Abo

Einsturz in GenuaZeugen sprechen von Blitzeinschlag vor dem Unglück

Lesezeit 4 Minuten
Genua Brückeneinsturz Feuerwehrmann auf Brückentail

Rettungskräfte sind noch mit der Bergung aus den Trümmerteilen beschäftigt.

Rom – Ein schweres Unwetter ging gerade über Genua nieder, als es kurz vor Mittag zur Tragödie kam. Davide di Giorgio, der von seinem Fenster aus Regen und zuckende Blitze filmen wollte, wurde zum Augenzeugen.

In seinem Handyvideo sieht man, wie etwas weiter entfernt plötzlich ein Teil der gigantischen Autobahnbrücke in sich zusammenstürzt und sich die Staubwolke mit dem Dunkelgrau des Himmels mischt. Di Giorgio schreit ungläubig, völlig verängstigt und außer sich immer und immer wieder: „Oh Gott, oh Gott, oh Gott“. Sein Video sollte an diesem Tag das wohl meist gesehene Italiens werden.

Als Sekunden später der erste Notruf in der Zentrale der Rettungskräfte einging, hielten es dort einige noch für einen Scherz, wie die Lokalzeitung Il Secolo XIX berichtete. So unvorstellbar klang es, dass mehr als hundert Meter der vierspurigen Ponte Morandi, auch Polcevera-Viadukt genannt, und damit der Autobahn A 10, eine Hauptverkehrsader der ligurischen Hafenstadt, einfach so mitsamt der Autos und Lkw darauf 45 Meter in die Tiefe gestürzt sein sollten.

Zeugen berichten von Blitzeinschlag

Doch die Fotos, die umgehend im Internet verbreitet wurden, zeigten ein gespenstisches Szenario: Eine riesige Kluft in der Mitte der Brücke, ein Lkw, der nur zwei Meter vor dem Nichts zum Stehen gekommen war, auf der gegenüberliegenden Seite ein Auto, das halb über dem Abgrund hing. Einige Lkw waren in den Fluss Polcevera gestürzt.

Wenig später, als die ersten Toten aus unter Trümmern begrabenen Fahrzeugen gezogen wurden, zeichnete sich langsam das Ausmaß des Unglücks ab. Retter sprachen von apokalyptischen Szenen. Um 15 Uhr bestätigte der für Verkehr und Infrastruktur zuständige Staatssekretär Edoardo Rixi, dass 22 Tote geborgen seien, darunter ein neunjähriges Kind. Dutzende Menschen waren verletzt. Vierzehn Menschen konnten lebend aus ihren Fahrzeugen befreit werden. Zu befürchten war allerdings, dass noch mehr Todesopfer gefunden werden würden. Mindestens zehn Menschen wurden am Nachmittag noch vermisst.

Auf der knapp 1,2 Kilometer langen Autobahnbrücke hatten sich Augenzeugen zufolge zum Zeitpunkt des Einsturzes Dutzende Lkw und Autos gestaut, die zur Mautstelle der Ausfahrt Genua West wollten. Die Autobahn, Verbindungsstrecke ans Meer und zum Hafen sowie an die ligurische Riviera und weiter nach Südfrankreich, ist nicht nur für den Schwerverkehr von Bedeutung, sondern auch für Urlauber. Nicht ausgeschlossen wurde deshalb, dass ausländische Touristen unter den Opfern sein könnten.

Viele Menschen durch Feiertag unterwegs

Unterhalb der nicht weit vom Zentrum Genuas entfernten Brücke liegt das Viertel Sampierdarena, ein Gewerbe- und Wohngebiet mit zwei ebenfalls stark frequentierten Straßen, die Via Porro und die Via Fillak, mit Einkaufszentren, Autohändler-Niederlassungen, einer Fabrik des Elektroturbinen-Herstellers Ansaldo und mehreren Wohnhäusern.

In einem der Häuser, die teils von den Zementblöcken der Brücke getroffen wurden, starb nach ersten Berichten eine 76 Jahre alte Frau. Sie erstickte, weil durch den Einsturz ein Brand ausbrach. Viele Bewohner waren allerdings wegen der Ferien rund um den in Italien so wichtigen Feiertag Ferragosto – Mariä Himmelfahrt – verreist. Auch die Fabrik und viele Gewerbeeinrichtungen waren geschlossen, sonst hätte es vermutlich noch wesentlich mehr Opfer gegeben. Mehrere Zugstrecken wurden durch Brückenteile blockiert. Der Fernverkehr rund um Genua war nach dem Unglück lahmgelegt.

Die Rettungsarbeiten der mehr als 200 Einsatzkräfte wurden durch starken Regen erschwert. In einem eilends am Unglücksort eingerichteten Krisenzentrum wurden diejenigen versorgt, die mit leichteren Verletzungen oder einem Schock davongekommen waren.

Experte: Brücke war dieser Auslastung nicht gewachsen

In den zahlreichen Sondersendungen der italienischen Fernsehkanäle und im Internet tauchte sofort die Frage auf, wie es zu einer solch unvorstellbaren Tragödie kommen konnte. Über die Ursachen konnte bis zum Nachmittag nur spekuliert werden. Mehrere Augenzeugen gaben an, sie hätten einen Blitzeinschlag in einen der zentralen Brückenpfeiler beobachtet. Ein Autofahrer, der nur 20 Meter von der Abbruchstelle entfernt war und sich retten konnte, sagte, er habe so etwas wie einen elektrischen Strom gespürt, der von oben nach unten floss.

Doch viele Experten bezweifelten, dass tatsächlich ein Blitzschlag oder der starke Regen das Desaster ausgelöst haben könnten. Auf der 1967 eingeweihten Brückenkonstruktion, in Genua „die Brooklyn-Brücke“ genannt, war zuvor gearbeitet worden. Sie galt schon lange als marode.

Betreiber ist die Kapitalgesellschaft Autostrade per l`Italia mit der Benetton-Familie als Hauptaktionär. Das Unternehmen, das in Italien mehr als 3.000 Kilometer des Straßennetzes betreibt, bestätigte der Zeitung La Repubblica, die Straßendecke der 2016 renovierten Brücke habe gestärkt werden sollen. Für die Wartungsarbeiten sei ein Kran aufgebaut worden.

Giampaolo Rosati, Professor für Bautechnik, sagte dem Fernsehsender TGCOM24, die Morandi-Brücke sei nicht für die seit den 60er Jahren enorm gestiegene Belastung, vor allem durch den Schwerverkehr, ausgelegt gewesen. Tatsächlich war 2016 schon erwogen worden, die Brücke aus Sicherheitsgründen für Lkw zu sperren, wie die Zeitung Il Sole 24ore berichtete. Stefano Cianciotta vom Nationalen Infrastruktur-Observatorium, einem Experten-Gremium, sagte, viele der größtenteils in den 60er und 70er Jahren gebauten Autobahn-Anlagen Italiens stellten wegen oft mangelhafter Wartung ein Risiko dar.

KStA abonnieren