Migration und BildungDeutsch als erste Fremdsprache

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Schule Kinder

Schüler toben an der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen.

Gelsenkirchen/Köln – Ey, Alter, auch schon da“, tönt es im Chor, als Karim (Name geändert) mitten in der zweiten Stunde lässig zur Tür hereinspaziert. „Habibi, Liebling, ausgeschlafen“, frotzelt ein anderer. Sabine Henning findet das nicht lustig und fragt nach. „Ich habe noch geschlafen“, sagt Karim, als sei das eine Entschuldigung. „Hast Du wieder gearbeitet? will sie wissen. Irgendwie nuschelt er ein Ja, dann lässt die Lehrerin das Thema fallen. Wichtiger ist ihr, dass er die gerade erreichte Konzentration der anderen nicht stört, sich hinsetzt und den Mund hält. Frau Henning spricht weiter. Sie ist nicht der Typ, mit dem man den Molly macht. Und sie hat als Leiterin der Didaktik auch die disziplinarischen Mittel dazu.

95 Prozent Migrationsanteil

Das wissen sie offenbar sehr genau, die 19 Jungs im Ergänzungsunterricht. Zwei Stunden in der Woche müssen Schüler an der Gesamtschule Ückendorf hier absitzen, die bei anderen Lehrern rausgeflogen sind. Zuspätkommer, ohne Hausaufgaben, ohne Bock auf Schule. Das ganze Programm, wie Lehrer sagen. Und zu Hause geht vermutlich auch vieles schief.

Kinder aus vielen verschiedenen Nationen erfahren besondere Förderung. Schulleiter Achim Elvert Wochen gegen Rassismus im Lese Café

Kinder aus vielen verschiedenen Nationen erfahren besondere Förderung. Schulleiter Achim Elvert Wochen gegen Rassismus im Lese Café

Die Gesamtschule Ückendorf hat knapp 1100 Schüler. Da gibt es viel Normalität im Betrieb einer solch großen Schule. Und doch sind die Knaben des Kurses „Basiskompetenzen“ die Schüler, bei denen sich die Probleme der gesamten Schule wie in einem Brennglas spiegeln. Und wenn man so will die des ganzen Stadtteils. Ückendorf ist zwar mitten in Gelsenkirchen und doch ist das alte Gelsenkirchen anderswo. Wenn überhaupt. Zechenschließungen und Arbeitslosigkeit, besonders unter türkeistämmigen Bürgern, Geschäftsrückgang, Wegzug und deshalb 12 000 leerstehende Wohnungen und ein massiver Zuzug von Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Eine Stadt, in der sich die Auswirkungen der Strukturkrise und der Zuwanderung bündeln. Und dann noch die Flüchtlinge.

95 Prozent der Schüler an der Gesamtschule Ückendorf haben Migrationshintergrund. Zahlen, bei denen man an Berlin Neukölln denkt. 90 Prozent und mehr Kinder mit Zuwanderungsgeschichte haben aber auch 93 der 5646 Schulen in NRW. Wer sich in Ückendorf nach Kindern deutscher Herkunft umsieht, muss jedenfalls länger suchen. „Wir können unseren Schülern kein deutsches Umfeld mehr bieten, mit Deutsch als Umgangssprache“, sagt Schulleiter Achim Elvert.

Schwierige Balance

Versuche, deutsche Eltern dafür zu gewinnen, ihre Kinder anzumelden, scheitern. Selbst gebildete türkeistämmige oder arabische Familien schicken ihren Nachwuchs lieber an Schulen in anderen Stadtteilen. Und dann ist es wohl obendrein auch noch so, dass „wer anderswo nicht genommen wird, ebenfalls hier landet.“ Für die Schule ist das der Kampf gegen den Abstieg, für viele Schüler längst traurige Selbstdefinition, nach dem Motto: wir sind eben alle schlecht.

Genau dagegen ist Elvert angetreten. Und so kam es, dass er und seine Vorgänger aus der Schule eine besondere Schule gemacht haben. So wie man eben aus Notwehr erfinderisch wird. Wo andere Rektoren von ihren Hochbegabten schwärmen, von Preisen und Anerkennungen für besondere Leistungen, hat der Gelsenkirchener wenig zu bieten. Deshalb haben Elvert und sein Kollegium Erfolg neu definiert. „Wir wollen unseren Schülern eine Chance geben“, sagt er. Die Schüler haben bei uns die Chance, die sie anderswo nicht haben“, wiederholt er. Weil sie mehr Unterstützung erfahren. Elvert zieht die Brille aus und putzt die Gläser, so als wolle er seine eigene trotzige Motivation noch einmal deutlicher in den Blick nehmen. „Wer hier als Lehrer mit dem Gefühl antritt, dass alle seine Bemühungen zum Erfolg führen müssen, der wird verzweifeln.“ Das sei für ältere Lehrer oft schwer. Für Elvert wird anders herum ein Schuh daraus. „Für seine Motivation muss man sich an den Erfolgen und nicht am Chaos orientieren“.

Und Erfolge sind nur über eine bessere Sprachkompetenz erreichbar. Thema Nummer eins an der Schule Ückendorf ist deshalb das Deutsche. Wer hier unterrichtet, unterrichtet nicht nur sein Fach. Wer hier unterrichtet, denkt Sprache immer mit, sagt Elvert. Sei es in Biologie oder Sozialkunde. Sprache ist für alle Schüler das große Problem und deshalb können sie nur über die Verbesserung dieser Fähigkeit auch in anderen Fächern besser werden. Auch da, wo man es zunächst nicht erwartet. „In einer von drei Mathestunden ist ein Deutschlehrer dabei,“ sagt Elvert. Denn selbst in Mathe geht es oftmals um Textverständnis.

Zusätzlicher Deutschunterreicht

In den Klassen fünf bis sieben gibt es zwei Deutschstunden extra. Mit doppelter Lehrerbesetzung. Im Moment hat die Schule zudem 90 Schulplätze für Kinder, die kein Deutsch können. Ziel des Sonderunterrichts ist es, sie innerhalb von zwei Jahren in den Regelunterricht zu integrieren. 43 der Kinder kommen aus Rumänien und Bulgarien. Viele haben noch nie eine Schule von innen gesehen. Zahlen wie diese machen jeden Außenstehenden schwindelig. Elvert aber sagt: Vorgefasste Ansichten über bestimmte Familien und soziale Milieus sind fehl am Platz. „Ich habe hier zwei Brüder aus solchen Verhältnissen. Der eine ist in der Talentförderung“.

Und trotzdem ist es genauso realistisch davon auszugehen, dass Eltern bei der schulischen Unterstützung ihrer Kinder an dieser Schule wenig bis gar nicht mitgedacht werden. „Die Eltern sind überfordert“, sagt Elvert. „Sie haben keine Erfahrungen im deutschen Bildungssystem und sind manchmal selbst nicht oder nur kurze Zeit zur Schule gegangen.“ Was seit Jahren in der Integrationspolitik vor und zurück besprochen wurde, hier hat man frühzeitig die Konsequenzen gezogen. Deshalb werden die Hausaufgaben in den Unterricht integriert. „Damit jeder die Hilfe erhält, die er braucht“.

Schule Abschlussklasse

Eine Abschlussklasse der Gesamtschule. 95 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund.

Auch in anderer Hinsicht muss oft genug der Schulterschluss mit dem Elternhaus sorgfältig erwogen werden. „Wenn die Väter im Spiel sind, gibt es manchmal so viel Ärger, dass man es nicht verantworten kann.“ Überhaupt sind unterschiedliche Rollenerwartungen an das Verhalten der Kinder das Problem. „Bei uns heißt es: wer schlägt, der geht“. Das Gegenteil von dem, was sie oft zu Hause zu hören bekämen.

Polizeieinsatz an der Schule

Elverts Sekretärin kommt herein und meldet die Polizei. „Das ist jetzt live“, sagt der Rektor traurig und lässt den Besucher für einige Minuten allein. Ein Schüler aus der Klasse neun wird zur Vernehmung geholt. Was vorliegt? Elvert weiß es nicht. Eine Ahnung hat er gewiss. Er kennt den Jungen. „Der Schüler besucht auch die Ergänzungsstunden“, sagt er noch im Rausgehen. Zurück also zu Frau Henning. „Es ist zu laut“, sagt sie gerade. „Janis, nimm die Füße runter“. „Und jetzt hört doch mal auf“. Als Zuschauer in der hinteren Reihe ist man schon nach wenigen Minuten soweit, Frau Henning zum Dompteur des Jahres zu ernennen. Aber da die Lage dieser Jungs hier alles andere als lustig ist, verbietet es sich. Kaum einer dieser 15- bis 17-Jährigen scheint es geschafft zu haben, sich eine Arbeitshaltung zuzulegen, altersbedingte Blödelattituden und gruppenbezogenes Macho-Imponiergehabe in die Pause zu verlegen.

Wie junge Welpen werden sie später, Minuten vor Ende der Stunde, an der Tür stehen, so als hätten sie der Lehrerin jetzt lange genug den Gefallen getan, halbwegs sitzenzubleiben. Und doch werden die wenigsten die Durchsetzungskraft dieser kleinen Frau mit dem schönen, dicken Zopf unterschätzen. Bei allem demonstrativen Verdruss wird klar, dass sie sie mögen. „Beste Lehrerin“, sagt Mustafa im Rausgehen. Vor dem Hintergrund des Lernimputs bewertet, mag manchem die Bilanz der Stunde vielleicht mager vorkommen.

Vor dem Hintergrund des Machbaren dagegen war die Stunde eine pädagogische Glanzleistung. Mit den Möbeln aus dem Puppenhaus ihrer Enkelin und unter Zuhilfenahme des Ikea-Katalogs hat Sabine Henning den türkisch- und arabisch-stämmigen Möchtegernmachos eine Lektion in häuslicher Planung und Einrichtung auf der Grundlage realistischer Kostenschätzung ermöglicht. Niemand hat das krakelend als Kinderkram abgetan, erstaunlicherweise. Wenn man Frau Henning zuhört, dann wird klar, dass sie immer auch die kleinen Seelen hinter der lauten Fassade im Blick hat. Alle nämlich träumen von einer eigenen Wohnung, sagt sie, von einer kleinen Familie, von einem Nest, von Geborgenheit. Irgendwann. Nur hat offenbar keiner eine realistische Peilung, wie er das mal anständig finanzieren soll angesichts fehlender schulischer Erfolge und beruflicher Aussichten. Oder hat sich längst aufgegeben. Auf diesem Weg aber kommt die Botschaft vielleicht an.

Disziplinierung und Förderung

Elvert ist aus seinem Einsatz in Klasse neun zurück. Weiter darüber reden mag er nicht, wohl weil die Sache jetzt erst einmal ihren Lauf nimmt. „Disziplinierung spielt eine größere Rolle, als uns lieb ist“, sagt er dann doch noch. Aber lieber spricht er über die besonderen Strukturen, die die Schule geschaffen hat. Strukturen, die es zulassen, dass zwischen Lehrern und Schülern Bindungen entstehen, die über die reinen Lerninhalte hinausgehen. Denn in Ückendorf greifen Disziplinierung, Förderung und – Sozialarbeit ineinander. Alle Klassen sind doppelt mit Klassenlehrern besetzt. 

Ein Viertel der Lehrer hat selber Migrationshintergrund. Zwischen der fünften und der zehnten Klasse sollen die Klassenleitungen bleiben, was sich aber in den letzten zwei Jahren nicht mehr durchhalten ließ. Keinen Wechsel also, um Zugehörigkeit und menschliche Verlässlichkeit zu sichern. „Wir wollen das soziale Geflecht eng halten“, sagt er. „Denn wir wissen, dass es zu Hause oft genug Auflösungserscheinungen gibt.“ Die familiären Muster in vielen Einwanderergruppen sind oft fest gefügt und nicht immer deckungsgleich mit den Wertvorstellungen, die in Deutschlands Schulen vermittelt werden. Für Elvert und die Kollegen schließt das den Versuch ein, Rollen- und Verhaltensmuster noch einmal zu drehen. Auch wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass sie Vieles gar nicht mitbekommen, die Kontrolle untereinander viel wirkmächtiger ist. Dennoch: Es gibt Coolnesstraining, Monologtraining zur Steigerung des Selbstbewusstseins, Sporthelferkurse. Immer wieder geht es darum, auch schlechte Schüler erfahren zu lassen, dass sie Fähigkeiten besitzen. Mit der Hoffnung, dass das Erfolgserlebnis auf andere Fächer ausstrahlt.

Was das alles wirklich bringt? Elvert schaut länger zum Fenster hinaus. Es ist die entscheidende Frage nach all dem jahrelangen Bemühen. Natürlich hatte er sich mehr erhofft. Aber damit selbst die Erfolge nicht gefährdet werden, muss er jetzt kämpfen. Denn angesichts der sprunghaft gewachsenen Nachfrage nach pädagogischem Sonderbedarf auch an anderen Schulen im Land sollen Ückendorf künftig zusätzliche Lehrerstellen für all die Förderkurse verloren gehen. Nach der Methode: auch die neuen Mittel für Sprachförderung, die das Land bereitstellt, könnten am Ende nur einmal ausgegeben werden. Für Ückendorf ginge das schlecht aus. „Nach dieser Methode sollen die Einäugigen die Blinden finanzieren“, umschreibt der Schulleiter drastisch die Lage. Für die Motivation muss man sich am Erfolg orientieren, hat er gesagt. Aber dafür braucht Elvert auch die Mittel.

Und immer wieder frische Ideen. Dass dazu auch die Chance gehören kann, Hoch-Türkisch zu lernen, zeigt der Leistungskurs Türkisch in der 12. Der LK Türkisch ist d i e Vorzeigeklasse in Ückendorf. Ein echtes Kontrastprogramm zu den Jungs in den Ergänzungsstunden, eine Steigerung aber auch zu den am Ende doch soliden Leistungen vieler Schüler dazwischen. Zehn Mädchen, zwei Jungs, die im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Neben Deutsch. Mathe und Bio eben auch im Fach Türkisch. Sie sprechen beides gut: Deutsch und türkisch. Und das macht sie stolz, die Sprache ihrer Eltern so zu beherrschen. Zehn von 12 wollen nun studieren. Das war vorher nicht so, sagt Elvert. Und das macht ihn stolz.

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