, die ich mir laufend von männlichen Patienten anhören muss: »Mein Blutdruck ist nur so hoch, weil Sie so eine attraktive Schwester sind«.“ Auch sei es ein Unding, dass man Praktikantinnen zum Waschen zu Patienten schicke. Da komme es immer wieder zu Übergriffen.

Mobbing

Offener Streit, Zickenkriege und seelische Schikane sind nach Nina Böhmers Beobachtungen – und als Angestellte in einer Zeitarbeitsfirma kennt sie viele Kliniken – große Themen. Der Druck, unter dem alle stehen, suche sich ein Ventil. Es sei kein Wunder, dass Mitarbeiter der Kranken- und Altenpflege überproportional wegen Krankheit ausfallen (23 Tage im Jahr).

Unflexible Dienstpläne

„Ein großer Fortschritt wäre, wenn man nicht ein langes Wochenende mit der Familie drei Monate und den Urlaub ein gutes Jahr im Voraus planen muss.“ Auch bei Schichtdiensten wünscht sich Nina Böhmer mehr Flexibilität: Jüngere machen lieber Spätdienst, Menschen mit Familien lieber Frühdienst.

Weniger Quarantäne für Pfleger

Inzwischen sieben Tage statt 14 Tage wie bei allen anderen: „Wir werden behandelt, als wären wir keine Menschen, sondern Außerirdische, denen die Natur nichts anhaben kann.“

KStA abonnieren