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BetrugsermittlungenVerdacht gegen „Schlüsseldienst-Mafia“ weitet sich aus

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(Symbolbild)

  • Ein Netzwerk mit 300 Monteuren und Millionenumsätzen: Die „Deutsche Schlüsseldienst Zentrale“ mit Sitz in Geldern soll jahrelang getrickst haben. Die Staatsanwaltschaft Kleve überprüft mehr als 1000 Fälle, um systematischen Betrug zu beweisen.

Köln – Das Verhör bei der Kripo fällt Jürgen W. (Name geändert) nicht leicht. Der Monteur will zwar alles sagen, möchte erklären, warum er für die Schlüsseldienstmafia zeitweilig arbeitete, aber er bangt auch um seinen Ruf und seine Zukunft. Klar ging es um Umsatz, um höhere Preise, um Abzocke. Der Druck auf die Monteure sei enorm gewesen, gibt der Handwerker zu Protokoll. Von den Auftraggebern sei vorgegeben worden, möglichst hohe Rechnungen zu schreiben. „Zum Beispiel den Schlüsselzylinder komplett zu zerstören.“ 

Die Aussage vom Januar 2017 liefert brisantes Insiderwissen über ein bundesweites Netzwerks mutmaßlich betrügerischer Schlüsseldienste. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erhielt nun exklusive Einblicke in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Kleve. 

Gelenkt wurde die Truppe von knapp 300 Monteuren, die im großen Stil Kunden abgezockt haben soll, von  zwei Geschäftsleuten in Geldern: Karl Leo S., 57, und Christian S., 37. Seit 2009 ermitteln die Strafverfolger in Kleve gegen das weit verzweigte Firmengeflecht, das durch die „Deutsche Schlüsseldienst Zentrale“ (DSZ) in Geldern und Düsseldorf gesteuert worden sein soll. Die Staatsanwaltschaft lässt mehr als 1000 Fälle auswerten, in denen überteuert abgerechnet worden sein soll. Von Landshut, München, Augsburg bis hoch in den Bremer Raum, von Köln, Düsseldorf, dem Ruhrgebiet bis nach Görlitz, Chemnitz und Dresden soll betrogen worden sein. Selbst die Kreispolizeibehörde in Wesel soll die Schlüsseldienstmafia bei Türöffnungen abgezockt haben.

200 bis 600 Euro über den ortsüblichen Preisen

Bei den Ermittlungen übernahm Staatsanwalt Hendrik Timmer aus Kleve Hunderte Verfahren seiner Kollegen aus der ganzen Republik. Demnach verlangten Monteure bis zu 1500 Euro für ihre Noteinsätze. Im Schnitt sollen die Margen 200 bis 600 Euro über den ortsüblichen Preisen gelegen haben. Die Verbraucherzentrale NRW hat in diesem Kontext einen Leitfaden über angemessene Tarife herausgegeben (siehe: „Das rät die Verbraucherzentrale“). 

Christiane M. kann sich noch gut an den Januartag 2016 erinnern, an dem sie einen Techniker rief, weil sich die Haustür nicht mehr öffnen ließ. Es dauerte, bis der Helfer kam. Prompt schlug er vor, ein neues Schloss einzubauen. Christiane M. stimmte zu und kassierte für ihr Vertrauen die Quittung: Gut 900 Euro musste sie zahlen. Verwundert stellte sie den Monteur zur Rede. Der aber antwortete lapidar: Sicherheit sei nun einmal teuer.  Später stellte sich heraus, dass die Arbeiten nicht mehr als 250 Euro wert gewesen waren.  

Andrea F. aus Marienheide im Oberbergischen sollte 621 Euro plus Inkassokosten von 87 Euro zahlen, weil ihr Türschloss angeblich nicht mehr funktionierte. Günter K. aus Bergisch-Gladbach suchte einen Monteur, der ihm die klemmende Balkontür wieder öffnen sollte. Der Mann kam, werkelte herum und beteuerte, er müsse neues Material besorgen, ließ sich bezahlen und verschwand ohne sein Versprechen einzuhalten. 

57-Jähriger mit ausgeklügeltem System

Im Mittelpunkt der Machenschaften soll vor allem Karl Leo S. stehen. Der 57-jährige Geschäftsmann hatte laut Staatsanwaltschaft 2007 ein ausgeklügeltes System eingerichtet, um bundesweit abzukassieren. Die Idee war denkbar einfach: Über die DSZ GmbH mit Sitz in Geldern soll S. ein komplexes Gebilde lokaler Scheinfirmen in vielen Regionen Deutschlands dirigiert haben. Stets wirkte er im Hintergrund, als offizieller Geschäftsführer fungierte sein mutmaßlicher Komplize Christian S.. 

Über massive Werbung in den Gelben Seiten und im Netz sollen die Geschäftemacher den Kunden vorgegaukelt haben, die Betriebe lägen direkt um die Ecke. Niedrige Anfahrtswege, niedrige Kosten, so die Logik. Doch wer die Nummern dieser Werkstätten anwählte, landete im Call-Center der DSZ am Niederrhein. Die Mitarbeiter in der Telefonzentrale schickten dann per SMS freie Monteure los. Ehe diese aber zur Stelle waren, konnte viel Zeit vergehen. Auf Montage habe er einen Radius von 170 Kilometern abdecken müssen, gab ein beschuldigter Schlosser zu Protokoll. 

Abgerechnet wurde den Ermittlungen zufolge stets nach demselben Muster: 60 Prozent für die DSZ, 40 Prozent für den „freien“ Mitarbeiter. Auch habe es klare Preisvorgaben gegeben: 159 Euro Minimum pro Einsatz plus 30 Euro für An- und Abfahrt. „Wenn ich beispielsweise 120 Euro nehme, bekomme ich nicht so gute Aufträge“, bekannte der Handwerker. Stimmte der Umsatz nicht, „schicken die dann lieber einen anderen mit einem besseren Schnitt“. Wer wollte da nicht tricksen? Widerspruch gegen das System wurde offenbar nicht geduldet. Eine Buchhalterin, die aussteigen wollte, soll der DSZ-Geschäftsführer angeraunzt haben, sie solle ruhig bleiben,  andernfalls werde ihr und ihrer Familie etwas zustoßen.  

Knapp 77 Millionen Euro umgesetzt

Insgesamt sollen die Drahtzieher der DSZ über die Tricksereien knapp 77 Millionen Euro umgesetzt haben. Als die Firmen im Sommer 2015 in einem Monat die Rekordmarke von einer Million Euro knackten, jubelten die Firmenlenker, als hätten sie gerade im Lotto gewonnen. Das Geschäft florierte bis zum 3. August 2016, als die Ermittler die beiden Hauptverdächtigen verhafteten und eine bundesweite Razzia an Firmenstandorten durchführten. Bandenmäßiger Betrug und Wucher von mindestens einer halben Million Euro, lauten die Vorwürfe der Strafverfolger. Und da die Monteure zum Schein stets ein eigenes Gewerbe anmelden sollten, um ihr Arbeitsverhältnis bei der DSZ zu kaschieren, haben die Finanzfahnder nach Informationen dieser Zeitung gut 3,8 Millionen Euro entgangener Sozialversicherungsbeiträge errechnet.  Hinzu addierten sie mindestens einen Steuerschaden von knapp sieben Millionen Euro. 

Laut Haftbefehl drohen dem Hauptverdächtigen Karl Leo S. im Falle eines Schuldspruchs bis zu sechs Jahre Gefängnis. Denn der Mann soll ein Wiederholungstäter sein. Bereits im Jahr 2004 wurde er wegen ähnlicher Verbrechen zu vier Jahren verurteilt. Nur die Hälfte musste er verbüßen, dann kam er wieder frei, die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Nach kurzer Zeit soll der Ex-Knacki ein neues Betrugssystem initiiert haben. 

Warum zögert die Staatsanwaltschaft mit einer Klage?

Seine Anwälte betonen die Unschuld ihres Mandanten. Tenor: S. habe weder etwas mit DSZ oder anderen Firmen zu tun, auch seien die Monteure selbstständig tätig gewesen. Folglich hätte man keine Lohnsteuer oder Sozialabgaben abführen müssen. Vergeblich versuchten die Anwälte, ihren Klienten aus der Untersuchungshaft loszueisen. Die Gerichte lehnten mit dem Hinweis auf den dringenden Tatverdacht mehrfach ab. 

Bleibt nur die Frage, warum die Staatsanwaltschaft seit gut einem Jahr mit der Anklage zögert? In Vermerken konstatierte Dezernent Timmer, dass er die magische 1000er Fallgrenze knacken müsse, um vor Gericht zu beweisen, dass die Betrügereien System hatten. Die Auswertung mit einer überschaubaren Ermittler-Truppe dauere noch an, heißt es. Offenbar aber reißen die krummen Touren in der Schlüsseldienst-Branche nicht ab. In seiner Vernehmung berichtete ein Monteur von seinem neuen Job bei einer anderen großen Firma. „Es läuft auch heute weiter“, bekannte der Mann. Also auch mit den höheren Preisen, hakte der Vernehmungsbeamte nach. „Natürlich“, lautete die Antwort, „wir sind auch Verkäufer.“ 

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