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Aerosolforscher über die Corona-Regeln„Solche Maßnahmen machen die Leute müde“

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Verschiedene Corona-Regeln in einem Einkaufszentrum. (Symbolbild)

Herr Dr. Scheuch, gemeinsam mit Kollegen verschiedener Disziplinen haben Sie ein Positionspapier mit dem Titel „Leben MIT Covid“ veröffentlicht. Was hat es damit auf sich? Gerhard Scheuch: Wir sind eine Gruppe von Wissenschaftlern aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Uns allen ist klar, dass wir von diesen Corona-Viren nicht mehr so schnell loskommen. Die Strategien Zero Covid und No Covid sind leider gescheitert. Wir werden mit diesem Virus leben müssen. Eigentlich müssten wir deshalb jetzt eine Initiative „Mit Covid“ starten, dafür wollten wir den Anstoß geben. Wir stellen aber keine Forderungen, sondern machen Vorschläge, wie wir uns das Leben nach Ende dieser Pandemie vorstellen.

Gerade heute erst haben sowohl die Sieben-Tage-Inzidenz als auch die Zahl der Neuinfektionen neue Höchststände erreicht. Warum haben Sie entschieden, das Papier ausgerechnet jetzt mitten in der Omikron-Welle zu veröffentlichen?

Die Politik sagt ja ständig: „Wir dürfen das Gesundheitssystem nicht überlasten.“ An unserem Papier sind auch einige Intensivmediziner beteiligt. Sie sagen: „Wir sehen gar keine Fälle mit Omikron auf den Intensivstationen! Wir finden die nur zufällig.“ Die Zahl der Intensivpatienten geht schon seit dem 1. Januar zurück und das obwohl die Zahl der Omikron-Ansteckungen ja enorm zunimmt. Deshalb haben wir festgestellt, dass die Omikron-Variante vielleicht der Ausgang aus dieser Pandemie sein könnte, weil sie nämlich einen sehr viel milderen Verlauf nimmt. Das liegt natürlich auch daran, dass mittlerweile sehr viele Menschen geimpft sind. Das heißt nicht, dass wir jetzt sofort alle Maßnahmen beenden sollten, natürlich müssen wir noch vorsichtig sein.

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Zur Person

Dr. Gerhard Scheuch ist Physiker mit dem Schwerpunkt Aerosolmedizin und berät seit Beginn der Corona-Pandemie zahlreiche Institutionen über die Ausbreitung von Sars-CoV-2 über die Luft. Er ist außerdem ehemaliger Präsident der International Society for Aerosols in Medicine.

Mit fünf weiteren Wissenschaftlern hat er das Positionspapier „Leben MIT Covid“ veröffentlicht. Sie argumentieren, dass die Strategie, das Virus zurückzudrängen oder gar auszurotten, gescheitert sei. Deshalb müsse man jetzt anfangen, neue Strategien zu entwickeln, um mit dem Coronavirus leben zu können.

Aber das wird sich in zwei, drei Wochen ändern, denn wir erwarten, dass Mitte Februar der Peak der Ansteckungen erreicht sein wird. Und dann müssen wir vorbereitet sein, wie es weitergehen kann. Denn wir müssen uns mittel- und langfristig mit diesem Coronavirus anfreunden.

Sie kritisieren in dem Papier auch konkret die aktuellen Corona-Regeln, einige seien „überflüssig, nicht nachvollziehbar und führten in der Bevölkerung zu Müdigkeit, Frustration und Zweifeln“. Um welche Maßnahmen geht es Ihnen hier speziell und warum?

Wir wissen ja, dass die Ansteckungen in Innenräumen stattfinden. Draußen ist das kaum der Fall. Masken im Freien sind also Unsinn, Ausgangssperren ebenso. Die Belegung von Fußballstadien mit maximal 750 Zuschauern ist auch Unsinn. Das sind genau die Maßnahmen, die die Menschen nicht nachvollziehen können.

In Hamburg durfte vor kurzem ein Fußballspiel vor nur 750 Menschen stattfinden, aber gleichzeitig waren in der Elbphilharmonie 2100 Zuschauer zugelassen. Ein anderes Beispiel: Es ist schön, dass wir uns jetzt alle die Hände waschen, aber für die Pandemiebekämpfung spielt das überhaupt keine Rolle, denn dieses Virus wird über die Luft übertragen. Solche Maßnahmen müssten möglichst schnell abgestellt werden, denn sie machen die Leute müde.

Um ein weiteres konkretes Beispiel zu nennen: Eine Regel wie die, dass im Konzert 2G gilt, wenn man sich an der Bar ein Getränk holen will aber ein aktueller Test oder eine Booster-Impfung nötig sind, erscheint vielen Menschen widersprüchlich. Was sagen Sie als Aerosolforscher dazu?

Das ist wieder genau so ein Beispiel für unsinnige Maßnahmen. Oder: Wer ein Restaurant betritt, muss Maske tragen, am Tisch wird sie dann aber abgenommen. Das macht wissenschaftlich betrachtet keinen Sinn. Da wäre es konsistenter, man würde sagen, die Maske darf nur zum Essen und Trinken abgenommen werden. Solch eine Maßnahme würde ich sogar verstehen, weil Ansteckungen in Innenräumen stattfinden und man sich so wirklich eine große Menge an Aerosolpartikeln ersparen würde, die man einatmen muss.

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Zudem sind wir jetzt insgesamt in einer Phase, in der man alle Maßnahmen überdenken muss. Auch wenn ich nicht glaube, dass es wieder so sein wird wie vor Corona. Wir werden uns an bestimmte Regeln gewöhnen müssen.

In Dänemark sollen ab dem 1. Februar alle Corona-Maßnahmen aufgehoben werden, trotz einer Inzidenz von über 4500. Halten Sie das für den besseren Weg?

Man muss eines bedenken: Diese Zahl hört sich sehr hoch an. Das heißt aber, dass in der letzten Woche 4500 Menschen von 100 000 positiv getestet wurden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass immer noch 95,5 Prozent nicht positiv getestet wurden. Und auch die positiv Getesteten sind ja nicht mal unbedingt krank.

Sie kritisieren auch die derzeit verwendeten Parameter, um das Pandemiegeschehen zu messen. Gerade um den Inzidenzwert wird ja derzeit gestritten, da die Testlabore längst an ihr Limit gekommen sind und PCR-Tests künftig priorisiert werden sollen.

Genau, der Inzidenzwert hat so keine Aussagekraft mehr. Auch die 2G-Regeln kritisieren wir. Sie hat im vergangenen Herbst dazu geführt, dass sich sehr viele Menschen infiziert haben, denn die Impfung schützt nicht vor Ansteckung. Sie schützt uns selbst vor schweren Krankheitsverläufen, aber sie erzeugt keine sterile Immunität. Das ist eben die Krux an der Sache.

Das gleiche Problem haben wir im Moment mit der 2G-Plus-Regel, denn Menschen, die geboostert sind, dürfen wieder alles machen. Aber wir wissen doch, dass auch die dritte Impfung nicht vor der Weitergabe des Virus schützt. Diese Regeln sollen vor allem die noch nicht Geimpften dazu bringen, sich impfen zu lassen.

Der Bundestag debattiert derzeit auch über eine allgemeine Impfpflicht, um eine breite Immunisierung der Bevölkerung gegen Covid-19 zu erreichen. Wie stehen Sie vor diesem Hintergrund zu einer solchen Pflicht?

Ich weiß nicht, ob man eine solche Pflicht rechtfertig kann. Das ist eine politische Entscheidung, da halten wir uns völlig raus. Aber wir müssen bedenken: Wir haben keine sterile Immunität. Das heißt, wir können nur die schweren Verläufe reduzieren, aber wir werden nicht nicht-infektiös.

Natürlich wäre es schön, wenn noch mehr Menschen geimpft wären. Denn jede und jeder Geimpfte schützt sich selbst und hilft uns, das Gesundheitssystem zu entlasten. Es ist aber auch so, dass durch die Omikron-Variante bereits eine Entlastung eingetreten ist.

Viele Menschen hoffen auf ein „Ende der Pandemie“, das ja auch das implizite Versprechen einer solchen Impfpflicht ist. Denn Virologen wie Christian Drosten mahnen, dass die Impfquote in Deutschland noch zu niedrig ist, um in den endemischen Zustand zu kommen. Wenn Sie jetzt ein Leben mit Covid skizzieren, gehen Sie davon aus, dass wir doch schon so weit sind?

Ich denke, dass wir uns damit arrangieren müssen. Wir haben den Zustand erreicht, wir werden das Virus nicht mehr wegdrängen können. Es wird immer wieder von verschiedenen Politikern oder auch Wissenschaftlern gefordert, die Impfquote müsste höher sein. Doch die Herdenimmunität werden wir schon allein deshalb nicht erreichen, weil wir keinen sterilen Impfstoff haben. Deshalb gibt es gar keine Alternative zu der Aussage „Leben mit Covid“. Wir haben es nunmal und kriegen es auch nicht mehr weg. Deshalb müssen wir uns jetzt in allen Lebensbereichen Gedanken machen, wie wir in Zukunft damit leben können.

Ganz konkret: Wie stellen Sie und Ihre Kollegen sich das Leben mit Covid vor? Was müsste jetzt getan werden?

Einige Maßnahmen können wir sofort abstellen, das machen uns derzeit schon die Engländer, Dänen und Niederländer vor. Außerdem sollten wir eine Kohorte aufbauen, die wir begleiten können. Diese Gruppe könnte dann regelmäßig befragt und untersucht werden, um eine Abschätzung über das derzeitige Infektionsgeschehen zu erhalten.

Wir müssen die G-Regeln überprüfen und wahrscheinlich beenden. Wir müssen in den Krankenhäusern Pflegepersonal entsprechend einstellen und vorhalten. Und es muss in Sachen Digitalisierung etwas passieren. Da ist die Lage in Deutschland erbärmlich.

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